An einem Sonntag stand ich vor dem Haus des momentan führenden Koranverbrenners. Tags darauf schlug er vor Schwedens Parlament wieder zu, eigentlich wusste ich nichts über ihn. Ich erzähle seine Geschichte in der Chronologie meines Nichtwissens. An jenem Sonntagmorgen war ich in einer anderen Angelegenheit in Stockholm. Ich wusste nur, dass mehrere Koranverbrennungen angekündigt waren, und ein pensionierter Chef der schwedischen Polizei wies mich mit patriotischer Verärgerung darauf hin, dass auch in Frankreich ein Koran verbrannt worden sei, die ganze Aufmerksamkeit sich aber auf Schweden richte.
Ich entschied, noch ein Stündchen in Stockholm zu bleiben und zur irakischen Botschaft zu gehen. Dort war am Tag nachdem ein wütender Mob in Bagdad die schwedische Botschaft abgefackelt hatte, „ein Dokument“ (Zitat schwedische Polizei) verbrannt worden. Es nieselte vor sich hin, vor der ohnehin geschlossenen Botschaft gab es nichts und niemanden zu sehen. Auf dem Mauervorsprung bei der Eingangstür war eine halb ausgetrunkene Büchse „Ey’Bro, Starköl Alk. 5,0 % Vol.“ abgestellt. „Öl“ bedeutet „Bier“ und „Starköl“ folglich „Starkbier“, welches nur im staatlichen Alkoholmonopol von „Systembolaget“ zu bekommen ist.
Ich sprach einen Bewohner des Nachbarhauses an. Er hatte den Vorgang des Verbrennens durchs Fenster beobachtet. Doch unterschied sich der Grad der Erregung offenbar von jenem in Bagdad, jedenfalls beschrieb der Anwohner die Stockholmer Szene mit folgender Geste: Gähnen. Die Verbrennung – „ja, klar war das ein Koran“ – sei vollkommen ruhig und routiniert abgelaufen. Und die wütenden Gegendemonstranten? „Das waren keine Demonstranten, sondern ein paar Leute, die ruhig zugeschaut haben.“ Der Nachbar hatte einiges über den Serientäter gehört: „Er ist Iraker, hat psychische Probleme und wohl mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Dann schrieb er mir die Wohnadresse des Koranverbrenners auf. Wie das? Wieso kannte er seine genaue Adresse? „Ich stamme aus dem Ort, in dem er wohnt.“ Am Tag danach war ich in Järna auf Besuch.
Die Blondine hat Angst
Järna, 6.000 Einwohner, liegt an der äußersten Peripherie Stockholms. Ich fuhr zur angegebenen Adresse, zur Hausnummer 4 einer Straße, deren Namen ich aus Rücksicht auf die Menschen dort verschweige. Ich fand dreistöckige Wohnblöcke aus rotem Klinker mit geräumigen verglasten Balkonen, keinesfalls ein Ghetto. Zwei flaumbärtige Brüder aus Nr. 6 – die Mutter Finnin, der Vater Ägypter: „Den haben wir aber schon lang nicht mehr gesehen.“ Und: „Nun ja, im Grunde sind wir Muslime.“ Vom Koranverbrenner erzählten sie, „er schließt sich häufig in seiner Wohnung ein, der Kioskbesitzer im Zentrum hat erzählt, dass er mehrmals Zigaretten bei ihm gekauft hat“.
Vor der Erdgeschossgarage an der Ecke von Nr. 6 mit Nr. 4 wechselte ein aschblonder Jungvater Reifen. Auch er hatte den Koranverbrenner noch nie gesehen: „Ich weiß nur aus den Nachrichten, dass im Irak nach ihm gefahndet wird wegen schwerer Verbrechen.“ – „Sagen Sie deshalb den Kindern, sie sollen nicht mehr rausgehen?“ – „Nein, ich habe mich irgendwann entschieden, dass uns die Angst nicht regieren darf.“ Auf der Parkbank vor Nr. 4 saß ein junger Mieter mit einer Dose „Ey’Bro“. Er hatte den Juli im Homeoffice verbracht und nie von seinem für Weltenbrand sorgenden Nachbarn gehört.
„I’m fucked“, giftete ein kleiner älterer Gedrungener, der seinen Kleinwagen in die Garage der Nr. 4B einstellte: „Der wohnt gar nicht mehr hier, aber die ganzen Drohungen gehen hierher, seinetwegen werden hier noch Leute gekillt, der Verrückte gehört in die Psychiatrie!“ Auf dem obersten Balkon zeigte sich eine Blondine: „Ich habe Angst.“ Weshalb, wollte sie nicht sagen. „Ich habe ihn seit zwei Monaten hier nicht mehr gesehen“. Ich wusste nun, dass der Koranverbrenner in der mittleren Wohnung von Nr. 4A lebte. An den kleinen Fenstern waren Billigrollos runtergelassen, im langen Fenster standen drei Topfpflanzen. Unweit von 4A befand sich die Müllsammelstelle, eine Dame mit grauen Strähnchen und weißem Überkleid warf Müll ein. Sie war ein empathischer, nachdenklich schreitender, ethnisch schwer zuzuordnender Typ, nach kurzem Zögern bezeichnete sie sich als Schwedin. Sie bestätigte, den Koranverbrenner persönlich zu kennen. Mehr wollte sie nicht sagen.
Später las ich mehr über Salwan Momika, seit 2018 in Schweden, seit 2021 mit positivem Asylbescheid. Der 37-Jährige war ganz anders, als ich ihn mir in seiner Järnaer Nachbarschaft ausgemalt hatte: Er sieht gut aus, verbrennt die Korane mit Sonnenbrille und Airphones. Er muss gemeinnützige Arbeit leisten, weil er einen Mann mit einem Messer bedroht hat. Plötzlich ist er Christ, aber auch „Atheist und aufgeklärter Politiker und Denker“, und plötzlich ist da eine Vergangenheit in einer grausamen pro-iranischen Soldateska namens „Imam-Ali-Brigade“. Nichts von alledem hatten die schwedischen Nachbarn des Koranverbrenners mir gegenüber erwähnt.
Serie Europa Transit
Regelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa
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