Die EU vernachlässigt russische Minderheiten in Estland, Lettland und Litauen
Menschenrechte Weder im Baltikum noch der Ukraine werden die Interessen der russophonen Minderheit ausreichend beachtet. Ihr Status steht im krassen Widerspruch zum EU-Recht für Minderheiten
9. Mai 2022, Riga: Erinnern vor dem Denkmal „für die Befreier Sowjetlettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Okkupanten“
Foto: Taisiya Vorontsova/TASS/DPA
Nicht nur die Einschränkung des Transitverkehrs zwischen Russland und seiner Exklave Kaliningrad, die durch den EU-Staat Litauen führt, lenkt den Blick aktuell aufs Baltikum. Mitte Juni wurde das Ende eines sowjetischen Kriegsmahnmals in Riga verkündet und mit dem russischen Überfall auf die Ukraine motiviert. „Denkmal für die sowjetischen Krieger – für die Befreier Sowjetlettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Okkupanten“ heißt die acht Meter hohe Stele. Das lettische Parlament hat beschlossen, sie im Herbst abzureißen. Das geschah, obwohl oder weil dort eben erst 20.000 Menschen demonstriert hatten, am 9. Mai, dem Tag der Befreiung, diesmal trotz Einzäunung des Mahnmals und eines Veranstaltungsverbots in seiner U
al trotz Einzäunung des Mahnmals und eines Veranstaltungsverbots in seiner Umgebung (der Freitag 22/2022).Die Begründung des Beschlusses mit dem Ukraine-Krieg ist nur die halbe Wahrheit, wie uns ein paralleler Vorfall im Nachbarstaat Estland zeigen wird. Wenn man den Kontext etwas weiter zieht, gibt es auch eine Parallele in der Ukraine selbst. In allen drei Fällen stellt sich die Frage, was von der Politik der Europäischen Union russischen Minderheiten in früheren Sowjetrepubliken gegenüber zu halten ist – nach 1990 und bis heute.Diskriminierende GesetzeAuch im estnischen Tallinn gibt es ein „Denkmal für die Befreier“. Von einem geplanten Abriss war bisher noch nichts zu lesen, aber: Es wurde 2007 vom Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof am Stadtrand verlegt. Die estnische Regierung bewirkte das trotz starken Protests auf der Straße, bei dem ein Mensch starb, und obwohl Russland 2007 nirgendwo einmarschierte. Das Problem war ein ganz anderes: In Estland und Lettland leben starke russophone Minderheiten, die sehr viel weniger Rechte haben als die beiden Titularnationen. Die Diskriminierung schafft natürlich eine Konfliktlage, und hier zeichnet sich die Parallele mit der Ukraine ab. Ich will aber vor allem die Unterschiede betonen. Die Rechte der Russophonen sind in den beiden baltischen Staaten sehr viel stärker eingeschränkt als in der Ukraine: Sie sind nicht einmal als Staatsbürger anerkannt, bevor sie sich einem schwierigen Assimilationsprozess unterworfen haben. Der besteht darin, dass sie die Sprache der Titularnation erlernen – obwohl die Lehrangebote zu wünschen übrig lassen – und in Geschichtskursen das Geschichtsverständnis der Titularnation übernehmen. In beiden Staaten, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatten, lebten noch um 2000 zwischen 25 und 30 Prozent solcher „Nichtbürger“, die etwa auf der nationalen Ebene kein Wahlrecht haben, heute sind es immer noch etwa zehn Prozent. Dass diese Minderheiten sich an solche Symbole ihrer Identität klammern, wie jene Mahnmale es sind, ist ebenso verständlich wie das Gefühl von Bedrohtheit, das die jeweilige Titularnation deshalb empfindet.Das Gemeinsame mit der Ukraine liegt darin, dass auch dort die Titularnation ein Sprachgesetz gegen die Russophonen erlassen hat, aber diese sind dort keine „Nichtbürger“. Das wäre auch seltsam angesichts der Tatsache, dass das ukrainische Volk sich aus einer gemeinsamen russischen Geschichte entwickelt, ausdifferenziert und schließlich abgesondert hat. Noch in der jüngsten Vergangenheit waren die Bindungen stark. Man denke nur an Nikita Chruschtschow, den ukrainischen Generalsekretär der KPdSU, der in seiner Amtszeit die