Essay Hunger und Tod in Gaza, mörderischer Stellungskrieg in der Ukraine, Konfrontation mit China: Um all das zu beenden, weisen erstaunliche Worte von Papst Franziskus den Weg
Schuld ist nur getilgt, wenn sie vergeben wird. Das bedeutet nicht nur, dass dann die Schuldigen nicht mehr schuldbelastet sind.
Illustration: der Freitag
Als der erste Lockdown wegen Corona einen Monat alt war, sagte Jens Spahn, damals Bundesgesundheitsminister: „Wir werden einander in ein paar Monaten wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Das war im April 2020. Ein unglaublicher Satz, den man von einem Politiker nicht erwartet? Lebten wir in einer anderen Welt, wir könnten antworten: Wieso denn, Spahn denkt immer so, und auch seine Parteifreunde – die „Christdemokraten“! Christus hat gesagt, am Karfreitag, zwei Tage vor Ostern: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Christus selbst konnte denen, die ihn gekreuzigt hatten, nicht vergeben, das ging sogar ihm über die Kraft, aber er konnte Gott darum bitten.
Wo es um die ganz krassen Untaten der Politik geht, kommen
t, kommen Regierende nie auf die Idee, dass sie Vergebung bräuchten. Oder wissen sie es im Grunde, wollen es nur nicht zugeben? Da wir in einer Demokratie leben, regieren wir letztlich alle mit. Auf Nichtwissen können wir uns selten berufen. Dass unser Europa die ganze Welt kolonisiert hat und dafür nicht bestraft wurde, vielmehr bis heute prosperiert, ja dass Europa und die USA noch eins draufsetzen, ihren früheren Opfern jetzt noch den ökologischen Schaden zufügen, ihnen auch nicht etwa aus der Armut helfen – wer soll es uns vergeben?Dazu hat Papst Franziskus vor ein paar Jahren Erstaunliches gesagt. In einem Interview führte er 2016 aus, die westlichen Menschen seien zwar in ihre historische Schuld verstrickt, doch gebe es „keine Lage, aus der man sich nicht erheben kann“, um „von neuem zu beginnen“. Statt zu sagen, sie sollten Buße tun, hielt er es für angebracht, sie zu ermutigen. Seine Diagnose war offenbar, dass man sie über ihre Schuld nicht zu belehren brauche: Von der wüssten sie selbst und seien gerade deshalb in nihilistischer Angst erstarrt, die sie irgendwie glitzernd überspielen. Das Problem sei, dass sie auf Vergebung gar nicht zu hoffen wagten. Deshalb ruft er uns zu: Erhebt euch! Nehmt den Kampf auf! Er spricht tatsächlich von einem Kampf.Deutschland und ChinaSchuld ist nur getilgt, wenn sie vergeben wird. Das bedeutet nicht nur, dass dann die Schuldigen nicht mehr schuldbelastet sind. Sondern das ist überhaupt die Art, ein Fortwuchern der Schuld, der Verbrechen zu stoppen. Statt dass man ein Verbrechen rächt, durch ein weiteres Verbrechen, das selbst wieder gerächt wird, und so immer weiter, muss ich versuchen, die anderen ihres Schuldigseins und -werdens gleichsam zu berauben, damit es ihnen nicht mehr zur Hand ist. Und ebenso bin ich selbst darauf angewiesen, dass die anderen mich von meiner Schuld befreien.So erstaunlich die Worte des Papstes klingen mögen, wiederholen sie doch nur die „Wunder“ des Jesus von Nazareth. Wo immer Jesus von Kranken um Hilfe gebeten wird, sagt er ihnen einfach: Erhebt euch! „Stehe auf!“ Er fügt hinzu: „Und sündige hinfort nicht mehr.“ Die beiden Sätze sagen dasselbe: Du kannst einfach aufhören, weiter Schuld auf dich zu laden. Das ist dein Aufstehen. Und dann wird dir vergeben. Zur Buße, zum Bereuen braucht Jesus gar nicht aufzufordern, denn es ist ja logisch, dass, wer seine oder ihre Schuldlast loswerden will, die Schuld bedauert haben muss. Wer an der Schuld festhält, will ja gar nicht, dass sie vergeben, das heißt: weggenommen wird. Aber umgekehrt, wie gesagt, fahren Menschen fort, schuldig zu sein und zu werden, weil sie auf Vergebung nicht zu hoffen wagen.Zur nihilistischen Passivität, von der Jesus heilt, hat die Angst vor der eigenen Schuld geführt. Und