The Beatles: Tanz über Abgründen

Zeitgeschichte Die Beatles haben am 29. August 1966 ihren letzten öffentlichen Auftritt zu viert, lösen sich aber nicht auf. Ihre nächsten Kompositionen sind Teil der 68er-Revolte
Ausgabe 35/2021
Erst Fan, dann Feministin? Die Beatles waren politischer als vermutet
Erst Fan, dann Feministin? Die Beatles waren politischer als vermutet

Foto: Ted West/Central Press/Hulton Archive/Getty Images

Um über die erfolgreichste Popmusikgruppe aller Zeiten, die Beatles, zu schreiben, an welchen Jahrestag soll man erinnern? Kein klarer Anfang lässt sich benennen. Als ab 1957 erst zwei, dann drei, dann (1962) vier Jungs aus Liverpool regelmäßig miteinander zu spielen begannen, oder als ihr Name feststand (1960), waren sie noch längst nicht das, was sie wurden. Und ein Ende gibt es bis heute nicht. Am 13. Juli 2019 traten die beiden, die noch leben, Ringo Starr und Paul McCartney, im Dodger Stadium in Los Angeles auf, mit Helter Skelter und Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (Reprise); es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.

Aber an eine Wende im Wirken der Band lässt sich anknüpfen, vor 55 Jahren: ihren letzten öffentlichen Auftritt zu viert am 29. August 1966. Bis dahin hatten sie schon alle Rekorde gebrochen, beendeten gerade eine Tournee durch die USA, wo jeweils in großen Stadien Zigtausende zugegen waren – und nicht nur zugegen waren, sondern während ihres Gesangs so laut schrien, dass sich die Musiker selbst nicht hören konnten. Danach, bis 1970, dem Jahr, in dem sie sich trennten, arbeiteten sie nur noch im Studio (wenn man von einem Konzert auf dem Dach am 30. Januar 1969 absieht, das nach 42 Minuten abgebrochen werden musste, weil unten das Verkehrschaos eskalierte) und schufen nun erst ihre bedeutendsten Kompositionen.

Wer im Erfolg der Beatles ein nicht nur musikalisches, sondern auch politisches Phänomen sieht, wird gleichwohl die Jahre vor 1966 am interessantesten finden. Politisch? Sie taten doch nichts, als von Liebe zu singen. Immerhin machten sie außerhalb der Konzerte keinen Hehl daraus, dass sie etwa den Vietnamkrieg der USA missbilligten. In Manila, der Hauptstadt der Philippinen, spielten sie im Sommer 1966 vor 80.000 Menschen, weigerten sich aber anschließend, mit der Diktatoren-Gattin Imelda Marcos zu Abend zu essen. In den USA galt damals noch die Rassentrennung, auch bei Konzerten. Die Beatles bestanden jedoch auf deren Aufhebung und machten davon ihren Auftritt abhängig.

An der letztgenannten „Nebensache“ sieht man schon, was ihre „Politik“ war, nämlich dass sie ungeheure Massen von Jugendlichen versammelten, denen sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gaben. Wenn sie auch sonst nichts verlangten oder erwarteten – keine spezielle politische Botschaft vortrugen, wie das andere Bands taten –, eine Spaltung ihres Publikums ließen sie nicht zu. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war keine Illusion. Man sieht es schon am einhelligen Geschrei der oft nur 13- bis 14-jährigen Zuhörerinnen, die immer den größten Teil des Publikums bestritten. Die ließen sich nicht nur was vorspielen, sondern übernahmen eine aktive Rolle. Schreiend komponierten sie gleichsam sich selbst zur Einheit. Wer weiß, wie viele von ihnen später den neuen Feminismus begründeten? Es waren interaktive Konzerte.

Wenn man die Lieder der Beatles durchgeht, ist All You Need Is Love wohl noch das politischste. Paradox genug! Denn hier wird nicht einmal von der Liebe, wie in anderen Liedern, viel erzählt (wie man auf sie hofft, was ihre Krisen sind, wie sie scheitert), sondern wir hören „love, love, love“ und nur so viel wird deutlich, dass es auch um den Frieden geht. Sie singen nicht „Make love, not war“, aber darauf läuft es hinaus. Wichtig die Nebenumstände: Da das Lied für eine Fernsehsendung bestellt worden war, die am 25. Juni 1967 per Satellit weltweit übertragen wurde und 600 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer fand – nicht weniger, eher mehr als die Mondlandung 1969 –, hatten sie, um überall verstanden zu werden, Worte und Klänge geschaffen, die noch einfacher waren als sonst. Versteckt indes in der kurzen Einleitung wurde ein Zitat der Marseillaise untergebracht, der französischen Revolutionshymne. Und in der Coda ist neben Eigenzitaten, einem Volkslied und vielem anderen die achte zweistimmige Invention (BWV 779) von Johann Sebastian Bach zu hören.

