Das kommunistische Begehren

Zukunft Damit bald alles besser wird, müssen die Strukturen und Formen des Zusammenlebens verändert werden - wie wir Politik machen und was wir uns unter Freiheit vorstellen

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Ein anderes Europa ist möglich
Ein anderes Europa ist möglich

Foto: OMA - Progess exhibition in London Barbican Art Gallery images - 04. EU Barcode 2001,Forgemind ArchiMedia/Flickr (CC BY 2.0)

Die Dokumentation „Ab 18! - Egal gibt es nicht“ begleitet die 25-jährige Polit-Aktivistin Paulina, die zum Polit-Profi wird und dabei erlebt, wie die Mechanismen von Politik und Medien auf ihren Idealismus einwirken. Paulina ist das Gesicht der Kampagne „Kleiner fünf“, die versucht hat Menschen während des Bundestagswahlkampfes dazu zu bewegen, wählen zu gehen und dabei nicht für die AfD zu stimmen, damit diese nicht in den Bundestag einziehen kann.

Damit behandelt die Dokumentation also auch das aktuelle Phänomen des Rechtsrucks und überführt dabei das politische System der parlamentarischen Demokratie im fortgeschrittenen Kapitalismus seines progressiven Misserfolges, während es ausgiebige das Faktum unter Beweis stellt, dass die bestehenden Institutionen für einen möglichen politischen Wandel innerhalb der Spielarten des Parteiensystems eine derartige politische Kampagne benötigt, die bereit ist, sich wie ein kommerzielles Warenprodukt zu vermarkten und dabei keinerlei herrschaftsfreie Kommunikations- und Handelsformen hervorzubringen vermark.

Als Forum des demokratischen Meinungsaustausches stellt dabei auch das Projekt Köln spricht die Notwendigkeit seines Bestehens in Zeiten sich zuspitzender sozialer Verhältnisse unter Beweis. Wie ein herrschaftsfreies Leben denkbar ist, versuchen derzeit ein paar kritische Köpfe im Autonomen Tutorium: Macht und Herrschaft revisited an der Uni in Köln gemeinsam und selbstorganisiert herauszufinden. Letztendlich muss an die Wurzeln der Probleme gegangen werden. Und dafür bedarf es im 21. Jahrhundert keinem traditionellen und für Autoritarismus offenen Marxismus, sondern einer kritischen Marxlektüre, die offen ist für Kritik aus feministischer und postkolonialer Perspektive, wie sie beispielsweise Nikita Dhawan oder María do Mar Castro Varela formulieren.

Das kleine Taschenbuch „Kommunismus: Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird“ von Bini Adamczak skizziert die historischen und theoretischen und materiellen Voraussetzungen des Kapitalismus einleuchtend und leicht verständlich auf unter 80 Seiten. Dabei geht sie auch auf die verschiedenen Arten der Kritik an ihm ein und erläutert die theoretischen Fallen die jeweils mit ihnen einhergehen und sinnbildlich für die vorherrschenden Denkströmungen des kommunistischen Begehrens sind. In seinem Buch „Die Idee des Sozialismus“ argumentiert Axel Honneth für den Sozialismus als einen auch im 21. Jahrhundert tragbare sozialistische Utopie und geht dabei auch darauf ein, dass Freiheit dazu - entgegen der heute gängigen Definition im individuellen Sinne - sozial gedacht werden muss. Nur so können ihm zufolge alle Hindernisse beseitigt werden, die der Praktizierung von Freiheit im Sinne eines solidarischen Füreinanders im Wege stehen.

Auch bezüglich der tieferen historischen Analyse sollte in einem Jahr, in dem Marx medial nochmal so richtig aufgebauscht wird, zudem verstärkt auch an den ungarischen Wirtschaftshistoriker und -wissenschaftler Karl Polanyi erinnert werden, der seiner Zeit wahrscheinlich auch weit voraus war. Seine Warnung davor, dass die Gesellschaft der Wirtschaft dienen werde, statt umgekehrt, findet im 21. Jahrhundert mehr Gehör als zu seinen Lebzeiten. Die Vermarktwirtschaftlichung von politischen Kampagnen, die auch dieses Jahr wieder allseits betrieben wurde und die eher an die Vermarktung eines kommerziellen Warenproduktes erinnern, lässt sich mit Polanyis Argumenten vereinen. Dabei vertritt er eine von der traditionellen ökonomischen Lehre abweichende theoretische These, die sich durch die Betonung der sozialen und institutionellen Einbettung von Marktprozessen auszeichnet.

In seinem einflussreichen Buch „The Great Transformation“ vertritt er die These, dass die „Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft [dh. von Arbeit, Boden und Geld] in Waren“ jene zerstörerische Wirkung entfaltet, der wir heute in Form des modernen Kapitalismus global ausgesetzt sind. Das traditionelle feudale und ständische System musste sich seinen Überlegungen zu folge in kürzester Zeit an die Folgen der Industrialisierung anpassen. Darin erkannte Polanyi den Wandel von der Agrargesellschaft mit dem Motiv des Lebensunterhaltes und der Dominanz der ständischen Kollektive hin zu einer Marktgesellschaft, in der ein individuelles Streben nach Gewinn und eine Maximierung des Eigennutzens das soziale Zusammenleben dominierten.

