Wo die Welt nicht in Ordnung ist

Einkommensverteilung Von der Globalisierung profitieren vor allem urbane Kosmopoliten? Falsch. Eine Studie zeigt, dass gerade in Großstädten besonders prekär gelebt wird
In Großstädten verdient man im Schnitt weniger als auf dem Land. Die Mieten wiederum steigen in urbanen Räumen wie Berlin überdurchschnittlich stark
In Großstädten verdient man im Schnitt weniger als auf dem Land. Die Mieten wiederum steigen in urbanen Räumen wie Berlin überdurchschnittlich stark

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Weg mit dem Soli, diese Forderung gehört zum Standardrepertoire der FDP. Auf jedem Parteitag wird sie bekräftigt, bei jeder Rede ist sie der Garant für den lautstärksten Applaus. Daran dürfte sich wohl auch beim diesjährigen Bundesparteitag, der ab heute in Berlin stattfindet, nichts ändern. Schließlich hat man mit der CDU einen mächtigen Verbündeten gefunden.

Die Christdemokraten fordern inzwischen ebenfalls die vollständige Abschaffung des Soli, auch wenn im Koalitionsvertrag anderes vereinbart war. Damit beglückt man zwar die wohlhabende Wählerklientel, aber dem im Grundgesetz festgeschriebenen Ziel, „einheitliche“ oder „gleichwertige“ Lebensverhältnisse in der gesamten Republik zu erreichen, rückt man damit nicht näher.

Die kürzlich erschienene Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung führt das Gefälle noch einmal eindrucksvoll vor Augen, nicht nur zwischen Osten und Westen, sondern auch zwischen Norden und Süden. Das Einkommensniveau in Duisburg oder Halle an der Saale ist eher mit Italien oder Korsika als mit Bayern oder Baden-Württemberg vergleichbar.

Die reichsten Menschen leben im bayerischen Landkreis Starnberg, die ärmsten in Gelsenkirchen. Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer kann von gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht die Rede sein. Während in Westdeutschland in 284 von 324 Kreisen und Städten das Pro-Kopf-Einkommen die Marke von 20.000 Euro überschreitet, ist das im Osten nur bei sechs von 77 Städten und Landkreisen der Fall.

Ausgewertet wurden für die Untersuchung die Einkommensdaten der Statistischen Ämter von Bund und Ländern, die für die Zeit bis 2016 vorliegen. Es geht um das verfügbare Einkommen nach Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers. Armutsregionen gibt es nicht nur in allen ostdeutschen Bundesländern, sondern auch im Ruhrgebiet, in Teilen Niedersachsens und im Saarland.

Der gemeine Sauerländer taugt nicht zur Feindbildinszenierung

Aufschlussreich ist die Studie nicht nur angesichts des anstehenden 30. Jahrestags des Mauerfalls und der aktuellen Debatte um die Abschaffung des Soli, sondern auch im Hinblick auf das allgegenwärtige Narrativ des urbanen Kosmopoliten als Globalisierungsgewinner, der vorzugsweise in Berlin anzutreffen sei. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Hauptstadt beträgt 19.719 Euro, damit liegt es noch hinter Cottbus. Seit dem Jahr 2000 ist es um schlappe 1,3 Prozent gestiegen, die Mietpreise hingegen sind explodiert.

Das gern gezeichnete Bild von der sorgenfreien Großstadtbevölkerung, die nicht wisse, was „echte Probleme“ seien und in einer Blase lebe, kann man getrost in die Tonne treten. Denn dabei kapriziert man sich lieber auf Lebensstile als auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse. In Köln liegt das Durchschnittseinkommen bei 21.608 Euro, in Frankfurt am Main sind es 82 Euro mehr als in der Rheinmetropole. Im Kreis Olpe im Sauerland kommt man hingegen auf sensationelle 27.132 Euro, die Einkommen sind dort seit den Nullerjahren um 17,3 Prozent gestiegen. Rein materiell gesehen, dürfte man den Globalisierungsgewinner wohl eher auf einer Landstraße im Sauerland antreffen als in einer Kreuzberger Kneipe oder einer Bar in Köln-Ehrenfeld. Die eigentlichen Globalisierungsgewinner leben in wohlhabenden Landkreisen oder in Städten wie Ulm (Durchschnittseinkommen 29.641 Euro pro Jahr) und Heilbronn mit 32.3666 Euro, das bundesweit hinter Starnberg auf Platz zwei landete. In Ulm sind die Einkommen seit der Jahrtausendwende um 28,4 Prozent gestiegen, in Heilbronn um 43 Prozent.

Aber für die politische Feindbildinszenierung taugt weder der Sauerländer noch der Bewohner einer mittelgroßen Stadt im Ländle. Der „urbane Hipster“ als „wurzelloser Weltbürger“ passt wesentlich besser in die Erzählung vom Kampf der Globalisierungsverlierer gegen die Globalisierungsgewinner, die von rechts bis links bedient wird, um den Aufstieg der AfD zu erklären.

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