Sie tun somit dasselbe wie andere große Künstler dieser Jahre. Auch einige „E-Musik“-Kompositionen von 1968 stimmen darin überein, dass sie eine Vielzahl musikalischer Zitate aus ganz verschiedenen Zeitaltern in sich einschmelzen. Es ist der Anspruch und Versuch, in einem hervorgehobenen – revolutionären – Moment der Menschheitsgeschichte sowohl diese auf den Punkt zu bringen, oder auf wenige vergleichbare Punkte, wie auch umgekehrt von ihr her den Moment zu beurteilen. Das wichtigste derartige Werk ist die Sinfonia von Luciano Berio: Hier durchflicht eine Melodie Gustav Mahlers die Zitate, in der es darum geht, wie „der heilige Antonius den Fischen predigt“. Während die Beatles noch die Revolte befeuern, ist bei Berio schon deren Scheitern inszeniert: Da haben Studenten auf taube Ohren von Arbeitern eingeredet. Freilich war 1968 auch schon das Jahr der Niederlage, oder doch des negativen Umschlags – der Prager Frühling wurde erstickt, Martin Luther King erschossen und Rudi Dutschke angeschossen. Es konnte da den Beatles nicht anders ergehen als politischen Organisationsansätzen wie in Deutschland dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), nicht anders auch als privaten Liebesbeziehungen von 68ern: dass sie sich auflösten, das Jahr 1970 nicht überlebten, weil die Revolte sie nicht mehr trug.

Vor 1968 indes hatten die Beatles zur Einigkeit und Freiheit und Selbstautorisierung einer riesengroßen Jugendbewegung beigetragen. Was war denn so besonders an ihrer Musik? An dem Lied, das Ende 1963 ihren Durchbruch zur weltweiten Berühmtheit bewirkte, lässt es sich vielleicht zeigen: I Want to Hold Your Hand. Man sieht schon, wieder nichts als Liebe. „Und wenn ich dich berühre, fühle ich mich glücklich“, „ich glaube, du wirst verstehen“ und so weiter. Bei „Ich kann meine Liebe nicht verbergen“ haben die Mädchen am lautesten gekreischt. Ebenso aber bei gewissen Akkordfolgen. Der Akkordverlauf ist im Ganzen ziemlich konventionell, wird aber immer mal wieder durch Terzrückungen („Medianten“) verfremdet. Und das teilte sich mit, wie zeitgenössische Videos zeigen. Die Terzrückung ist ein romantisches Stilelement, von dem etwa Richard Strauss in Im Abendrot, dem letzten der Vier letzten Lieder, häufigen Gebrauch macht. Bei Strauss sind es feierlich-ernste Mollakkorde, hinauslaufend auf Joseph von Eichendorffs Zeile „Ist dies etwa der Tod?“, während die Beatles frohes Dur spielen und die Freude ihnen ins Gesicht geschrieben steht. Doch auch bei ihnen ist es ein Tanz über Abgründen: Sie und ihr Publikum sprechen sich wechselseitig Glück zu, beanspruchen es unbedingt und ahnen, dass es von Unglück nicht zu trennen ist.

Die Beatles sind aus dem kulturellen und politischen Gesamtzusammenhang der weltweiten 68er-Revolte nicht wegzudenken. Wie kann eine einzelne Beatband, vier Jungs aus einfachen Verhältnissen in Liverpool, so viel Bedeutung gewinnen? Zunächst einmal, sie bewegten sich in Zusammenhängen, die wir nicht übersehen sollten. Sie waren nicht wirklich einzeln, sondern beeinflussten andere Bands und ließen sich selbst beeinflussen, sehr stark etwa 1966 vom Album Pet Sounds der Beach Boys. Sie suchten von Karlheinz Stockhausen zu lernen und wohl auch, in ihrem Lied A Day in the Life, von Ligetis Clustermusik. Umgekehrt waren „E-Musiker“ wie Pierre Boulez von ihnen begeistert. So eingebettet, waren sie aber doch etwas Besonderes, höchste Flutwelle eines Wärmestroms, in dem unzählig viele Menschen badeten. Man kann ihre Bedeutung vielleicht mit dem Orakel von Delphi vergleichen, welches Heiligtum die sonst auseinanderstrebenden Städter im antiken Griechenland verband. Über ihre kulturelle Einheit kam die 68er-Bewegung letztlich nicht hinaus. Als ein politisches Programm zu entwickeln war, zerfiel sie in viele Fraktionen. Mit einer neuen Kultur muss es aber immer beginnen, und wie das geschieht, demonstrierten damals die Beatles und ihre Fans.

Die Terzrückung als romantisches Stilelement und ihren Gebrauch bei Richard Strauss, „Im Abendrot“, führt der Berliner Pianist Gerhard Herrgott in seinem wundervollen Vortragskonzert Schuberts T(h)riller vor, das ich anzusehen empfehle.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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