Aussicht auf Verelendung

Hartz-IV Die neuen Zahlen zu den Sanktionen bezeugen eine unmenschliche Sozialpolitik. Genau die könnte verfassungswidrig sein
Ausgabe 38/2019
Ohne ein Netz von Freunden und Verwandten, die einspringen, sind die Betroffenen verloren
Ohne ein Netz von Freunden und Verwandten, die einspringen, sind die Betroffenen verloren

Foto: Miguel Villagran/Getty Images

Immer schön bescheiden bleiben, so lautet das Motto, wenn sich die Bundesregierung dem Hartz-IV-Regelsatz widmet. Sie ist sich auch in diesem Jahr treu geblieben: um schlappe acht Euro wird er im Januar kommenden Jahres steigen – genau von dem Tag an, an dem vor 15 Jahren die Hartz-IV-Gesetze in Kraft getreten sind. Ein zynischer Neujahrsgruß vom Hartz-IV-Regime. Statt der bisherigen 426 wird es 432 Euro geben, für Erwachsene. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Regelsatz ohnehin niedriger ist, sind es nur sechs Euro mehr, bei Kleinkindern fünf. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir bekämpfen Kinderarmut“. Abgesehen von der Tatsache, dass Kinder arm sind, weil ihre Eltern arm sind, fragt man sich, worauf die Rechenspiele der GroKo eigentlich hinauslaufen würden, wenn sie sich nicht die Armutsbekämpfung auf ihre Fahnen geschrieben hätte.

Einen Blick in den Abgrund bietet die Antwort der Bundesregierung, die die Linkspartei jüngst auf ihre kleine Anfrage hin bekommen hat – passend zum noch in diesem Jahr ausstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das darüber entscheidet, ob die Sanktionen, die gegen die Bezieher von Arbeitslosengeld II verhängt werden, verfassungsgemäß sind oder nicht. Dass bei den Sanktionen für erwerbslose Mütter und Väter deren Kinder gleich mitbestraft werden, versteht sich von selbst. 72.000 Alleinerziehenden wurden im vorigen Jahr die Leistungen gekürzt, 1.200 von ihnen wurden sie gänzlich gestrichen. Totalsanktionierung nennt man das, kein Regelsatz, kein Miet- und Heizkostenzuschuss, nur Gutscheine für Lebensmittel.

Ohne ein Netz von Freunden und Verwandten, die einspringen, sind die Betroffenen verloren. Eigentlich gilt hierzulande das Sozialstaatsgebot zum Schutz vor Verelendung. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass ein Erwerbsloser nicht in der Obdachlosigkeit strandet. Doch im Hartz-IV-System wird das nicht als selbstverständlicher Rechtsanspruch begriffen, sondern an Bedingungen geknüpft.

Mitwirkungspflicht heißt das im Jobcenter-Jargon. Wer einen Termin beim Fallmanager verpasst, eine Maßnahme oder ein Jobangebot ablehnt, wird sanktioniert. Arbeitslosigkeit wird bekämpft, indem man Arbeitslose bekämpft, das scheint weiterhin die politische Losung zu sein. Für die Rohrstock-Pädagogik der Jobcenter ist die Sanktion das wichtigste Disziplinierungsinstrument, um „Kunden“ in einen Job zu drängen, den sie freiwillig niemals angenommen hätten. 34.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte wurden im vorigen Jahr vollständig sanktioniert, die größte Gruppe stellten dabei mal wieder Unter-25-Jährige. Wenn man Menschen zumindest ein Leben am Existenzminimum garantieren will, müssen die Sanktionen verboten werden. Aber der Hartz-IV-Lobby ist klar, dass ihr System dann einstürzen würde.

Mit der Aussicht auf Verelendung werden nicht nur Erwerbslose unter Druck gesetzt, sondern auch Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, denen mittels Sanktionen vorgeführt wird, dass ihre Angst vor dem Absturz absolut begründet ist. Deshalb wird dann stets unter dem Stichwort Solidargemeinschaft der hart arbeitende Steuerzahler ins Spiel gebracht, dem schlicht nicht vermittelt werden könne, dass Erwerbslose ohne Sanktionen – also bedingungslos – Geld erhalten.

Aber wem ist eigentlich schon einmal dieser ominöse Steuerzahler begegnet, für den es eine so große Genugtuung ist, wenn andere Menschen unter Brücken wohnen müssen?

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