Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist zu einem Abnutzungskrieg geworden, der sich, wenn der Westen die Ukraine nicht im Stich lässt und seine Waffen- sowie Munitionslieferungen nicht reduziert, noch lange Zeit hinziehen kann. Bis zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Spätherbst zumindest hat die russische Führung keinerlei Interesse an der Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen, weil sie mit guten Gründen davon ausgeht, dass sich im Fall eines Sieges von Donald Trump die Lage für sie deutlich verbessern und sie eine gute Chance zur Erreichung ihrer maximalen Ziele haben wird. Ob die Europäer dann, worüber jetzt laut nachgedacht wird, in der Lage sein werden, den Ausfall der USA als Unterstützer aufzufangen, wir
Herfried Münkler: Der Ukraine-Krieg führt zu einer neuen Weltordnung
Globale Macht Der Konflikt im Osten Europas verschiebt die globalen Machtverhältnisse, es entsteht eine Pentarchie: Die USA und China sowie Russland, die EU und Indien werden die neuen Weltmächte sein. Doch wie friedlich wird diese Weltordnung?
Grafik: der Freitag
r maximalen Ziele haben wird. Ob die Europäer dann, worüber jetzt laut nachgedacht wird, in der Lage sein werden, den Ausfall der USA als Unterstützer aufzufangen, wird sich zeigen. Können sie es nicht, und die ukrainische Führung muss eine vom Kreml diktierten Kapitulation unterzeichnen, so ist unmittelbar mit zweierlei zu rechnen: einer gewaltigen Migrationsbewegung aus der Ukraine in Richtung Westen und einem neuerlichen Ausbruch der Kriege auf dem Balkan, weil einige politische Führer dann dem Vorbild Putins als erfolgreichem Verschieber von Grenzen folgen werden. Der serbische Präsident Vućič dürfte der Erste sein, der mit einer Politik der gewaltsamen Revision beginnen wird. Das Wiederaufflammen der Kriege auf dem Balkan wird die auf West- und Mitteleuropa zukommenden Migrationswelle noch einmal erheblich vergrößern. Ob die EU das politisch überlebt, ist eine offene Frage. Und dass die NATO den Rückzug der USA aus Europa und dessen katastrophale Folgen überstehen wird, ist eher unwahrscheinlich.Sollte dieses Worst-Case-Szenario eintreten, bewahrheitet sich, wovor einige Beobachter schon früh gewarnt haben: dass es im Ukrainekrieg um mehr, um sehr viel mehr, geht als nur um die Frage, ob nun Teile der Ost- und Südukraine zu Russland gehören oder bei der Ukraine verbleiben werden. Als einen bloßen Regionalkrieg haben es jene gesehen, die im Frühjahr und Sommer 2022 mit Parolen durch Berlin zogen, die besagten, dass „dieser Krieg nicht unser Krieg“ sei, die Deutschen sich darum entweder heraushalten oder die ukrainische Regierung zu weitreichenden Konzessionen an Russland drängen sollten, etwa durch die Verweigerung jedweder militärischer Unterstützung. Tatsächlich war, was sich am 24. Februar 2022 und danach ereignete, mehr als eine „Zeitenwende“, wie Olaf Scholz es wenige Tage danach in einer Regierungserklärung formulierte, sondern ein „Zeitenbruch“ – ein Begriff, den der frühere Außenminister Joschka Fischer bald danach ins Spiel gebracht hat, der sich aber nicht durchzusetzen vermochte.Der Krieg bekann mit der Krim, Donezk und Luhansk Um den Bruch der Weltordnung nachzuvollziehen, muss man auf die Vorgeschichte des Krieges schauen, wobei als erstes die Frage im Raum steht, wann dieser Krieg eigentlich begonnen hat: Für die Mehrheit der EU-Europäer, zumal der Deutschen, begann er am 24. Februar 2022 mit dem russischen Angriff, in dessen anfänglichem Verlauf große Teile des angegriffenen Landes besetzt wurden. Für die meisten Ukrainer dagegen hatte er bereits mit der Besetzung und Annexion der Krim sowie der Schaffung von Separatistengebieten in den Oblasten Donezk und Luhansk begonnen. Russland tat damals so, als habe es mit all dem nichts zu tun. Allenfalls sei es um den Schutz der russischen Bevölkerung in der Ostukraine besorgt. In den zwei Minsker Abkommen haben sich die Europäer, namentlich die französische und die deutsche Regierung, auf dieses russische Narrativ eingelassen, um ein Einfrieren der bewaffneten Konflikte in der Ostukraine