Den gesellschaftlichen Umbruch der Großen Transformation erklärt Polanyi also nicht durch den evolutionären Selbstlauf, sondern durch die politisch gewollte Einführung freier Märkte für die von ihm so bezeichneten "fiktiven Waren" Arbeit, Boden und Geld. Nur dadurch, dass (vorerst eben nur) gewisse Gegenstände oder Tätigkeiten im Zuge des industriellen und wirtschaftlichen Fortschritts als „Waren“ definiert und gehandelt wurden, erklärt sich die wachsende soziale Ungleichheit, die wir heute beobachten müssen, während sich das marktwirtschaftliche Denken immer neue Bereich des Lebens unterordnet. So verselbständigen sich die Strukturen und Regeln der Wirtschaft gegenüber den Strukturen und Regeln des sozialen Zusammenhalts. Wirtschaftliche Tauschprozesse sind heute beinahe vollständig unabhängig von sozialen Beziehungen (“externalisierte Ökonomie”), und soziale Prozesse immer öfter abhängig von ihrer wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit. Ein derartig ausufernder Materialismus läuft nach Polanyi dem Wesen der Gesellschaft entgegen und bildet für diese eine existenzielle Bedrohung. Die zerstörerische Macht dieser Entwicklung zeige sich dabei nicht so sehr in einem materiellen Mangel oder in den elenden Arbeitsbedingungen dieser Zeit, sondern in einer kulturellen und sozialen Verwahrlosung.

Diese Verwahrlosung können wir heute in Form der faschistischen AfD im Bundestag und deren weitgehender Toleranz seitens der Mehrheitsgesellschaft beobachten. Oder aber auch an dem simplen Fakt, dass wir die zunehmende Verschärfung eines menschenverachtenden Grenzregimes an den Außengrenzen der EU akzeptieren, die es innerhalb weniger Monate vollbracht hat, das Mittelmeer zu der tödlichsten Grenze der Welt zu machen. Die kürzlich beschlossene und derzeit praktizierte Praxis eines neuen Verhaltenskodex, den Italien mit mehreren Hilfsorganisationen geschlossen hat, wird zu noch mehr Todesfällen führen.

Dieser Verhaltenskodex der von der EU befürwortete wird, sieht unter anderem vor, dass Hilfsschiffe libysche Territorialgewässer meiden müssen, wobei Libyen zeitgleich ankündigte, die eigene Such- und Rettungszone auf internationale Gewässer auszuweiten. Dies zwang Hilfsorganisationen wie Sea Eye, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children, sich vorläufig von Rettungseinsätzen zurückzuziehen. Italien verstößt mit dieser Regelung gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen, weil mit dem Kodex Rettungsaktionen verhindert und dadurch vorhersehbare und vermeidbare Todesfälle in Kauf genommen werden, so die UN-Berichterstatterin für außergerichtliche und willkürliche Hinrichtungen, Agnes Callamard Mitte August. »Der Kodex und der Aktionsplan legen nahe, dass Italien, die Kommission und die EU-Mitglieder das Risiko und die Realität von Todesfällen im Meer als einen Preis betrachten, den zu zahlen es wert ist, um Migranten und Flüchtlinge abzuschrecken«, so Callamard weiter.

Die von Karl Polanyi angestellten Überlegungen, die uns dabei zu verstehen helfen können, wie es zu einer derartigen sozialen Verwahrlosung kommen könnte, vollziehen sich dabei als fruchtbare Verbindung von Wirtschaftstheorie und -geschichte, Politikwissenschaft und Kulturanthropologie. Aus historischer Perspektive können auch seine Untersuchungen über die antiken Gesellschaften der Sumerer und Babylonier aufschlussreiche Erkenntnisse über die Welt nach 2008 liefern, in der verschuldete Staaten große Sparanstrengungen unternehmen müssen und demokratisch gewählte Volksvertreter den anonymen Entscheidungen der Finanzmärkte weitgehend machtlos ausgeliefert sind, während sie als kommerzielle Warenprodukte vermarktwirtschaftlicht werden.

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Ein paar mehr Gedanke dazu finden sich hier:

bpb.de: Karl Polanyi, Wirtschaft als Teil des menschlichen Kulturschaffens

http://www.bpb.de/mediathek/231026/karl-polanyi-wirtschaft-als-teil-des-menschlichen-kulturschaffens

3Sat.de: Ab 18! - Egal gibt es nicht

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=69579

kleinerfuenf.de

https://www.kleinerfuenf.de/de

unrast.de: Bini Adamczak – Kommunismus kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird

https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/anarchie-autonomie/kommunismus-178-1782017-02-03-14-45-44-detail

marx200.org:

http://marx200.org/

Prof. Dr. Nikita Dhawan:

http://www.fb03.uni-frankfurt.de/42430375/ndhawan

http://www.normativeorders.net/de/?option=com_content&view=article&id=1324

Prof. Dr. María do Mar Castro Varela

https://www.ash-berlin.eu/hochschule/lehrende/professor-innen/prof-dr-maria-do-mar-castro-varela/

neues-deutschland.de: UN-Expertin: EU nimmt mehr Tote im Mittelmeer in Kauf

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1060628.un-expertin-eu-nimmt-mehr-tote-im-mittelmeer-in-kauf.html

Köln spricht - das Festival der Demokratie:

https://de-de.facebook.com/koelnspricht/

Autonomes Tutorium: Macht und Herrschaft revisited

https://www.facebook.com/events/352394698552711/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Jansen

Max Jansen hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften studiert. Derzeit lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main.

Max Jansen

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