Jens Balzer und Svenja Flaßpöhler: Gibt es gute und schlechte kulturelle Aneignung?
Interview Kultur ist immer schon Aneignung, aber welche Formen sind ethisch vertretbar? Diese und andere Fragen diskutieren der Autor Jens Balzer und die Philosophin Svenja Flaßpöhler
In seinem neuen Buch Ethik der Appropriaton versucht der Publizist Jens Balzer, die Debatte um Dreadlocks, Winnetou oder Elvis jenseits der ermüdenden Polemiken zu denken. Gute Aneignung verzichtet auf Projektionen, weiß um ihre Gemachtheit. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat da ein paar Rückfragen, gerade wenn es um Aneignung nicht auf dem Feld der Ethnien, sondern dem des Geschlechts geht.
der Freitag: Haben Sie sich schon einmal der Cultural Appropriation schuldig gemacht?
Svenja Flaßpöhler: Bei Cowboy-und-Indianer-Spielen war ich immer der Cowboy. Ich habe mich damals männlich identifiziert und wollte unbedingt eine Knarre haben. Aber selbst wenn ich mich als Indianer verkleidet hätte, hätte ich mich nicht „schuldig“ gemach
ich als Indianer verkleidet hätte, hätte ich mich nicht „schuldig“ gemacht. Es geht doch darum, dass wir uns sensibilisieren für Aneignungsprozesse, sie uns bewusst machen. Das Wort „Schuld“ erstickt jede Lust, sich darauf einzulassen. Auch würde ich den Begriff aufbewahren für bewusste moralische oder rechtliche Überschreitungen, sonst verwässert man ihn schnell. Übrigens: Wir sollten mal kurz vorausschicken, dass sich hier zwei Weiße über kulturelle Aneignung unterhalten. Wir sprechen hier also als Nicht-Betroffene.Jens Balzer: Ich komme aus kleinen Verhältnissen, meine Eltern waren keine Theatergänger. Aber einmal im Jahr bin ich mit meinem Vater zu den Karl-May-Spielen nach Bad Segeberg gefahren, das war eine Art Volkstheater, ein klassenloses Spektakel. Nicht nur die Darsteller waren verkleidet, auch wir Kinder … wobei ich, anders als Svenja, lieber Indianer war, vemutlich wiederum wegen einer weiblichen Identifikation: Man konnte als Junge lange Haare tragen, sich schminken … Klar, rückblickend muss man sich daraufhin überprüfen, ob nicht auch in einer solchen, ja absolut positiv gedachten Identifikation kolonialistische Stereotype stecken, die mit real existierenden indigenen Menschen aus Amerika wenig zu tun haben. Ich glaube aber auch, dass Schuld der falsche Begriff ist.Dann frage ich konkret: Was würden Sie machen, wenn Sie Intendant der Karl-May-Spiele wären?Balzer: Ich würde versuchen, die Projektionen deutlicher zu machen, die in diesen Geschichten stecken.Was meint „Projektion“ genau?Balzer: Nehmen Sie den Wunsch, Indianer zu werden, wie es bei Kafka heißt. Dieser Wunsch beruht darauf, dass man die Fesseln der Zivilisation sprengen und ein elementares Verhältnis zur Natur wiederfinden will. Erinnern Sie sich an die Aneignung der indischen Kultur durch die Hippies: Spiritualität, Mantra, Yoga, Meditieren, getragen von dem Gefühl, dass man nun näher an der Natur und am Archaischen ist ...... Blackfacing ...Balzer: ... das ist natürlich der klassische Fall der kulturellen Aneignung, der heute völlig zu Recht tabuisiert ist. Wer sich auf diese Weise als Weißer zum Schwarzen macht, will sich die vermeintliche Wildheit einer rückständigen Kultur aneignen – und verhöhnt zugleich die Menschen, die zu dieser Kultur gehören. Das ist etwas, das ich im ethischen Sinne als falsche Aneignung bezeichnen würde. Mir wäre allerdings wichtig, zu zeigen, dass es neben diesen falschen auch richtige Aneignungen gibt. Das wären solche, bei denen man nicht dem Trugbild der Authentizität, der Eigentlichkeit verfällt.Flaßpöhler: Dass wir aller Eigentlichkeit sehr skeptisch gegenüberstehen sollten, sehe ich auch so. Andererseits frage ich mich, ob der postmoderne Diskurs, den Jens in seinem Buch ja sehr stark macht, um gelungene Aneignung zu skizzieren, nicht doch