Corona und der digitale Kapitalismus

Für eine bessere Zukunft Krisenzeiten öffnen immer auch Möglichkeitsfenster für soziale Veränderungen. Um diese wirklich nutzen zu können, braucht es aber das richtige Bewusstsein

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Ist digital wirklich besser?
Ist digital wirklich besser?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Angesichts der aktuellen Corona-Epidemie kursieren immer öfter Begriffe wie „Apokalypse“, „Krise“ und „Untergang“, die ihren aktuellen Höhepunkt in dem in sozialen Medien massenhaft genutzten Schlagwort „coronapocalypse“ gefunden haben. Während dies zeigt, dass die Tendenz zur apokalyptischen Deutung von Krisenzeiten eine zutiefst menschliche Veranlagung zu sein scheint, überbieten sich viele aktuell darin, die vor uns liegenden Wochen und Monate mit immer grausameren Szenarien zu umreißen. Wer besseres mit seiner Zeit anzufangen weiß, ist oft darum bemüht, auch angesichts der aktuellen Lage nach positiven Geschichten Ausschau zu halten – oder gar zu versuchen, die möglichen Chancen dessen, was uns bevorsteht, hervorzuheben, wie es der marxistische Kulturkritiker Slavoj Žižek derzeit besonders unermütlich tut.

Online werden zum Beispiel zahlreiche Petitionen geteilt, laut denen gerade jetzt deutlich wird, dass mittel- bis langfristig kein Weg mehr am Bedingungslosen Grundeinkommen oder einer Transformation unserer Wirtschaftsweise vorbei führt. Und tatsächlich lohnt es sich angesichts viel beschriebener Horrorsyenarien und der sich überschlagenden schlechten Nachrichten zu betonen, dass Krisenzeiten auch immer Zeiten von Chancen und sich neu eröffnenden Möglichkeitsfenstern sind. Allerdings geht es hierbei auch darum hervorzuheben, dass solch ein Wandel nicht automatisch auf die Krise folgen wird, sondern vielmehr durch die Reaktionen und vor allem auch den Umgang mit ihnen von jeder*m Einzelnen bestimmt ist. Sprechen wir über die derzeitige Ausgestaltung der ökonomischen Verhältnisse, ist ein Bewusstsein nicht nur der Auswüchse, sondern auch der grundlegenden Probleme hierbei von zentraler Bedeutung.

Die digitale Antwort

Während sich viele angesichts der unverhofften Ferien und dem als Gebot der Stunde allerorts propagierten „Social Distancing“ – das eigentlich als „Physical Distancing“ bezeichnet werden muss, wenn es die Idee eines sozialen Miteinanders nicht vollends untergraben soll – emotional wohl einer Mischung aus Überforderung, Unsicherheit und geistiger Entschleunigung gegenüber sehen, schießt die Nutzung diverser Online-Unterhaltungsangebote in die Höhe. Weil in Zeiten von Corona offensichtlich fast alle Regeln des demokratischen Zusammenlebens kurzfristig über Bord geworfen werden können, haben die Anbieter Netflix und Youtube schon kurz nach Verkündung der Corona-Quarantäne auf Druck der EU-Kommission versprechen müssen, die Auflösung ihrer Videos herunterzufahren, um das Internet angesichts des massenhaften Konsums ihrer Streamingdienste zu entlasten. Nur so konnten sie einer Aufhebung der sogenannten „Netzneutralität“ zuvor kommen, die eigentlich einen Grundstein des digitalen Miteinanders darstellt und darin besteht, dass online kein Bit diskriminiert werden soll, egal wer es zu welchem Zweck auf seine Reise durch das World Wide Web schickt.