zu erreichen. Das war eine Politik des Appeasement, bei dem man den Russen in der Erwartung entgegenkam, sie durch politische Zugeständnisse saturieren zu können. Wie so oft in der Geschichte, hat dieses Entgegenkommen den Hunger der revisionistischen Macht nicht gesättigt, sondern ihr neuen Appetit gemacht.Das militärische Zündeln des Kremls von 2014 und die Verhandlungen von Minsk hatten ihrerseits ein Vorspiel, das im hybriden Krieg Russlands gegen die Ukraine bestand: in Desinformationskampagnen, Cyberangriffen auf die ukrainische Infrastruktur und fortgesetzten Einmischungen der russischen Politik in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Dahinter standen, wie heute klarer zu erkennen ist als damals, das geostrategische Interesse Russlands, über einen ungehinderten Zugang zum Asowschen und zum Schwarzen Meer zu verfügen, wie das zu Zarenzeiten und denen der Sowjetunion der Fall war. Dazu mussten der Kreml die Ukraine in seine Botmäßigkeit bringen. Die Folgebereitschaft der Ukraine aber war seit den beiden Maidan-Aufständen fraglich. Also musste man mit einem militärischen Vorgehen rechnen, wie es Putin Georgien gegenüber bereits im Jahre 2008 praktiziert hatte.Welche Möglichkeiten hätte die Ukraine damals gehabt, Putin von einem solchen Vorgehen abzuhalten? Eigentlich keine, denn das Land hatte auf der Grundlage des Budapester Memorandums von 1994 die Atomwaffen mitsamt den Trägersystemen, die sich beim Zerfall der Sowjetunion auf seinem Gebiet befanden, an Russland abgetreten, und das nicht zuletzt auf westlichen Druck hin. Vor allem die USA wünschten damals, dass durch den Zerfall der Sowjetunion nicht an die Stelle einer einzigen Atommacht vier Atommächte treten würden. Außer Russland wären das Belarus, Kasachstan und vor allem die Ukraine gewesen.Im Gegenzug für die Abgabe der Atomwaffen garantierten in besagtem Budapester Memorandum neben Russland auch die USA und Großbritannien die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen. Zwei Jahrzehnte später musste die Ukraine feststellen, dass die Unterschriften der drei Garantiemächte nichts wert waren: die Russland sowieso nicht, aber auch die der USA und Großbritannien nicht.Verschiebung der globalen OrdnungBeide überließen die Konfliktbearbeitung den Deutschen und Franzosen, die auf eine Politik des Appeasement setzten. Bereits zuvor, im Jahre 2008 in Bukarest, hatten die NATO-Staaten den Aufnahmewunsch der Ukraine ins westliche Verteidigungsbündnis auf die lange Bank geschoben: Man wollte vermeiden, eine direkte Grenze mit Russland zu haben, um im Kreml kein Gefühl des Eingekreistseins entstehen zu lassen. – Man kann also nicht sagen, die Ukraine sei vom Westen in den ersten dreißig Jahren ihres Bestehens aufmerksam und zuvorkommend behandelt worden. Ganz im Gegenteil. Um so erstaunlicher ist, wie das Narrativ von der Bedrängtheit Russlands durch eine ihm ständig näherkommende NATO aufkommen und sich ausbreiten konnte. Russische Desinformationskampagnen und europäische Bequemlichkeit haben hier zusammengespielt.Aber warum ist der Ukrainekrieg eine politische Zäsur mit globalen Folgen – und nicht nur ein regionaler Krieg, der irgendwann auch wieder zu Ende gehen wird? Erstens, weil es ein Angriffskrieg ist, der nun ins dritte Jahr geht, ohne dass die Vereinten Nationen effektive Anstrengungen zu seiner umgehenden Beendigung unternommen hätten. Die Charta der UNO ist damit desavouiert, auch wenn Russland sich mit der Umetikettierung des Angriffs zu einer „speziellen Militäroperation“ einige Mühe gemacht hat, die Begriffe von „Krieg“ und „Angriff“ zu vermeiden. Die UNO ist damit ein weiteres Mal unterhalb der an sie gerichteten Erwartungen geblieben. Sie schützt niemand, der sich nicht selbst zu schützen vermag. Zweitens ist der Konflikt eine Zäsur, weil die gravierende Verletzung des Budapester Memorandums der Nonproliferation von Nuklearwaffen und erst recht dem Projekt einer atomwaffenfreien Welt den Todesstoß versetzt hat: Wenn man sich nicht einmal auf die Sicherheitszusagen der USA verlassen kann, dann spricht in der Logik der Bedrohten alles