Auf einmal stehe ich in einem vollkommen unbekannten Land. Im 29. Regierungsjahr von Präsident Emomalij Rahmon nimmt Tadschikistan auf dem Demokratieindex den 157. Platz unter 167 Ländern ein. An der Ostgrenze liegt Chinas unruhige Uiguren-Provinz Xinjiang, die Nordgrenze mit Kirgisien ist nach den Schießereien von 2022 geschlossen, die Südgrenze mit Afghanistan wird von den Taliban gehalten. Und die Hochgebirgsregion Berg-Badachschan ist nach den niedergeschlagenen Aufständen von 2012, 2014, 2018, 2021 und 2022 tabu, auch mein Grenzübergang von Usbekistan herüber war etwa zehn Jahre geschlossen, ich aber spaziere gebauchpinselt von neckischen Zöllnerworten hinein ins Land.
2021 beschloss die EU-Kommission, Chinas „Neuer Seidenstraße“
3;e“ mit einem 300 Milliarden Euro schweren „Global Gateway“ Konkurrenz zu machen. Seither umwirbt Brüssel auch Tadschikistan. So will die Kommission 15 Prozent des Wasserkraftprojekts Nogun finanzieren, das mit der höchsten Staumauer der Welt so viel kosten dürfte, wie das tadschikische Bruttoinlandsprodukt eines ganzen Jahres wert ist. Was liegt da näher, als dem tadschikischen Europadiskurs zu lauschen? Einige tragen Russland-AufnäherIn der ärmsten und südlichsten einstigen Sowjetrepublik sehe ich Folgendes: terrassenartige Grashügel vor einer verschneiten Gebirgskette; Schüler in obligaten Anzügen mit obligater Krawatte in den Nationalfarben. Ich sehe Tadschikinnen, von einem Mann aus einem Taxi geworfen oder zum Stehen hinter einem sitzenden Mann gezwungen, die sich aber ungezwungener äußern als Männer. Hier sind nur zwei, höchstens drei von 15 männlichen Gesprächspartnern nicht als Arbeitsmigranten mit Russland verbunden; einige Burschen tragen Russland-Aufnäher. In den sieben Stunden, die ich rund um den pittoresken Basar von Pandschakent verbringe, wird mit nahtloser Gastfreundschaft auf mich eingeredet. Da ist die in Zivil herumsitzende Security der Wechselstube, ein nach 31 Dienstjahren pensionierter Polizist, der im Bürgerkrieg von 1991 bis 1997 an Rahmons Seite gekämpft hat. Der Mann hat sich für den Staatschef als Handy-Bildschirmschoner entschieden und behauptet während eines Stromausfalls, dass diese Havarien „seit der Teilinbetriebnahme von Rogun Vergangenheit sind“. Da ist der Bankbeamte, der mich von seinem Moschee-Gebet in seine Bank abschleppt. Er träumt von einer Europareise, in Wahrheit aber von Amerika. Da ist die ältere Inhaberin eines Schreibwarengeschäfts, die dank ihres Kindermädchens ein literarisches Russisch kultiviert und zu Europa fragt: „Ist unser Präsident nicht gerade irgendwo bei Ihnen?“ Da sind die Friseure im gefragtesten Herrensalon, die phasenweise in Moskau schneiden und ihre Arbeitsgenehmigungen seit 2022 „sogar noch leichter“ kriegen. Und da ist der Jungwirt mehrerer Pandschakenter Teehäuser, der als Absolvent einer Pekinger Hochschule die asiatischen Wirtschaftsströme überblickt. Er bezeugt, dass Russland kaum hier investiert und China zum Teil mit chinesischen Arbeitern die Fernstraße in die Hauptstadt Duschanbe gebaut hat. Tadschikistan sei „ein wohl eher neutrales Land“. In einer Vitrine sind Rahmons Bücher ausgestellt, „die kriegen wir gratis, und er hat ja viel für das Land getan“. Am Ende bringt mich der Fahrer eines Sammeltaxis zurück zur Grenze. Er verbringe den Winter im milden Pandschakent und den Sommer als Gemüsehändler im sibirischen Krasnojarsk. Da er auch einen russischen Pass hat, beruhigt er sich laut denkend, er wäre dank der nahenden Geburt seines vierten Kindes „ja irgendwie von einer Einberufung ausgenommen“. Dann fragt er sich mit plötzlicher Verzweiflung, was er tun solle, wenn er doch in den Krieg müsse, „den keiner braucht“. Ich konstatiere: „Mein Eindruck ist, dass Russland in Tadschikistan geachtet wird.“ Von der Rückbank erklingt: „Man muss Russland auch achten. Nur Europa im Fahrwasser Amerikas achtet es nicht mehr.“ Mein tadschikischer Europadiskurs ist rasch zusammengefasst: Der Geldwechsler jammert, dass mein 20-Euro-Schein „bestimmt wieder einen Monat herumliegen wird“. Die aktuellste Ausgabe der Zeitung Asia+ ist 35 Tage alt und berichtet, dass Tadschikistan für den Bau des Nogun-Damms nun Abstand von europäischen Geschäftskrediten genommen habe. Als größter nichtkommerzieller Geldgeber wird die Islambank angeführt, die Europäische Union aber mit keinem Wort erwähnt. Niemand, mit dem ich in Tadschikistan spreche, hat je vom versprochenen Geldsegen aus Europa gehört. Viele können es gar nicht glauben. Und so richtig gehört Tadschikistan zur Östlichen Partnerschaft der EU auch nicht dazu.