wichtige Fragen unbeantwortet lässt. Denn auch gelungene Aneignung setzt ja voraus, dass es durchaus etwas Eigenes gibt. Wenn aber alles Zitat ist – was ist dann das Eigene? Wie können wir es begreifen? Darauf muss man schon eine Antwort finden. Und die Natur: Ist es nicht doch so, dass bestimmte Kulturen ein anderes, näheres Naturverhältnis haben? Im Animismus etwa wird die Natur als beseelt begriffen. Die Natur ist selbst Subjekt. Heute, da wir merken, wohin uns unsere Naturbeherrschung gebracht hat, sind wir davon zu Recht inspiriert.Balzer: Es gibt kein Zurück zur Natur.Flaßpöhler: Das habe ich auch nicht gesagt.Balzer: Was ich meine, ist: Es gibt andere Techniken des Umgangs mit der Natur, die kann man von anderen Kulturen lernen, aber nicht weil die irgendwie authentischer und einfacher sind, sondern weil sie auf andere Weise komplex sind. Das kann man auch auf den Umgang mit Kunst, etwa Musik übertragen. Nehmen wir die sogenannte Weltmusik. Als in den 1980ern weiße Menschen anfingen, sich für Musik aus Afrika zu begeistern, wollten sie auf Weltmusik-Festivals vor allem Künstler*innen in traditionellen Gewändern sehen, und irgendwelche Trommeln mussten dabei sein, dann waren sie glücklich. Die Modernität der afrikanischen Musik wurde, wenn sie überhaupt gehört werden konnte, unter bunten Kostümen versteckt, weil die weißen Hörer sich in einen Zustand vor der Moderne zurücksehnten.Placeholder infobox-1Die Welt mag modern und komplex sein. Aber sie macht nicht glücklich. Wie ist das denn nun mit der Debatte um die Rasta-Frisuren: Will ein Weißer, der Rastas trägt, nicht einfach auch dieses andere Naturverhältnis signalisieren, von dem Frau Flaßpöhler eben sprach?Balzer: Kommt darauf an, wer das wann tut und warum. Die weißen Reggae-Hörer und Punks, die Ende der 1970er die Ersten waren, die sich Dreadlocks angeeignet haben – bei denen war das ganz klar ein Symbol der antirassistischen Solidarität. Das kam ja zunächst aus Großbritannien, wo sich die Szenen der linken Punks mit denen der Jamaika-stämmigen Migranten vermischten. Aber das ist über 40 Jahre her, danach hat es diverse weitere Aneignungen dieser Aneignung gegeben, bis die Dreadlocks am Ende nur noch ein Fashion-Symbol waren. Und da, finde ich, kann man schon sagen: Wer das Symbol heute benutzt, kann sich schon fragen lassen, ob er oder sie das mit historischem Bewusstsein tut. Oder nicht.Flaßpöhler: Als eine Frau, die selbst nicht von kultureller Aneignung betroffen ist, es aber sehr wohl kennt, wenn Männer sich weibliche Attribute aneignen, frage ich mich: Ist es nicht möglich, Aneignung eher von der positiven Seite her zu sehen? Es kann einen Menschen ja durchaus stolz machen, wenn sich jemand etwas von ihm aneignet. Was lange Zeit eher als ein Zeichen von Minderwertigkeit gesehen wurde, wird plötzlich zu einem attraktiven Accessoire.So geschehen bei Bo Derek, der Filmschauspielerin, die mit ihren geflochtenen Zöpfchen weltberühmt wurde. Sie sagte 40 Jahre später, dass ihr damals viele schwarze Frauen gedankt hätten, dass sie diese Braids zu einem coolen Accessoire gemacht hätte. Aber heute würde sie es nicht mehr tun. Ist das nun Einknicken vor dem Zeitgeist oder Einsicht?Flaßpöhler: Kommt darauf an, wie sie es begründet.Reicht es nicht aus, sich all dessen bewusst zu sein? Nehmen wir „Elvis“ von Baz Luhrmann. Der Film ist gezeichnet von den Debatten um kulturelle Aneignung. Elvis „raubt“ einerseits die schwarze Musik, gleichzeitig ist in der Art, wie Luhrmann die Biografie erzählt, auch das Bemühen um Respekt vor der schwarzen Musik sichtbar.Balzer: Natürlich hatte Elvis seine schwarzen Vorbilder. Die Familie ist in einer armen schwarzen Nachbarschaft aufgewachsen, aber dass da der kleine Elvis wie im Film den Gospel-Gottesdienst besucht hätte, ist nicht überliefert – das hat Baz Luhrmann