Zerfressen, zerrissen

Buchmesse Spezial Sascha Anderson ist eine exemplarische zeithistorische Gestalt. Seine Gedichte machen das erlebbar
Ausgabe 11/2019

Eine solche Konstellation erlaubt keine versöhnliche Lösung: In der Krankenbaracke eines KZ’s drängen sich zwei Gefangene auf einer schmalen Pritsche. Der eine stößt den anderen in die Rippen und stöhnt: Kannst Du mir nicht mal jetzt ein bisschen Platz machen. Ich sterbe. Der andere antwortet. Ich auch.

Die Aporie, die sich hier zeigt, kennt viele Erscheinungsformen. Als „Cheforganisator“ (Die Zeit) des literarischen Untergrunds der DDR war er berühmt geworden. Als enttarnter Stasi-Spitzel berüchtigt. Sascha Anderson.

Mit dem schmalen Bändchen umfasst sein Werk jetzt gut und gern zwanzig Titel. Keine dicken Schmöker natürlich; schmale, hoch konzentrierte, teils kryptisch verschlossene, teils erzählerisch offene, immer aber originell, von ihm selbst gestaltete Ausgaben. Diese Bücher werden in aller Regel, allesamt, auf eine, sicher, zentrale Episode seiner Biographie bezogen. Für Anderson gilt besonders, was Adorno allgemein konstatiert hatte: es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Oder doch? In, zum Beispiel, dem kleinen Zyklus Heldenbergen, fünf, teils ins Erzählende gleitende Gedichte, die uns die Sicht auf eine Idylle eröffnen, die nie eine werden kann. „Wenn ich mir eine Frage stelle, werde ich eins mit dem anderen. Wenn ich sie beantworte, teile ich mich auf Nimmerwiedersehen.“ Anderson bewegt sich zwischen „Brombeerbüschen und Johannisberg“, einem „Kalkfelsen“, und einer „Natur“, die sich auf florentinischen Bildern zeigt, und sucht dabei „Ablass von allem, was mit / Mehrheit zu tun hat.“ Es sind bildungsgetränkte Gedichte, „Epikur führte Seneca auf Glatteis.“ Es sind eigene Erfahrungen, oft auch verschlüsselt, viele Naturbeobachtungen, Gedanken, Erinnerungen an die Kindheit, die Jugend und an ein System, das sich tief in die (soll man sagen?) Seele der Menschen hineingefressen hat.

Taucht so, wie der Titel suggeriert, die Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen? Oder, im Gegenteil, wird hier die Wiederkehr des Verdrängten befördert? Die Antwort ist eindeutig: sowohl als auch. Andersons Gedichte sind verwurzelt in unserer neueren Geschichte. Und in einer zerrissenen Gegenwart. Was sie rätselhaft macht, ist diese Klarheit, ihr Dilemma.

Sascha Anderson ist eine exemplarische Gestalt der jüngeren deutschen Geschichte. Seine Gedichte dokumentieren diesen Sachverhalt und übersteigen ihn zugleich: poetisch.

Info

So taucht Sprache ins Sprechen ein, um zu vergessen Sascha Anderson Weissbooks 2019, 75 S., 18 €

Am 22. März liest Sascha Anderson im Rahmen der Leipziger Buchmesse. Ort: Apotheken- museum (Thomaskirchhof 12), 18.30 Uhr, moderiert von dem Lyriker und MDR Kultur-Redakteur Jörg Schieke, Eintritt frei

Wie Tati

Geboren und aufgewachsen in Rumänien, lebt und arbeitet die Illustratorin und Grafikdesignerin Andreea Dobrin Dinu heute in Hamburg. In ihrem Studio Summerkid entstehen die lustigen Zeichnungen, bei deren Betrachtung man stets ein gewitztes Detail findet, das stutzig macht, das Szenen des Alltags auf den Kopf stellt.

Die Künstlerin sagt, die Bilder sollen den Betrachter an den joie de vivre erinnern, den wir vielleicht noch aus den Sommern erinnern, als wir Kinder waren. Und tatsächlich, ihr Humor erinnert an lustige Ferien mit Monsieur Hulot.

Dinu studierte Grafikdesign in Bukarest, Illustration und Typographie in Leipzig. Im Jahr 2018 erhielt sie den britischen World Illustration Award Talent.

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