dafür, eine eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit aufzubauen, die jedem Angreifer untragbare Verluste abverlangt. Diese Lehre aus dem Bruch des Budapester Memorandums wird in den nächsten Jahren mit Sicherheit weitreichende Folgen zeitigen. Und drittens, weil, wenn Putin beim Verschieben von Grenzen erfolgreich sein sollte, dies für Akteure mit ebenfalls revisionistischen Zielen ein Vorbild sein wird, was eine Häufung von zwischenstaatlichen Kriegen zur Folge haben dürfte. Letzteres wird nur zu vermeiden sein, wenn Russland am Ende des Krieges mit leeren Händen dasteht. Doch danach sieht es zurzeit nicht aus.Eigentlich sollte das Führen von Kriegen durch das Anrufen internationaler Schiedsgerichte abgelöst werden Mit dem Ukrainekrieg, wie er seit Ende Februar 2022 geführt wird, sind wir in eine politische Welt hineingeraten, in der autoritäre Akteure leicht zu dem Ergebnis gelangen können, dass Krieg sich lohnen würde. Dass dem nicht so sei, war eine Überzeugung, die zu den unverzichtbaren Grundlagen der regelbasierten, wertegestützten Weltordnung gehörte. Mit deren Entfaltung sollte die Relevanz militärischer Macht immer weiter schwinden und die Führung von Kriegen durch die Anrufung internationaler Schiedsgerichte abgelöst werden sollte. Das war zumindest die europäische Vision einer neuen Weltordnung, wobei hinzuzufügen ist, dass eine solche globale Ordnung auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten Europas zugeschnitten war. Dass das bei den anderen ebenfalls so sei, war, wie wir heute wissen, eine riskante Annahme.Das alles ist inzwischen Vergangenheit, und auf solche Erwartungen und Hoffnungen können wir nur noch melancholisch zurückblicken. Das ist um so bitterer, als die Europäer noch nie so nahe an der politischen Verwirklichung der Kantschen Ideen zur Errichtung einer verlässlichen Friedensordnung waren, wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. An die Stelle Kants ist inzwischen wieder der spätrömische Militärschriftsteller Vegetius getreten, von dem die Formel stammt, dass, wer den Frieden wolle, den Krieg vorbereiten müsse – eine politische Paradoxie, der wir eigentlich entkommen zu sein gehofft hatten. Nun müssen wir uns anstrengen, auf einen Krieg vorbereitet zu sein, um ihn verhindern zu können.Gibt es eine begründete Aussicht, dass die Zeiten wieder friedlicher werden?Bereits jetzt hat der Ukrainekrieg weitere Kriege nach sich gezogen. Womöglich wäre es zu dem barbarischen Überfall der Hamas auf Israel auch ohne den Ukrainekrieg gekommen, aber vermutlich hätten die USA ohne ihn einen stärkeren Einfluss auf Israel gehabt, um dessen Kriegführung im Gazastreifen zu moderieren. Die harte Linie der israelischen Regierung hat wohl auch damit zu tun, dass sie den Einfluss der USA in der Region schwinden sieht. Eine vermutlich zutreffende Diagnose, denn die USA waren ja auch nicht in der Lage, durch bloße Drohgebärden die Huthis im Jemen von Angriffen auf Frachtschiffe im Roten Meer abzuschrecken. Wo Abschreckung versagt oder nicht gegeben ist, häufen sich die tatsächlich geführten Kriege. Der Ukrainekrieg war das Startsignal einer solchen Entwicklung, und die wird uns in den nächsten Jahren in Atem halten.Gibt es eine begründete Aussicht, dass sich das ändert und die Zeiten wieder friedlicher werden? Wie könnte eine Weltordnung aussehen, die im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts für größere politische Stabilität sorgt und zugleich sicherstellt, dass die großen Menschheitsaufgaben, von der Begrenzung des Klimawandels bis zu einem sorgsamen Umgang mit knappen Ressourcen, effektiv bearbeitet werden? Die USA waren zuletzt mit der Aufgabe eines „Hüters“ der globalen Ordnung überfordert und haben sich allzu oft als deren „Herr“ begriffen. Schließlich wollte ein Großteil der amerikanischen Bürger die Kosten und Lasten nicht mehr tragen, für globale Güter zu sorgen, von denen auch all jene profitierten, die dazu wenig bis nichts beitrugen. Trumps Parole „America first“ war die Abwendung der USA von den Aufgaben eines Hüters der Weltordnung. Aber eine regelgebundene