damit vor dem eigenen Tod. Dass es darum geht, zeigt am klarsten eine „Wunder“-Heilung, wo einer „in den Gräbern“ gehaust hatte, „krakeelend und auf sich selbst mit Steinen einschlagend“, wie wir lesen (Markus 5,1 – 20). Der unreine Geist, von dem der Mann besessen ist, wird von Jesus nach seinem Namen gefragt. Die Antwort ist militärisch: „Legion“. Das dürfte kein Zufall sein. Es erinnert daran, dass die Lehre von der Vergebung keine Privatsache ist, sondern zuerst eine politische Angelegenheit. Denn eine Welt, in der man einander Schuld zuweist und deshalb Kriege miteinander führt, lehrt die Einzelnen das Gegenteil von Vergebung. Übrigens das Thema einer Verdi-Oper, Die Macht des Schicksals: Ein Mann kann einem anderen partout nicht vergeben, weil er im Krieg dient und das sein ganzer Horizont ist. Frank Castorf hat die Oper jüngst so inszeniert.Davon zu sprechen, haben wir heute allen Anlass. Kriege in Gaza, in der Ukraine. Ein Weltkrieg mit China rückt näher.Vergebung – ist das etwa eine Frage, die sich zum Beispiel hinsichtlich Chinas nicht stellt? China überzieht heute die ganze Welt mit seinen Handelsnetzen, und es wird so dargestellt, als sei das irgendwie böse. Aber wir, Europa, haben China dazu gezwungen. Noch im 19. Jahrhundert strebte es über seinen Landesumkreis nicht hinaus. Da kamen britische Händler, wollten britische Waren gegen Tee tauschen. Die englische Teestunde! Nach der Herkunft des schönen Konsums zu fragen, fiel den netten Tanten und Onkeln nicht ein. Fragen wir denn heute nach den Produktionsbedingungen des Kaffees? Aber als sich der chinesische Kaiser die britischen Waren ansah, sagte er: Das brauchen wir nicht. (Die chinesische Kultur war viel höher entwickelt als die westliche.) Da beschlossen die britischen Händler, Opium in China zu verkaufen. Mit dem Gewinn konnten sie den chinesischen Tee bezahlen. Das Problem war nur, dass der Opiumverkauf in China verboten war. Nun, dann führte man eben „Opiumkriege“ (ab 1839), womit die Kolonisierung Chinas begann.An der beteiligte sich später auch Deutschland. Deutsche Händler ließen sich in der Bucht von Kiautschou nieder. Als die Chinesen sich mit Aufständen gegen die ausländischen Besatzer zu wehren begannen, beteiligten sich deutsche Soldaten an der Niederwerfung. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hielt seine „Hunnenrede“: Wie die Hunnen sollten sie wüten, damit „niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen“. Kann das vergeben werden? Natürlich. Deutschland braucht nur „aufzustehen“: aus der Kriegskoalition auszusteigen, die heute gegen China geschmiedet wird.Israel und PalästinaAber der Gaza-Krieg, ist das nicht ein ganz hoffnungsloser Fall? Keineswegs. Man muss freilich aufhören, so zu tun, als werde da nur ein israelisch-palästinensischer Konflikt ausgetragen. Dann geht es. Wo doch auf der Hand liegt, dass auch hier die europäischen Staaten die Schuldigen sind. Am meisten Deutschland. Aber auch andere haben die Juden und Jüdinnen durch ihren Antisemitismus zur Auswanderung gezwungen. Und ihnen als Methode nur den Weg gelassen, in einem Land zu siedeln, in dem schon andere wohnten. In der Perspektive dieser Indigenen hieß das zweifellos, dass sie kolonisiert wurden. In der jüdischen Perspektive war es keine Kolonie, denn die jüdischen Siedler wurden von keinem jüdischen Staat ausgesendet. Wiederum wurden sie das aber, faktisch, von den europäischen Staaten. Besser wäre es gewesen, man hätte einen Teil Deutschlands, Bayern etwa, den Juden und Jüdinnen abgetreten. Aber nun haben wir den Staat Israel da zu verteidigen, wo wir ihn hingezwungen haben.Wenn Palästina Unrecht geschieht, ist es unser Unrecht. Tun wir etwas dagegen? Ein bisschen Geld, ein paar Hilfslieferungen reichen nicht. Die Zwei-Staaten-Lösung, die wir wollen, setzt voraus, dass Israel und Palästina einander