dazuerfunden. Ja, es ist auffällig, dass Elvis als Freund der Schwarzen dargestellt wird, und das ist sicher eine Folge der Debatte, da haben Sie recht. Aber mindestens so auffällig ist, dass der Film am Ende ungenau wird. Da, wo der echte Elvis reaktionär wurde und die Nähe von Nixon suchte, gerade als er die schwarze Befreiungsbewegung zu zerstören versuchte. Das ist die dunkle Seite von Elvis, sie kommt nicht vor.Sprechen wir mal über Aneignung, bei der es nicht um Ethnie geht, sondern um Geschlecht. Da gibt es ja auch problematische Formen.Flaßpöhler: Aber doch zunächst einmal sehr schöne! Bei uns im Philosophie Magazin haben wir jetzt öfter junge männliche Praktikanten mit bunt lackierten Fingernägeln. Da denke ich doch nicht: Ey, der hat sich etwas angeeignet, was eigentlich mir gehört. Sondern: Schön, dass Weiblichkeit heute etwas ist, das man gerne ausstellt. Vielleicht auch einfach so, um sich zu schmücken. Auch an solchen Phänomenen sieht man, dass wir in einer komplexen Übergangszeit leben. Ja, es gibt immer noch Sexismus. Gleichzeitig gibt es Männer, die sich ganz offensiv weiblich kleiden.Balzer: Ich beobachte, dass die Jugend sowieso nicht mehrheitlich in dem Diskursfeld agiert, das uns so zerfleischt. Wir haben das Gefühl, dass die 20-Jährigen allesamt links-identitäre Fanatiker*innen sind. Das stimmt natürlich nicht. Nehmen Sie Harry Styles, den britischen Popsänger und ersten Mann auf dem Cover der Vogue, mit lauter queeren Attributen. Styles tritt im Hamburger Volksparkstadion vor 50.000 Menschen auf, mehrheitlich Mädchen und Frauen zwischen 15 und 23, für die er das Symbol einer nicht toxischen Männlichkeit ist, ein wunderbares, wirklich befreiendes Bild. Prompt erhebt eine sich als queer definierende Kolumnistin in der New York Times den Vorwurf, Styles sei ein Cis-Mann, mutmaßlich heterosexuell und also nicht berechtigt, sich als schwul zu gerieren. Ich würde sagen, der Vorwurf ist falsch, weil einer wie Harry Styles für junge Menschen gerade Möglichkeiten – auch: das Politisierungspotenzial – einer nichtbinären Ästhetik aufzeigt. Und weil er dabei gerade niemanden ausschließt. Es gibt aber einen linken Diskurs, der alle Arten der Inklusion und Solidarisierung verabscheut, um einer immer weiteren Verfeinerung der Identitätskonzepte und Fragmentierung der Lebensstile willen. Das führt nirgendwo hin.Flaßpöhler: Warum darf ein schwuler oder queerer Mann sich weibliche Attribute aneignen, aber kein heterosexueller Mann? Das erschließt sich mir nicht. Überhaupt gibt es viele Fragen: Ein Cis-Mann soll also keine Frauenkleider tragen. Aber ein Mensch mit Penis soll mit mir in die Schwimmbad-Dusche gehen dürfen, wenn er von sich sagt, dass er eine Frau ist? Im letzteren Fall hätte ich persönlich schon eher ein Problem.Gibt es hier nicht einen Unterschied im sexuellen und im ethnischen Diskurs?Flaßpöhler: Ja, das ist sehr interessant. Es gibt einen breiten Konsens, dass jemand, der weiß ist, sich nicht eine schwarze Identität aneignen darf, auch wenn sich die Person vielleicht der eigenen kulturellen Identität extrem entfremdet fühlt und sich selbst als eine Person of Colour empfindet. Siehe den Fall Rachel Dolezal, den Mithu Sanyal in ihrem Roman Identitti verarbeitet. Beim sexuellen Diskurs ist es aber anders. Hier wird von vielen gefordert – genau das besagt ja das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel –, dass jeder Mensch sein Geschlecht selbst bestimmen darf. Gefordert wird eine Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstand per Selbstauskunft. Im Fall von Trans sprechen wir bezeichnenderweise gar nicht von Aneignung, sondern von Identität. Der betreffende Mensch mit Penis, der eine Änderung beantragt, ist eine Frau. Im ethnischen Diskurs wäre so etwas unvorstellbar. Dass also eine weiße Frau sagt: Ich bin eigentlich schwarz, auch