russische Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik zuschlug, obwohl das gegen die Unionsverfassung verstieß. Letten und Esten hingegen sind nie Russen gewesen, und als sie 1940 in die UdSSR eingemeindet wurden, war das gewiss eher eine Folge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, als dass sie selbst es gewollt hätten. Man kann daher gut nachvollziehen, dass sie nicht erfreut waren über die starken russophonen Minderheiten in ihren nach dem Ende der UdSSR wieder unabhängigen Staaten. Man sah sie als Erbschaft einer Okkupation. Zu „Nichtbürgern“ hätten sie dennoch nicht gemacht werden dürfen. Die Regierungen behaupten bis heute, es handle sich trotz allem nicht um Staatenlose, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) gelten sie als solche. Die Wahrheit mag dazwischenliegen, denn die Russophonen sind nicht rechtlos, zum Beispiel nicht von den Menschenrechten ausgenommen. Auf jeden Fall aber steht ihr Status im krassen Widerspruch zum EU-Recht für Minderheiten – was nicht verhindert hat, dass Estland wie Lettland seit 2004 EU- und zugleich auch NATO-Mitglieder sind. Wie ist das möglich? Ganz einfach: In den Aufnahmeverhandlungen seit 1998 wurden beide Staaten von der EU aufgefordert, sich ihrem geltenden Recht zu beugen; das geschah dann wenigstens teilweise, in kleinen Schritten. Zum Beispiel beschloss die lettische Regierung 2001 einen Fonds zur Förderung der Minderheiten. Eine Kontrollgruppe der EU prüfte alle paar Jahre das Maß der Fortschritte. So ist es bis heute: ein gesichtswahrender „Kompromiss“ für beide Seiten. Unbefriedigend ist er auch deshalb, weil zugleich, neben anderen Diskriminierungen des Russischen, das Estnische beziehungsweise Lettische als einzige Amtssprache auch in den Gebieten durchgesetzt wurde, wo mehrheitlich Russophone lebten.Vor dem EinmarschWas hier jedoch vor allem festgehalten werden muss, ist, dass die EU in diesen Staaten überhaupt auf eine Veränderung der Rechtslage gedrungen hat – in der Ukraine tat sie das nicht. Das ukrainische Sprachgesetz, vor drei Jahren beschlossen, trat Mitte Januar 2022 in Kraft, als schon seit Wochen jeden Tag vom bevorstehenden russischen Einmarsch geredet und geschrieben worden war, der aber auf sich warten ließ, da sich die russische Regierung darauf versteifte, mit dem Westen verhandeln zu wollen. Ausdrückliches Ziel des ukrainischen Gesetzes ist das Zurückdrängen des Russischen. Russische Zeitungen dürfen nur noch dann erscheinen, wenn sie eine Parallelausgabe auf Ukrainisch in gleicher Auflage verkaufen. So viel Geld, dass sie das stemmen könnten, haben die meisten nicht. Klinikärzte, Verkehrspolizisten und andere Staatsangestellte, aber auch Mitarbeiter von Dienstleistungsbetrieben sind jetzt verpflichtet, ihre Kunden auf Ukrainisch anzureden, überall, also auch in Gebieten mit russophoner Mehrheit. Auch wenn nur Russophone zugegen sind, erlaubt man öffentliche russischsprachige Vorträge nur, wenn sie auch ins Ukrainische übersetzt werden. Sonderbevollmächtigte nehmen Meldungen von Verstößen gegen dieses „Recht“ entgegen. Dann werden Geldstrafen verhängt. Hat die EU auch da auf Minderheitenschutz gedrungen?Man könnte sagen, die Ukraine falle ja nicht unter EU-Recht. Inzwischen aber, wo so viele sagen, die Ukraine müsse schnellstmöglich in die EU aufgenommen werden? Aber, heißt es, das Russische müsse ja wirklich zurückgedrängt werden, weil es für die Propaganda Wladimir Putins empfänglich mache. Doch auch dieses Argument wird hinfällig, wenn man ein weiteres ukrainisches Gesetz einbezieht, das in der zweiten Junihälfte in Kraft trat. Es verbietet die öffentliche Aufführung russischer Musik – die Pjotr Tschaikowskis oder Igor Strawinskys – mit der Begründung, sie begünstige die Übernahme einer russischen Identität bis hin zu separatistischen Bestrebungen und schwäche also die Ukraine. Aus demselben Grund werden auch Import und Vertrieb russischer