Wenn das Internet dann leer geguckt ist, lohnt sich offensichtlich für viele auch der Griff zu Homeoffice- und Schul-Apps, die momentan auf den Toprängen der Stores von Apple und Google rangieren, wo sonst mobile Games oder Social Media-Services die ersten Ränge belegten, oder zur aktuell durch die Decke schießenden Videokonferenz-App Zoom, deren Börsenwert einen unvergleichbaren Anstieg vollzog, während der Rest des Markts weiter kränkelt. All dies sind Ausprägungen eines sich aktuell verstärkenden Trends zur Digitalisierung, der so etwas wie eine erste Antwort auf die Herausforderungen von Ausgangssperren, Kontaktverboten und Quarantäne zu sein scheint. Wenn angesichts der derzeitigen Krise dann auch den letzten Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft die Vorzüge der Digitalisierung bewusst geworden sind, könnten sogar öffentliche Verwaltung, Schulen und Universitäten von einem sich wandelnden Umgang mit ihr profitieren.

Vorerst droht die zunehmende Nutzung digitaler Dienste aber erstmal bestehende Strukturen zu stärken. Wer nicht mehr in seinem Lieblingsrestaurant essen gehen kann, in seiner Freizeit nicht mehr das Kino besuchen darf oder alles, was den Grundbedarf an Lebensmitteln übersteigt, aufgrund weitgehender Ladenschließungen nicht mehr persönlich einkaufen kann, für die*den scheint es angesichts weiterhin gewährleisteter Post- und Lieferdienste nur logisch, sein Konsumverhalten weitgehend auf diese zu verlagern. Weil sich viele kleine Geschäfte sowohl in den Städten als auch auf dem Land keine eigene Internetpräsenz leisten können oder auf Laufkundschaft angewiesen sind, sehen sie sich derzeit in ihrer Existenz bedroht. Weichen nun alle auf die bequemste Nutzung von Onlineanbietern aus, verstärkt dies womöglich diesen Trend, denn Kleinanbieter sind oft gezwungen, sich den repressiven Regeln großer Plattformen zu unterwerfen, die, wie Amazon mit einem Marktanteil von über 50 Prozent, schon jetzt den Onlinehandel in Deutschland dominieren.

Corona und der Kapitalismus

Während die führenden Technologiekonzerne sich heute damit rühmen, Vorreiter einer grünen und nachhaltigen Wirtschaftsweise zu sein, sich gern Adjektive wie „immateriell“ oder „postindustriell“ zuschreiben und vorgeben, angesichts der drängendsten globalen Probleme vermeintlich intelligente Lösungen zu liefern, muss heute gefragt werden, inwieweit der Datenkapitalismus als bloße Fortführung des im 19. Jahrhundert geborenen thermoindustriellen Kapitalismus betrachtet werden muss. Denn wenn in Zeiten der Coronakrise alle statt Auto zu fahren oder zu verreisen, verstärkt Streamingdienste wie Netflix und Co nutzen und dadurch ihren Datenverkehr in die Höhe treiben, schützt das die Umwelt ganz und gar nicht, da beispielsweise alleine der millionenfache Konsum der Netflixserie „Strangers Things“ die Netflix-Server und Rechenzentren glühen lässt und damit für die Emission von 189 Millionen Tonnen Kohlendioxid (677 Millionen gefahrene Pkw-Kilometer) verantwortlich ist. Auch der tagelange Konsum der in Deutschland so beliebten Serien „You“ oder „Sex Education“ trägt mit 428 beziehungsweise 378 Millionen umgerechneten Pkw-Kilometern einen großen Teil zum „Klimakiller Serien“ bei.