wenn ich keine schwarze Hautfarbe habe.Was folgt daraus?Als Philosophin habe ich erst einmal offene Fragen: Woher genau weiß ein Mensch, der keine Vulva und keine Brüste hat, eigentlich, dass er eine Frau ist? Ihm fehlt ja die leibliche Erfahrung, die nötig ist, um das zu wissen. Beziehungsweise: Was genau bedeutet dann Frausein? Was mir hingegen sofort einleuchtet: dass ein Mensch sich unwohl fühlt im eigenen Körper, eingeengt durch gesellschaftliche Zuschreibungen, die mit diesem Körper verbunden sind, sich eher zu Hause fühlt in den Zuschreibungen des anderen Geschlechts. Das ist aber etwas völlig anderes, als eine andere Identität zu beanspruchen. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Mir geht es nicht um Polemik, ich wäre wirklich froh, wenn mir das jemand erklären könnte.Müssen wir nicht vom Begriff der Erfahrung sprechen, wenn wir über Ihr Unbehagen reden? Gewisse Erfahrungen, die Sie als Frau machen, kann ich gar nicht machen. Kein Kind kriegen, keine Periode.Flaßpöhler: Ja, Leibeserfahrung ist hier ganz zentral. Ich werde nie die Erfahrungen machen, die ein Mensch mit Penis macht. Und ich werde auch nie wissen, wie eine trans Frau sich fühlt, die ihr Geschlecht operativ angepasst hat. Denn die Leibesgeschichte ist eine andere. Die trans Frau weiß nicht, wie es ist, zum ersten Mal die Menstruation bekommen zu haben. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, mal einen Penis besessen zu haben, die trans Frau aber schon. Mir geht es hier überhaupt nicht um Abwertung, sondern nur um Genauigkeit, um Differenzierung.Balzer: Das verstehe ich, aber schlittern wir da nicht gerade von einer Ontologisierung in die nächste? Ich hab jedenfalls ein Unbehagen angesichts eines so stark gemachten Erfahrungsbegriffs – insofern, als damit doch wieder ein argumentativ nicht einholbarer Rest eingeklagt wird. Ist das nicht derselbe Geist, aus dem heraus junge Aktivist*innen glauben, wenn sie angesichts weißer Reggae-Musiker ein „Unwohlsein“ spüren, dann reicht das schon, um den Abbruch des Konzerts zu erzwingen? Oder anders gesagt: Wenn wir nur den Erfahrungsbegriff zum Nennwert von kultureller Aneignung machen, dann können Dreadlocks nur jene tragen, die eine Diskriminierungsgeschichte haben, denn die „Dreads“ sind ursprünglich ein Symbol des Widerstands gegen die weiße Sklavenhaltergesellschaft.Flaßpöhler: Jetzt kommen wir zum Glutkern des ganzen Themas, nämlich zur Frage, was denn nun das Eigene ist und ob und inwiefern man das Recht hat, es zu verteidigen. Ich denke, dass ein stark gemachter Erfahrungsbegriff bislang das Beste ist, was wir haben, um das Eigene zu beschreiben, denn es geht hier gerade nicht um eine Ontologie. Simone de Beauvoir greift in Das andere Geschlecht genau deshalbauf einen phänomenologischen Ansatz zurück. Es geht darum, wie wir uns erfahren als Frau – und hier spielt die Leiblichkeit natürlich genauso eine Rolle wie Diskriminierung, gesellschaftliche Strukturen etc. Zur Frage der Verteidigung: Mein oben erwähntes Dusch-Beispiel zeigt natürlich, dass auch ich offenbar Grenzen kenne. Vielleicht denke und empfinde ich da aber auch zu eng. Vielleicht müsste ich damit klarkommen, dass da einer mit Penis neben mir duscht. Insgesamt glaube ich, dass wir mit Großzügigkeit und Offenheit weiter kommen als mit dem Hochziehen von Verteidigungswällen.Gilt das auch für die kulturelle Aneignung?Flaßpöhler: Ich meine, ja. Was mich irritiert, ist, dass es in der Konsequenz oft ins Kleine und nicht ins Große geht. Nehmen wir den Streit um die Gedichte der US-amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman, wo es dann geheißen hat, die solle nicht eine Weiße, sondern eine Schwarze übersetzen. Denn nur Schwarze dürfen Schwarze übersetzen. Das ist aus meiner Sicht ein Rückzug ins Kleine, ins eigene Lager. Für mich wäre eine