Das innerliche Schunkeln

Theater Mit „Hallelujah“ feiert Christoph Marthaler den Country und zeigt, wofür die Berliner Volksbühne steht
Ausgabe 08/2016

Vermutlich ist nicht allgemein bekannt, dass eine verblüffend große Zahl von Menschen in Berlin lebt, die überzeugt sind, dass die Stadt gerade preisgibt, was sie einzigartig macht: ihre Narben, ihre Sperrigkeit, überhaupt ihre Geschichte. Es gibt natürlich immer noch Orte, die dieses Wesen verkörpern und reflektieren. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist so ein Ort. Deshalb war es keine gute Nachricht, als ein hipper Londoner Museumsmacher zum Nachfolger des Intentanten Frank Castorf bestimmt wurde. In rund eineinhalb Jahren wird dieser Chris Dercon die Volksbühne übernehmen, umkrempeln, „neu erfinden“, in Wahrheit also: komplett zerstören. Bis dahin gerät jede Aufführung zum stillen Protest und zur Schau dessen, was die Volksbühne war, ist und nicht mehr sein darf.

Mit Murx den Europäer! betrat 1993 der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler das Volksbühnenuniversum. Über 22 Jahre später verabschiedet er sich mit dem Stück Hallelujah, das noch einmal demonstriert, wie „Volksbühne“ funktioniert: Geschichte und Mythos werden enggeführt und popkulturell so transformiert, dass eine Atmosphäre der Konspiration entsteht (wir gegen die große Hipster- und Kapitalistenkacke da draußen).

Bei Marthaler sieht das konkrekt so aus, dass er den ehemaligen, 2002 endgültig geschlossenen DDR-Vergnügungspark Plänterwald auf die Bühne bringt (Bühnenbild: Anna Viebrock) und mit der so skurrilen wie berührenden Geschichte der Wild-West-Bewegung in der DDR verknüpft. Aus dem Kassenhäuschen hinaus erzählt Hildegard Alex ihr Leben als ehemalige „Indianistin“, und Clemens Sienknecht gibt Dean Reed, der aus Denver in die DDR ging. Kontrastiert wird er vom Franzosen Marc Bodnar, der sich als Pierre Brice/Winnetou ausgibt und lakonisch die falsche Identifikation von Schaupieler und Rolle herausstellt. Figuren, die ihre Identität vielleicht nur ausmalen, Figuren am Rande des Scheitern, Figuren, das vor allem, die nicht einfach nur saufen, sondern auch singen und so zwischen der Ästhethisierung des Elends und der authentischen Verkörperung von Sehnsüchten verflixt changieren.

Take it easy, altes Haus

Denn man muss hinzufügen, dass der Atmosphärenzauber nur funktioniert, wenn die Musik spielt. Im Fall von Hallelujah muss man vielleicht sogar sagen, dass der Plänterwald-Budenzauber nur noch den Rahmen für ein hemmungsloses Abfeiern des Country gibt. Marthaler, der ein sicheres Gespür für das melancholische Verlaufen von Situationen hat, überlässt die Zuschauer zunehmend dem Trance (in Country-Form): Es kommt die Zeit in diesem zweieinhalbstündigen Stück, in der dann nur noch musiziert wird, Little Saprrow King of the Road, Great Balls of Fire, 500 Miles und so weiter, und eigentlich wäre es auch okay gewesen, wenn man den Eintritt einfach für ein Konzert der sensationellen Sängerin Tora Augestad bezahlt hätte, einer Norwegerin, die nicht zum Stamm der Marthaler-Crew gehört. Aber auch die musste beschäftigt werden, und das gelang nicht immer gleich gut. Eher besser gelang es bei den Einsätzen von Clemens Sienknecht, der nicht nur Dean Reed geben durfte, sondern auch Take it easy, altes Haus von Truck Stop performieren durfte, und er tat es naturgemäß so, dass das befreiende Moment am Schlager bewahrt und das Schunkeln im Publikum ein völlig Innerliches blieb.

Info

Hallelujah (Ein Reservat) Regie: Christoph Marthaler, Volksbühne, Berlin

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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