und wertegestützte Ordnung ist nun einmal auf einen Hüter angewiesen, der für die Beachtung der Regeln sorgt und die Orientierung an den Werten anmahnt – auch wenn er sich selbst keineswegs immer daran hält. Ohne Hüter keine solche Ordnung.Es wird keinen einheitlichen Wertehorizont mehr, sondern eine Koexistenz der Wertesphären geben Aus dem Scheitern der nach dem Ende der Bipolarität entstandenen Weltordnung erwachsen zwei zentrale Konsequenzen. Erstens: Es muss eine Ordnung von Mehreren sein, die sich die Sorge um die common goods teilen, und es wird, zweitens, eine Ordnung sein, in der es keinen einheitlichen Wertehorizont gibt, sondern mehrere Wertesphären, die nebeneinander stehen. Eine gewisse Indifferenz der Werte ist die Voraussetzung für die wechselseitige Anerkennung dieser Vormächte einer globalen Ordnung. Auf dieser Grundlage sollte es möglich sein, nicht nur zu einem friedlichen Nebeneinander der Vormächte zu gelangen, sondern auch sicherzustellen, dass sie sich auf Regeln verständigen, die dann tatsächlich eingehalten werden.Dabei ist dafür zu sorgen, dass Regelbrecher und Verbotsverletzer aus ihrem Tun keine Vorteile beziehen, sondern nur gravierende Nachteile haben. Genau das war zuletzt nicht mehr der Fall, und schon gar nicht, wenn es ein großer Akteur war, der mit den Regeln kegelte.Am ehesten dürfte eine Ordnung der fünf Vormächte diesen Vorgaben genügen. In jedem Fall dürften bei Fünfen die Aufgaben der globalen Ordnung auf so viele Schultern verteilt sein, dass sie tragbar sind und nicht mit einem Protest der eigenen Bevölkerung gegen die Übernahme dieser Aufgaben zu rechnen ist. Zugleich muss der Platz im „Direktorium der Weltordnung“ so attraktiv sein, dass hinreichend Anreize bestehen, ihn einzunehmen und sich nicht auf einen der hinteren Plätze zu verabschieden. Vor allem aber dürfte im Fall des Regelbruchs einer der Vormächte eine gegen sie gewandte 4:1-Konstellation hinreichend sein, um Regeltreue sicherzustellen. Die „Höchststrafe“ besteht darin, dass der fragliche Akteur aus der Gruppe der Fünf ausscheidet und durch einen anderen ersetzt wird. Das alles spricht dafür, dass es sich um fünf – und nicht mehr, aber auch nicht weniger – Mächte handelt, die mit den Aufgaben der Hüter betraut sind. Es ist jedoch keine starre Ordnung, bei der ein für allemal feststeht, wer dazugehört und wer nicht. Auch in den Pentarchien der europäischen Geschichte hat sich die Gruppe der Vormächte immer wieder neu zusammengesetzt.Die Alternative zu dieser Hierarchie ist eine die Anarchie der StaatenweltWer würde nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge diesen Fünfen zugehören? Auf jeden Fall die USA und China, daneben wohl auch Russland und, wenn sie es schafft, von einem umtriebigen Regelbewirtschafter zu einem politisch handlungsfähigen Akteur zu werden, die Europäische Union sowie schließlich als Repräsentant des globalen Südens Indien. Vorerst dürfte es zwei Bänke geben: die der demokratischen Mächte – USA und EU – und die der Autoritären – Russland und China – sowie die Position eines „Züngleins an der Waage“, die Indien einnehmen könnte. Neben diesen Fünfen gibt es eine zweite und dritte Reihe, in denen alle anderen sitzen. Sie sind alles andere als einflusslos, weil die Vormächte unter ihnen um Unterstützung nachsuchen und sie entsprechend umwerben. Das wird aber nur funktionieren, wenn sie darauf verzichten, die Einhaltung bestimmter Werte zur Voraussetzung einer Zusammenarbeit zu machen.Das fällt den autoritären Mächten leichter als den Demokratien, die freilich, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen, ebenfalls Zurückhaltung üben müssen. Man kann in den gegenwärtigen Konstellationen bereits die Umrisse einer solchen Weltordnung erkennen, aber es wird noch längere Zeit dauern, bis sie politische Wirkung entfalten kann. Die Alternative zu dieser Hierarchie ist die Anarchie der Staatenwelt. Das aber hätte eine Fortdauer der Kriege zur Folge mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann zu einem Atomkrieg kommen wird.
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