Allein durch das Streamen von Videos, die in riesigen Serverhallen gespeichert sind, soll so im Jahr 2018 so viel Treibhausgas ausgestoßen worden sein wie durch ein Land von der Größe Spaniens. Gleiches gilt für andere Unternehmen der Digitalwirtschaft, denn alle sind auf den Betrieb von Rechenzentren angewiesen, auf den alleine 19 Prozent des energetischen „Fußabdrucks“ dieses Wirtschaftszweigs entfallen. Und auch wenn sich Apple und Google damit brüsten, mit erneuerbaren Energien zu arbeiten, was laut einem Greenpeace-Bericht von Februar 2019 stark bezweifelt wird, nutzen sie vor allem den billigen Strom aus Kohle, die in den USA nicht selten durch die Sprengung von Bergkuppen, das sogenannte „Mountaintop Removal Mining“ (MTR), gewonnen wird. Die Konzeption der Technologien, die dem digitalen Kapitalismus zugrunde liegen, folgen also ganz offensichtlich keinem ökologischen Imperativ. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht nur widersinnig, gleichzeitig eine digitalisierte Antwort auf die Herausforderungen der Coronakrise und den angesichts dessen umso drängenden Kampf gegen die Klimakrise anzupreisen. Vielmehr muss es darum gehen, etwaige Zusammenhänge genauer in den Blick zu nehmen, denn unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen beschleunigt die fortschreitende Digitalisierung schlicht und einfach die Zerstörung der Umwelt, beispielsweise durch den Ausbau des 5G-Netzes, das den Energieverbrauch der Mobilfunkbetreiber in den nächsten fünf Jahren verdoppeln oder verdreifachen könnte.

Dass gerade die Coronakrise allen Anlass dazu bietet, diesem Trend etwas entgegenzustellen, mag nicht gleich auf der Hand liegen und wird vermutlich auch dann nicht von den führenden Politiker*innen und Medienmogulen verbreitet, wenn die anhaltenden Wellen der Panikmache überstanden sind. Dabei zeigt die Geschichte der Infektionskrankheiten nicht nur, dass viele von ihnen von Tieren stammen, sondern auch, dass unsere zunehmende Verwundbarkeit gegenüber Pandemien eine tiefere Ursache hat, die in der immer rascheren Zerstörung von Lebensräumen liegt, die wiederum auf unsere kapitalistische Wirtschaftsweise zurückzuführen ist, die die Umwelt schonungslos ausbeutet. Wie die Immunkrankheit HIV, Ebola, und das Zikavirus ist auch eine Vielzahl neuer Coronaviren tierischen Ursprungs. Einige stammen von Haus- oder Nutztieren, aber die meisten (mehr als zwei Drittel) von Wildtieren. Diese Tiere können nichts dafür, dass sie diese Erreger tragen und auch die Annahme, sie seien besonders häufig mit todbringenden Erregern infiziert, die jederzeit auf Menschen überspringen können, ist falsch. Das Problem liegt vielmehr in der immer massiveren Abholzung der Wälder und der wachsenden Urbanisierung, die den Viren Wege eröffnet haben, den menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen.

Damit bald alles besser wird

Wenn es also darum geht, aus der Coronakrise mittel- bis langfristig als eine gestärkte und womöglich gerechtere Gesellschaft hervorzugehen, sollten nach einem ersten Moment der Überforderung, Orientierung und des Baumelnlassens der Seele angesichts der ungewohnten Situation auch die ganz individuellen Bewältigungsstrategien und der eigene Umgang mit ihr so gestaltet werden, dass sich gerade im Bereich des digitalen Zusammenlebens einiges ändert. Letztlich leben wir seit Jahren in der Krise, von „Schuldenkrise“ über „Flüchtlingskrise“ (eigentlich „Solidaritätskrise“) bis hin zur neuen „Coronakrise“. Wollen wir nicht ständig nur die akuten Brände stoppen, sondern auch ihre Ursachen angehen, können wir nicht mit immer neuen und vermeintlich allzu intelligenten Gadgets vorliebt nehmen, sondern müssen grundlegendere Fragen danach stellen, wie wir Politik machen wollen, was wir uns unter Freiheit vorstellen und wie wir unsere Wirtschaftsweise so gestalten können, dass weder Mensch, noch Tier, noch Umwelt unter ihr zu leiden haben. Denn während bei der Übertragung des Coronavirus und früherer Infektionskrankheiten auf den Menschen die Zerstörung von Lebensräumen eine zentrale Rolle spielte, fußen die heutigen Imperien der Tech-Giganten auf einer weitreichenden Ausbeutung von Umwelt und Arbeitskraft. Nur dies grundlegenden zu ändern, kann uns ein besseres Morgen bringen, in dem auch die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielen kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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