Im Jahr 2020 verlor Armenien den nach 1992 zweiten Krieg um die abtrünnige aserbaidschanische Region Bergkarabach. Dann drangen im Mai 2022 bis zu tausend aserbaidschanische Militärs auf international anerkanntes armenisches Territorium vor. Im September 2022 ging Baku noch weiter und beschoss mehrere Städte im armenischen Kernland – dieser Zwei-Tage-Krieg forderte beinahe 300 Tote.
Unter Feuer gerieten damals auch die armenische Kurstadt Dschermuk und Hunderte von Kurgästen. In der armenischen Region Gegharkunik wurde sogar die zum Schutz der Grenze stationierte Grenzwache des russischen Geheimdienstes FSB getroffen. Im Januar 2023 verurteilte das Europaparlament die „Aggression Aserbaidschans“, und Emmanuel Macron – Präsident des einzigen E
einzigen EU-Landes mit einer relevanten armenischen Community – setzte eine zweijährige EU-Mission zur Beobachtung der Grenze Armeniens durch. Das Personal der „EUMA“ wurde vor kurzem verdoppelt und auf sechs armenische Standorte verteilt.Fünf bis acht Kilometer zur GrenzeIch will das heute rein armenische Dschermuk nicht zuletzt deshalb sehen, weil es paradoxerweise auch „tatarisch“ besiedelt war. 1989 organisierte die Dschermuker KP die Aussiedlung von tausend Aserbaidschanern. Die Kurstadt – offiziell zwölf, real nur fünf bis acht Kilometer von der aserbaidschanischen Grenze entfernt – ist frei zugänglich. Ich bin in einem Land, das mit zunehmend fatalistischer Verzweiflung auf einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan zusteuert, der Armenien wohl die Aufgabe von Rest-Karabach abverlangen wird. Ich komme an der Goldmine Amulsar vorbei, die lange wegen Ökoprotesten auf Eis lag, nun aber mit einer Milliarden-Investition durchstartet. Da sich die armenische Regierung vom russisch geführten Militärbündnis ODKB nicht mehr ausreichend geschützt fühlt, nähert sie sich den USA und der EU an. Für Amulsar heißt das: Die Schürfrechte hält eine US-kanadische Firma, einträchtig wehen die Fahnen der USA, Kanadas und Armeniens im Wind.Dschermuk liegt auf 2.100 Metern Höhe über einer tiefen Schlucht. Verfallene Sanatorien zwischen verwilderten Parks bezeugen, dass die Krise der Kurstadt schon früher begann. Gut gefüllt sind nur die von der armenischen Armee genutzten Hotels. Zaghaft keimt so etwas wie Saison auf. Es gibt einige russische Familien, vereinzelt – diese Irren schrecken vor nichts zurück! – tauchen tschechische Wandervögel auf. Laut armenischen Medien hat der Septemberbeschuss 2022 ein Gästehaus zerstört, zehn Hektar Wald abbrennen lassen, den nahen Ketschut-Stausee getroffen und einen Schaden von 200.000 Dollar an der touristisch wichtigen Gondelbahn verursacht. Manches wurde übertrieben, denn jene Bahn nahm nach einem Treffer am Verwaltungsgebäude den Betrieb wieder auf.Wehende EuropafahnenIch fahre zunächst in Richtung Front hinauf. Man weist mich auf eine aufwendige Serpentinenstraße hin, die zu einer wiesengrünen Kuppe mit armenischem Militärposten führt. Der höhere Berg dahinter ist von Aserbaidschan besetzt. Vor dem letzten Sowjetwohnblock sitzen Armenierinnen zusammen. Die Älteste erinnert sich noch an „die zwei, drei unproblematischen aserbaidschanischen Familien“, die vor den Kriegen im Haus lebten. Die Frauen glauben, die Aserbaidschaner hätten Dschermuk erobern wollen, „die Unsrigen“ hätten sie zurückgeschlagen. Eine zeigt mir an der Rückseite des Wohnblocks die Einschussstelle. Da ein undurchdringlicher Haufen trockener Äste draufliegt, kann ich ihr nur glauben, dass der Krater gewaltig ist. Ein ähnlicher Haufen markiert Einschüsse bei den weiter unten liegenden Wohnblöcken, von denen einer zur Kaserne umfunktioniert ist. Die Tante-Emma-Verkäuferin sagt fatalistisch: „Die Aserbaidschaner machen mit uns, was sie wollen.“ Ein Bewohner vom Block gegenüber zeigt mir den aufbewahrten Granatsplitter, der scharf ist wie ein Rasiermesser. Höchstens 300 Aserbaidschaner hätten früher in Dschermuk gelebt, „in meinem Block nur eine alleinstehende Oma, die hat geputzt“. Er könne nicht sagen, ob Russland oder die EU bewirkten, dass Aserbaidschan die Angriffe auf Dschermuk einstellte. Da die EU damals noch gar keine Leute im Krisengebiet hatte, eine erstaunlich proeuropäische Anmerkung.Ich sehe mir den Wasserfall in der Schlucht an. Sein Name, „Haare der Seejungfrau“, trifft es genau – das Wasser stürzt nicht herab, sondern breitet sich wie eine schimmernde Haarpracht auf dem Felsen aus. Hier wird der Septemberbeschuss schon milder wahrgenommen. Ein alter glatzköpfiger Souvenirhändler sagt: „In Dschermuk gingen überhaupt nur drei Geschosse nieder! Sie wollten uns nur Angst einjagen, damit wir schnell irgendwas unterschreiben.“Was russische Militärblogger meinenAm Abend esse ich im leeren Pavillon-Restaurant Wild Garden, wo man bei meinem Abgang um zehn noch auf die eigentlichen Gäste wartet – die Leute von der EU-Mission, die in schicken Jeeps mit wehenden, auf den Autodächern aufgepflanzten Europafahnen unterwegs sind. Sie drehen eine flotte Ehrenrunde um eine Blumenrabatte im Kurpark und parken vor ihrer Unterkunft im herrschaftlichen Hotelneubau Grand Resort. Russische Militärblogger ätzen, die eigenen Friedenstruppen würden bei Karabach den Kopf hinhalten, während die EU-Abteilung nur auf eher ungefährlichem Terrain patrouilliere. Das kann man so sehen, doch immerhin herrscht in der Kurstadt – abgesehen von gelegentlichen Kalaschnikow-Gefechten oben an der Grenze – Frieden. Die EU-Mission kann weitgehend ungestört agieren. Aserbaidschanische Soldaten haben es bislang noch kein einziges Mal gewagt, ihre Konvois zu beschießen.Placeholder infobox-1