Massaker in Odessa: Zu Besuch beim alten Dorflehrer
Europa Transit Vor gut neun Jahren sterben prorussische Aktivisten im brennenden Gewerkschaftshaus der Hafenstadt. Martin Leidenfrost begibt sich auf die Spuren des dramatischen Ereignisses vom 2. Mai 2014
Odessa, 3. Mai 2014, die Polizei ist am ausgebrannten Gewerkschaftshaus eingetroffen – einen Tag und 42 Menschenleben zu spät
Foto: Vadim Ghirda/ap/dpa
Da die Geschichte dieses Mannes Sicherheitsinteressen eines im Krieg befindlichen Landes berührt, muss ich einige Details weglassen. Ich nenne nicht den Namen meines Helden, nicht die Funktion, in der er mir begegnet, und auf keinen Fall den Namen seines Dorfes. Ich äußere mich auch nicht zu den Bedingungen, unter denen ich in der Ukraine arbeiten kann. Der Ukraine wäre es wohl am liebsten, wenn ich meine Notizen jenes milden Sommerabends wegschmeißen würde. Mein Held war aber so nah dran an mehreren Schlüsselmomenten des russisch-ukrainischen Konflikts, dass ich einfach über ihn schreiben muss.
Der, um den es sich handelt, ist ein pensionierter Lehrer in einem ukrainischen Dorf mit bulgarisch-gagausischer Mehrheit. Davon gibt es im äußerste
#223;ersten Südwesten der Ukraine Dutzende. Die Gegend ist seit Kriegsbeginn in einer heiklen Situation, da die meisten Nachfahren der noch vom russischen Zaren ins südliche Bessarabien gerufenen Kolonisten traditionell der russischen Kultur und Lebensart anhängen. Wäre die russische Invasion 2022 nicht steckengeblieben, hätte die Gegend vermutlich ein lohnendes Marschziel abgegeben. Sie grenzt an Gagausien, eine autonome moldawische Teilrepublik, in der Wahlen gewinnt, wem Wladimir Putin die Huld eines gemeinsamen Fotos erweist. Neulich gewann dort – obschon ohne Putin-Foto – die Kandidatin des Großdiebes Ilan Schor, dessen prorussische Partei hinterher vom moldawischen Verfassungsgericht verboten wurde. Nur ein Stück weiter nördlich liegt Transnistrien, eine von russischen Friedenstruppen behütete Abspaltung Moldawiens. Allein schon die 20.000 Tonnen Munition aus Sowjetzeiten, die im transnistrischen Cobasna lagern, könnten jederzeit Kampfhandlungen auslösen. Sie liegen direkt an der ukrainischen Grenze und würden beiden Kriegsparteien Freude machen.Die rund 150.000 ethnischen Bulgaren sind der Ukraine bislang loyal geblieben. Als „Wiedergeburt“, eine prorussische Oppositionspartei in Bulgarien (Wähleranteil 14 Prozent), Autonomie forderte für ein „altes bulgarisches Land mit alten bulgarischen Städten, die vorübergehend unter ukrainischer Verwaltung stehen“, protestierten Bürgermeister der Gegend mit einem Brandbrief. Tatsächlich war die bulgarische Bevölkerung Bessarabiens stets zu passiv, um ernsthaft an Autonomie zu denken.Das Dorf des alten Lehrers ist interessant, weil eine Schlüsselfigur eines Schlüsselereignisses dort aufgewachsen ist, gemeint ist das Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa. Da es 42 prorussische Aktivisten waren, die im brennenden Gewerkschaftshaus an Erstickung oder Todessprüngen starben, ist der 2. Mai ein Argument des Kremls für die Notwendigkeit eines Kampfes gegen die „faschistische“ Ukraine. Das Gegenargument der ukrainischen Propaganda trägt den Namen Dmitrij Futschedschi. Dieser war 2014 Vizepolizeipräsident des Gebiets Odessa, leitete den Polizeieinsatz bei den Straßenschlachten am 2. Mai – und ließ der Gewalt offenbar freien Lauf. Er floh bereits am 7. Mai 2014 und lebt heute mutmaßlich in Russland.Da ich ein paar Bücher über Bessarabien