selbstbewusste, souveräne und potente Position gewesen, zu sagen: Übersetzt die Gorman gerne, aber wir wollen den nächsten Jonathan Franzen übersetzen. So wäre man ins Große gegangen.Zumal es beim Übersetzen doch um Einfühlungsgabe geht, darum, sich in andere hineinversetzen zu können. Auf diesem Vermögen basiert Kultur.Balzer: Es geht aber nicht nur um Soft Skills, wenn man so will, sondern auch um Verteilungskämpfe. So habe ich übrigens die Debatte um Amanda Gorman auch wahrgenommen, die, wenn man näher an sie heranzoomt, keineswegs so kleinlich gestaltet war, wie sie in manchen konservativen Feuilletons rezipiert wurde. Es geht darum, wer für wen sichtbar ist, unüberhörbar wird. Kultur ändert sich am Ende des Tages letztlich nur dann, wenn sich im „Maschinenraum“ etwas ändert, bei den Lektoren, den Dramaturgen, den Produzenten. Alles andere ist Tokenismus. In den 1990er Jahren tauchten im Musikfernsehen plötzlich ganz viele schwarze Moderatoren und Moderatorinnen auf. Das sah superdivers aus. Aber in den Redaktionen saßen ausschließlich Weiße, fast alles Männer obendrein.Bei der Lektüre Ihres Buchs habe ich mich gefragt, ob wir neben der Ethik der Aneignung nicht auch eine der Exotik brauchen. Man eignet sich Dinge einer anderen Kultur ja auch an, weil sie exotisch sind. Ist das schlecht?Balzer: Gute Frage. Das ist ein Einwand, der verschiedentlich gegen meinen Essay vorgebracht worden ist und an dem ich gerade herumdenke: Brauchen wir nicht eine progressive Definition der Exotik? Interessant daran ist, dass das eine Position ist, die auch von vielen queeren Künstler*innen geteilt wird, die sagen: Mit der Ästhetisierung der Exotik begegnen wir unserer eigenen Exotisierung durch die Mehrheitsgesellschaft. So verstanden, wäre das geradezu ein Paradefall einer postmodernen Aneignungsart – bei der das Artifizielle, Hybride konsequent sichtbar bleibt. Aber Svenja Flaßpöhler hat ja gerade eben gesagt, dass wir die Postmoderne nun endlich mal hinter uns lassen müssen.Flaßpöhler: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich finde nur, dass man mit ihren Theorien wichtige Fragen nicht oder nur unzureichend beantworten kann.Ist es richtig, dass die Meerjungfrau Arielle von der schwarzen Halle Bailey gespielt wird?Flaßpöhler: Spontan würde ich sagen, dass ich es gut finde, weil eine Gewohnheit erschüttert wird. Man imaginiert diese Meerjungfrau, die ein Fabelwesen ist, erst mal immer weiß, aber sie kann genauso gut schwarz sein. Ich weiß aber, dass es den Vorwurf gibt, dass ausgerechnet eine Schwarze eine Figur spielt, die keine Geschichte hat. Ist das ein tragfähiges Argument oder wird hier das Haar in der Suppe gesucht? Da fällt mir gerade etwas ein: Als kleines Mädchen hatte ich – als einziges Kind weit und breit – eine schwarze Puppe. Die hatte auch keine Geschichte. Ich habe sie geliebt, weil sie anders war.Dürfen also auch Hobbits schwarz sein, Herr Balzer?Balzer: Bemerkenswert daran finde ich, wie groß auf der konservativen Seite die Aufregung darüber ist, dass in diesem neuen Tolkien-Spin-off Ringe der Macht schwarze Elben und Zwerge vorkommen: Das würde die tiefe Verwurzelung Tolkiens im europäischen Erbe leugnen. Der Vorwurf kommt tendenziell von der Seite, die sich empört, wenn jemand in Zweifel zieht, ob Winnetou heute noch repräsentativ für eine indigene Kultur ist. Dann heißt es: Aneignungen aller Art sind immer erlaubt, alles andere ist linke Cancel Culture. Wenn aber die vermeintlich eigene Kultur zum Gegenstand von Aneignung wird, ist das Gezeter enorm. Manchmal tut es mir als emanzipatorisch orientiertem Menschen, der sich mit den Paradoxien der Theoriebildung des Diskurses auseinandersetzt, ganz gut, zu sehen, dass der konservative Diskurs mindestens genauso viele Widersprüche aufweist.
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