Ukraine-Krieg: Das Friedensbuch der Stunde

Rezension Hermann Theisen und Helmut Donat haben für ihren Sammelband „Bedrohter Diskurs. Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg“ eine bemerkenswerte Vielzahl von Autoren mit durchaus unterschiedlichen Perspektiven versammelt
Ausgabe 12/2024
Zerstörung in Mariupol (Mai 2022)
Zerstörung in Mariupol (Mai 2022)

Foto: Stringer/AFP/Getty Images

Zwischen Sahra Wagenknechts Beitrag und dem Kathrin Voglers liegen in diesem Buch 157 Seiten. Im Verzeichnis der Autorinnen am Ende sind sich die BSW-Gründerin und die Sprecherin der Linkspartei NRW ganz nah, dem Alphabet gemäß. So unverträglich fallen die Texte Wagenknechts und Voglers, die 2023 im Sommer für Die Linke eine Zukunft ohne Wagenknecht ausrief, zum Krieg in der Ukraine auch gar nicht aus. Fast fragt sich, ob nicht doch möglich gewesen wäre, vielstimmig, aber gemeinsam für den Frieden zu kämpfen, statt eine Partei zu spalten. Vielleicht hätten Helmut Donat und Hermann Theisen helfen können.

Dem Verleger Donat, Träger des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg, und dem Sozialarbeiter, Friedensberater sowie Autor Theisen ist der jüngst erschienene Band Bedrohter Diskurs. Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg zu verdanken. Auf 368 Seiten versammeln die Herausgeber durchaus unterschiedliche Sichtweisen von Autoren, deren kleinster gemeinsamer Nenner ist, diesen Diskurs ohne Diffamierung führen zu wollen, weil er von solcher eben bedroht ist.

Schon bei der Forderung „Diplomatie statt Waffen“ – in Gestalt des Fotos eines Demo-Plakats ziert sie den Buchtitel – wird der letzte Außenminister der DDR, Markus Meckel, vielleicht die Stirn runzeln, wegen des „statt“. Fordert er in seinem Buchbeitrag doch, „der Ukraine alle nur erdenkliche Hilfe und militärische Unterstützung zu ihrer Verteidigung angedeihen zu lassen“. Meckel träumt auch von „Europawahlkampf in der Ukraine“ und orakelt, mit zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für Rüstung werde es wohl nicht getan sein. Der Sozialdemokrat will aber eben auch Deutschland „nicht selbst Kriegsteilnehmer werden“ lassen – noch ein gemeinsamer Nenner der hier versammelten Autoren. Sie treten damit an gegen eine Phalanx aus Politikern und Journalisten, die einen großen Krieg mit Russland mindestens billigend in Kauf nehmen.

In solch geschichtlich kritischem Moment zeigen die Herausgeber mit fast 60 Beiträgen, wie breit und prominent, obwohl medial unterrepräsentiert, die Friedensbewegung in Deutschland aufgestellt ist. Zu lesen sind Texte, abgedruckte Artikel und Redebeiträge des Historikers Peter Brandt, des Psychoanalytikers Eugen Drewermann, des Sozialwissenschaftlers Christoph Butterwegge, des Journalisten Franz Alt, des Süddeutsche-Zeitung-Autors Heribert Prantl,der einstigen Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz und der EX-EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Ute Finckh-Krämer weist darauf hin, wie wichtig Aufrechterhaltung und Aufbau von Begegnungsformaten heute Verfeindeter ist, um überhaupt je zu einem Versöhnungsprozess zwischen Russen und Ukrainern zu gelangen.

Das Autoren-Portfolio zeigt: Die Friedensbewegung speist sich aus zwei Hauptzuflüssen, der Sozialdemokratie und der Basis beider christlicher Kirchen, oft vereint etwa in der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Ihr Großteil positioniert sich, anders als Meckel, gegen die Lieferung von Waffen sowie für deren Schweigen und ein Ende des Sterbens als oberste Priorität und klagt die Geschichtsvergessenheit gegenüber einem tatsächlichen „Vernichtungskrieg“ – dem der Deutschen in der Sowjetunion – sowie gegenüber der Rolle des Westens in der Vorgeschichte von Russlands Invasion in der Ukraine an.

Frappierend sind die Analogien, die der Historiker Donat zur Vorzeit des Ersten Weltkriegs aufzeigt, siegesgewisse Blindheit für die Unabwägbarkeiten des Kriegsverlaufs wie gnadenlose Attacke auf jeden Pazifismus. Ralf Fücks’ Diktum vom Mai 2022, „Der Friede ist nicht der höchste aller Werte!“, findet sich fast wortgleich beim Pfarrer und Kriegsenthusiasten Hermann Kremers Anfang des 20. Jahrhunderts.

Bedrohter Diskurs. Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg Hermann Theisen, Helmut Donat (Hg.) Donat Verlag 2024, 368 S., 24,80 €

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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