gelesen habe, unter anderem über die Ethnogenese der christlich-turksprachigen Gagausen, empfängt mich der alte Dorflehrer wie einen Staatsgast. Er ist wie die meisten hier ethnischer Bulgare, hat in seiner Jugend als Tourguide für bulgarische Sowjetunion-Reisende dazuverdient, wie die meisten hier spricht er zu Hause Russisch. Er erklärt dies mit seinem russischsprachigen Studium und dem Dichter Alexander Puschkin (1799 – 1837). Puschkin sei eine Offenbarung für ihn gewesen. Der Lehrer war Mitglied der KPdSU, diente der sowjetischen Armee in seinem Enthusiasmus sogar länger als vorgeschrieben, als orthodoxer Gläubiger lehnte er aber den Atheismus der Partei ab und setzte später ein Denkmal zur Erinnerung an sowjetische Verbrechen durch. Ohne dass ich ihn gefragt hätte, sagt er: „Wir sind überhaupt keine Separatisten.“ In diesem Moment habe ich noch keine Vorstellung davon, wie weit seine Loyalität zur Ukraine geht.Die Frage nach Dmitrij Futschedschi, die ich mehrmals stelle, scheint er jedes Mal zu überhören. Der Name – er soll übersetzt „Fassbinder“ bedeuten – ist im Dorf verbreitet. Es soll im gagausischen Ortsteil Futschedschis geben, die Bulgarisch können, und im bulgarischen Ortsteil andere Futschedschis, die aber kein Gagausisch können. Irgendwann setzt sich der Alte hin und sagt ganz ruhig: „Das war mein Schüler, ich kenne ihn sehr gut. Wie könnte ich schlecht über meinen Schüler reden?“ Er sagt, er könne den 2. Mai 2014 nicht bewerten, gibt jedoch einen zweckdienlichen, Wikipedia widersprechenden Hinweis: Dass Futschedschi zunächst nach Transnistrien zu seinem Bruder floh, der Karriere im Sicherheitsapparat des separatistischen Gebildes gemacht haben soll, kann laut Futschedschis altem Lehrer nicht stimmen: „Er hat gar keinen Bruder.“Der Sohn gibt sein Leben für die UkraineDann erzählt er mir folgende Begebenheit: Er, der gläubige autolose Kommunist, ging einst zu Fuß durchs Dorf, als eine Limousine hielt und der drinsitzende General darauf bestand, ihn mitzunehmen. Erst im Wagen erkannte er seinen Schüler. Futschedschi fragte seinen alten Lehrer, was sein größtes Problem sei, dieser erzählte ihm von den kaputten Computern in der Schule. Ein paar Tage später fuhr eine Polizeieinheit vor und trug neue Computer in die Schule. Wie könnte er da Schlechtes über seinen seit jeher sehr ambitionierten Schüler sagen? Das Büro in Odessa, in dem er Futschedschi später besuchte, hat er als gigantisch in Erinnerung.Wir gehen herum, er zeigt mir dies und das, dann setzt er sich noch einmal unvermittelt hin, noch einmal auf denselben Stuhl, noch einmal mit demselben Ernst. Da ist noch etwas, sein Sohn. Dieser geht schon auf die fünfzig zu, fährt eigentlich für eine holländische Firma zur See, bei Kriegsausbruch hat er sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet: „Mein Sohn, der ist bei Bachmut, die ganze Zeit.“ – „Kämpft er dort, weil Sie ihn in diesem Sinne erzogen haben?“ Davon ist der Vater überzeugt. So wie er einst sein Leben für die Sowjetunion gegeben hätte, gibt der Sohn jetzt sein Leben für die Ukraine.Der bulgarisch-sowjetische Dorflehrer geht ans Fenster, schaut in Richtung Osten und spricht in freien russischen Worten ein Friedensgebet. Er betet dafür, dass „die ukrainische und die russische Führung“ die richtigen Entscheidungen treffen mögen. „In erster Linie natürlich die russische Führung“, fügt er rasch hinzu. Als die Rührung nicht mehr auszuhalten ist, nehme ich von ihm Abschied.Placeholder infobox-1