viel Unrecht vergeben, das geschehen ist. Wechselseitiges Unrecht. Dem Massaker der Hamas ist das Massaker in Sabra und Schatila vorausgegangen, den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon, begangen von dortigen Milizen, bewacht aber von israelischen Soldaten. Die sperrten die Lager ab, damit niemand floh, und feuerten nachts Leuchtraketen, damit auch nachts das Morden, Verstümmeln und Vergewaltigen weitergehen konnte.Es gibt in beiden Völkern Kräfte genug, die trotz allen Leids, das sie einander zufügten und zufügen, die Versöhnung wollen. Aber man kann nicht erwarten, dass sie allein mit ihrem Problem fertigwerden, wenn nicht Europa zu seiner Schuld steht und deren ganze Last trägt. Warum wird nicht Israel und Palästina die EU-Mitgliedschaft angeboten?Die Ukraine und RusslandSchließlich der Ukraine-Krieg, da sind wir wieder beim Papst. Sein Kommentar ist heute wie 2016, dass er zum Mutigsein aufruft. Aber unsere politische Klasse, und die „Christdemokraten“ vorneweg, will überwiegend den Krieg, und dann verhandelt man nicht mit dem Feind. Geschweige, dass man sich der eigenen Schuld erinnern mag! Dabei ist es doch üblich geworden, von einem jetzt schon „zehnjährigen“ Ukraine-Krieg zu sprechen, der also nicht erst 2022 begann. Nun denn, was geschah vor zehn Jahren? Die EU hatte der Ukraine ein Assoziierungsabkommen angeboten, das auf wechselseitigen Freihandel hinauslief. Über Russlands Reaktion lesen wir immer wieder nur, es habe auf die Ukraine „Druck ausgeübt“. Aber Russland hatte gute Gründe, zu widersprechen, denn Freihandel bestand schon zwischen ihm und der Ukraine. Den musste es kündigen, wenn es nicht selbst von EU-Waren überschwemmt werden wollte. War das der „Druck“? War es eine Anmaßung Russlands, in der Sache überhaupt mitreden zu wollen? Immerhin war die ukrainische Wirtschaft zur Hälfte nach Osten gerichtet. Und, noch wichtiger, die Ukraine war als einer der GUS-Staaten mit Russland völkerrechtlich verbunden. Von einer russischen Anmaßung kann also überhaupt keine Rede sein.Als Wiktor Janukowytsch, der damalige ukrainische Präsident, wegen dieser Schwierigkeiten das Assoziierungsabkommen mit der EU erst einmal nicht unterzeichnen wollte, kam es zu den Maidan-Unruhen, in der Folge zur Abtrennung der Krim und des Donbas. Gut, das war aus heutiger Sicht der Kriegsbeginn. Damals las ich bei Wikipedia, die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung lehne den Standpunkt der Maidan-Demonstrant:innen ab. Das wurde kurz nach den Unruhen gelöscht. Aber heute noch liest man bei Wikipedia, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende 2013 nach einem Treffen mit Janukowytsch sagte, die Aufgabe der EU werde sein, „noch stärker mit Russland zu reden, wie wir aus dem Entweder-oder – entweder Bindung an Russland oder Bindung an Europa – herauskommen, und ich glaube, da liegt auch eine Aufgabe für Deutschland“. Angela Merkel und andere Staats- und Regierungschefs, heißt es weiter, sollen auf dem NATO-Gipfel Petro Poroschenko, Janukowytschs Amtsnachfolger, wie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso aufgefordert haben, kompromissbereiter zu agieren. Barroso schloss noch im November 2013 nach dem Scheitern des Abkommens kategorisch aus, trilaterale Verhandlungen unter Einbeziehung Russlands zu führen. Und dabei blieb es.Keine Schuld der EU am Ukraine-Krieg? Die das behaupten, glauben es selbst nicht, denn so dumm ist niemand. Russland hat auch Schuld, denn natürlich hätte es nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen. Russland und die EU haben viel Anlass, miteinander zu reden. Wenn sie das täten, hieße Verhandlung nicht Kapitulation der Ukraine – das ist eine Lüge –, sondern Geständnis der beidseitigen Schuld, in der Folge Vergebung und schließlich Frieden.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.