Bücher verboten, etwa von Leo Tolstoi oder Fjodor Dostojewski. Was verraten solche Verbote, wenn nicht, dass es eine russische Bevölkerungsgruppe, die anders tickt als die ukrainische Staatsführung, wirklich gibt? Dass es Menschen gibt, die sich selbstbestimmt und nicht, weil ein Satan namens Putin sie dazu zwingt, aus diesem Staat separieren wollen? Aber die EU sieht keinen Grund, der ukrainischen Führung in den Arm zu fallen. Sie unterstützt vielmehr das Narrativ, dem zufolge es dem russischen Militär darum geht, gerade auch die Städte im überwiegend russophonen Donbass, wo es ja kämpft, zu vernichten.Es scheint, gelinde gesagt, mit der EU-Politik etwas nicht zu stimmen. Das wird von einer weiteren und letzten Parallele noch unterstrichen. Zu den EU-Mitgliedern zählt Bulgarien. Nordmazedonien ist einer der Staaten, die es werden wollen. Vor Jahren gab das EU-Mitglied Griechenland seinen Widerstand dagegen auf, nachdem Nordmazedonien diesen seinen von Athen diktierten Namen akzeptiert hatte. Es hatte sich vorher Mazedonien genannt, wie auch eine angrenzende griechische Provinz heißt. Bulgarien indes gibt seinen Widerstand bis heute nicht auf. Der bulgarische Standpunkt wurde eben erst wieder bekräftigt: Nicht nur soll die bulgarische Minderheit Nordmazedoniens als konstitutives Staatsvolk anerkannt, sondern es soll auch die Sprache der Nordmazedonier zum bloßen bulgarischen Dialekt erklärt werden.Wenn aus alldem etwas zu schließen ist, dann doch, dass das Verhältnis von Minderheiten und Titularnationen ein echtes Problem darstellt. Die Reaktionen nicht nur der Titularnationen, sondern auch der Minderheiten und jener angrenzenden Nationen, denen sie zwar nicht staatlich angehören, mit denen sie aber kulturell verbunden sind, wirken nicht selten empörend oder mindestens verrückt. Sie können aber im Sinne jener „wechselseitigen Perspektivenübernahme“, wie sie uns zum Beispiel Jürgen Habermas anempfiehlt, immer leicht nachvollzogen werden. Nun aber, gilt das nur für die estnische oder lettische, bulgarische oder ukrainische Staatsführung und nicht auch für die russische? Die deutsche hat im innerukrainischen Konflikt zu vermitteln versucht. Deshalb gibt es die Minsker Verträge von 2015. Wer sie von deutscher Seite mit ausgehandelt hat, muss sich heute dafür rechtfertigen. Warum? Wie kann es sein, dass die skizzierten Probleme heute schlichtweg geleugnet werden, als wären sie alle nur der bösen Fantasie jenes russischen Satans entsprungen?Andere Prioritäten Von allen deutschen Intellektuellen, auch denen, die in der FAZ oder im Auswärtigen Amt arbeiten, sollte man doch erwarten können, dass sie Hannah Arendts Buch über den Totalitarismus, seine Funktionsweise und nicht zuletzt auch seine Vorgeschichte gelesen haben. Zur Vorgeschichte, liest man da, gehört das neue osteuropäische Staatensystem, das die Versailler Verträge nach dem Zerfall Österreich-Ungarns infolge des Ersten Weltkriegs geschaffen hatten. Hier im Osten Europas, so Arendt, „waren die Minderheiten der unglückselig verbleibende Rest, der in dem System schlechterdings keinen Platz hatte“. „Was sich in der durch die Versailler Verträge getroffenen Regelung herausstellte, war, dass einer der vielen Gründe, warum der europäische Status quo weder zu halten noch zu restaurieren war, darin bestand, dass das Nationalstaatssystem des Westens sich nicht auf ganz Europa ausdehnen ließ und dass also Europa seit mehr als hundertfünfzig Jahren in einer Staatsform lebte, die für ein rundes Viertel seiner Bevölkerung nicht anwendbar war.“Hat sich daran bis heute viel verändert? Gerade weil es inzwischen die EU gibt, könnte das der Fall sein. Der Zusammenschluss benachbarter Staaten zum Staatenbund könnte das Problem der Minderheiten entschärfen und schließlich ganz aufheben. Derzeit aber scheint die EU wichtigere Ziele zu haben.
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