Der Aufbruch um das Jahr 1968 herum hat die (west)deutsche Gesellschaft nachhaltig verändert. Die vor allem von Studenten getragene Bewegung wollte sich eine wie auch immer gedachte „echte“ Demokratie erkämpfen. Dieses große Ziel lag über den tagespolitischen Forderungen wie der nach dem Ende des Vietnamkriegs oder der Verhinderung der Notstandsgesetze. Das Mittel zu ihrer Durchsetzung war der heftige Straßenprotest, soziale Medien gab es nicht.
Unter den eruptiven Ausbrüchen vollzog sich indessen ein tiefgreifender Mentalitätswandel in der Bundesrepublik. Aus der Perspektive der historischen longue durée liegt das Erbe von 68 weniger in K-Gruppen und Terrorismus als in der „Etablierung der Demokratie als Lebensform“, wie es de
K-Gruppen und Terrorismus als in der „Etablierung der Demokratie als Lebensform“, wie es der Soziologe Oskar Negt genannt hat. Negt meinte damit, dass die harten Institutionen der Gesellschaft durch tausendfache „Mitbestimmung“ gewissermaßen von innen heraus weich werden; Autorität verschwand so zwar nicht, verteilte sich aber auf viele. Demokratie als Lebensform: Das meinte zugleich auch die zahlreichen Initiativen, Kreise und Projekte, in denen sich die Zivilgesellschaft jenseits der Parteien ihrer selbst vergewisserte und aktiv wurde.„Demokratie retten“ auf den SpruchbändernEs ist, in Teilen, immer noch diese Zivilgesellschaft, die jetzt auf die Straße geht, um gegen rechts zu demonstrieren. Sie demonstriert aber auch schlicht für ihren Erhalt. Heute wie damals geht es um Grundsätzliches. Die Ablehnung einer menschenverachtenden Politik der Deportationen ist eingebettet in einen großen Zusammenhang: „Demokratie retten“ liest man auf den Spruchbändern der Demonstranten.Während die 68er eine politische Kultur, die „demokratische Grundüberzeugungen lautlos in die Köpfe und die Herzen aller einsenkt und zur täglichen Gewohnheit macht“ (Jürgen Habermas), überhaupt erst aufbauen wollten, geht es jetzt, 2024, um die Verteidigung dieser Kultur. Neu ist diese Sorge vor ihrer Zerstörung nicht. Neu ist aber, dass die Sorge auf die Straße geht – und jedenfalls mich so ein wenig an 1968 erinnert.Pegida als APOEs ist ja auch nicht das erste Mal, dass sich irgendwer an 68 erinnert fühlt. Pegida wurde bei der Formierung 2014 mit der APO verglichen. Eine außerparlamentarische Opposition von rechts, war so etwas vorstellbar? Die Vordenker von Pegida sahen sich jedenfalls so. Der Soziologe Steffen Mau hat in einem SZ-Interview gerade darauf hingewiesen, dass sich rechte, nun bekämpfte Aktivisten aus dem Milieu der alten Zivilgesellschaft selbst rekrutieren.Denkt man die Sache etwas weiter, dann wäre die AfD der parlamentarische Arm dieser neuen rechten APO, was wiederum ein wenig an die Geschichte der Grünen erinnert. Als sie damals in den Bundestag einzogen, waren sie die „Schmuddelkinder“, mit denen man nicht sprach. Heute spricht man mit Alice Weidel oder Björn Höcke nicht, riskiert so allerdings, dass die Energien, die die Rechten antreiben, weiter hochgefahren werden.Der emotionale EmissionshandelDass es stolz macht, wenn man von den Eliten exkommuniziert wird, war schon der Studentenbewegung klar. Dieser Thymos verblasste nach 68. Heute beruht die Mitte-links-Gefühlspolitik eher darauf, ein latent schlechtes Gewissen in ein gutes umzumünzen. Privilegien sollen durch Partizipation, Inklusion und Diversität nicht abgeschafft, aber verteilt werden: Mir soll es nicht schlechter gehen, aber möglichst vielen soll es (fast) so gut gehen. Das ist die Gefühlslage, die die Ampel erzeugt und die auf die Abstiegsängste des unteren Mittelstands trifft, der diesen emotionalen Emissionshandel nicht mitmachen kann und latent nach rechts ausschlägt. Nun aber kehrt mit den Demonstrationen das thymotische Gefühl zurück, weil zwei Faktoren zusammenkommen: das große Ziel (die Demokratie retten!) und ein klares Feindbild (die neuen Nazis).Mit eingeschrieben ist den Demonstrationen aber auch die Frage nach ihrer Nachhaltigkeit. Werden sie wirklich etwas ändern? Wer eher skeptisch ist, kann aus zwei Perspektiven argumentieren. Die eine ist die politische: Es müssten die ökonomischen und wohl auch die migrationspolitischen Ursachen für das Erstarken der Rechten angegangen werden.Die andere wäre die mediale: Die Demokratie als Lebensform, von der Negt sprach, ist nicht nur durch rechte Sezession in Gefahr, sondern auch durch etwas sehr Elementares, das sie überhaupt erst in Gang gesetzt hat – die sozialen Medien. Verhindert eine dauererregte Gesellschaft mit ihrem ständigen Schrei nach Veränderung diese nicht gerade? Eine erneute tiefgreifende „Veränderung der Verhältnisse“, von der die 68er nicht nur sprachen, hätte einen Mentalitätswandel zur Bedingung, von dem ich nur weiß, dass er mit launigen Appellen an Medienverzicht völlig unzureichend beschrieben ist.