Durchhalteparolen ersetzen keine Politik, doch nach zwei Jahren russischem Angriffs- und ukrainischem Verteidigungskrieg stellt sich ein anderer Eindruck ein. Russland hat Normen des Völkerrechts verletzt, was zu Recht Empörung und Widerstand hervorgerufen hat. Nur leider geht dabei zusehends der Blick für politische Initiativen verloren, die mit Realismus und Pragmatismus einen Ausweg aus der Lage bieten. Das sicherheitspolitische Establishment des Westens überbietet sich geradezu mit Solidaritätsbekundungen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, dass sich zentrale Fragen – etwa die Vorgeschichte des Konflikts, die Sinnhaftigkeit von Waffenlieferungen, die militärische Lage, die Eskalationsrisiken und Verhandlungsansätze – sehr unterschie
hiedlich bewerten lassen. Auch das soeben unterzeichnete „Sicherheitsabkommen“ zwischen Deutschland und der Ukraine ist ein Signal der Entschlossenheit, liefert aber kaum realistische Lösungswege und bietet keinerlei Perspektive für Verhandlungen.Die westliche Strategie zielt darauf ab, die Verhandlungsposition der Ukraine durch Erfolge auf dem Schlachtfeld zu verbessern. Das ist völkerrechtlich legitim und moralisch verständlich. Sicher ist jedoch, dass die mit unrealistischen Erwartungen verbundene Offensive der Ukraine im Vorjahr gescheitert ist und stattdessen deren Armee an der Front schwer unter Druck steht. Zugleich hat aktuell keine Seite die Fähigkeit, einen schnellen militärischen Sieg über die andere zu erzielen: Russland nicht, weil massiver Beistand des Westens die Ukraine unterstützt, und die Ukraine nicht, weil Russland weiterhin ein hohes Durchhaltevermögen und die Eskalationsdominanz vorweisen kann. Das ist angesichts der düsteren Prognosen der ersten Kriegswochen durchaus ein Erfolg für die Ukraine, freilich einer, der mit hohen Opferzahlen, erheblicher Zerstörung des Landes und vollkommener Abhängigkeit von externer politischer, finanzieller und militärischer Hilfe verbunden ist.Kriegserfolge sind relativDie entstandene Pattsituation ist womöglich geeignet, Vorspiel für ein Szenario zu sein, bei dem der Krieg in der Ukraine in einen Krieg um die Ukraine umschlägt – und damit in eine direkte Konfrontation zwischen der NATO oder einzelnen NATO-Staaten und Russland münden kann. Dies wäre einerseits bei einem Sieg der Ukraine denkbar, wenn Russland in einer solchen Lage tatsächlich bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen eskaliert. Andererseits wäre ein ausufernder Konflikt ebenso bei einem sich abzeichnenden Sieg Russlands vorstellbar. Dann ließe sich zumindest nicht ausschließen, dass einzelne NATO-Staaten der Ukraine mit eigenen Soldaten zu Hilfe kommen, um deren kompletten Zusammenbruch zu verhindern.Aus diesen Überlegungen folgt, dass es keine verantwortbare Alternative zu Verhandlungsinitiativen gibt, die auf präventive Eskalationsverhinderung bedacht sind. Dass diese monumentalen Schwierigkeiten gegenüberstehen, die selbst bei gutem Willen nicht einfach beiseitezuräumen wären, ist richtig. Weder Russland noch die Ukraine wollen derzeit verhandeln. Aber die gängige Annahme, nach der Kriegsparteien der Aufnahme von Friedensverhandlungen nur dann zustimmen, wenn die Zeit dafür „reif“ ist – sie also selbst erkennen, in einem für beide Seiten schädlichen Patt auf dem Schlachtfeld gefangen zu sein –, greift dennoch zu kurz. Dagegen sprechen allein die einst weit gediehenen Istanbul-Verhandlungen vom März 2022, die eine Neutralität der Ukraine und einen Rückzug der russischen Invasionstruppen auf Positionen vor dem 24. Februar 2022 vorsahen. Das Scheitern dieser Annäherung ist bis heute nicht vollständig ergründet. Ernsthafte Verhandlungen müssten von den Zielen beider Seiten ausgehen. Die ukrainischen bestehen im vollständigen Rückzug der russischen Truppen, der Bestrafung von Kriegsverbrechern und Reparationszahlungen sowie in einer raschen Integration in NATO und EU.Die russischen sind weniger eindeutig und umfassen neben der Verhinderung eines ukrainischen NATO-Beitritts entweder den Sturz der ukrainischen Regierung oder aber die Annexion der im September 2022 zu russischem Staatsgebiet erklärten vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson plus der bereits in die Russische Föderation eingegliederten Krim. Eine aus Sicht der Konfliktparteien definierte Ideallösung ergäbe sich nur, wenn sie ihre Interessen jeweils vollends durchsetzen würden, was nicht der Realität entspricht. Weder kann Russland die gesamte Ukraine unterwerfen, noch ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass die Ukraine all ihre Territorien von russischer Besatzung befreit. Wer sich dann die „ukrainische Friedensformel“ vorbehaltlos zu eigen macht, der lässt den nüchternen Blick für das Machbare vermissen – der stellt weder die weiter absehbar hohen Opferzahlen noch die politischen und militärischen Eskalationsrisiken noch die tatsächliche Erreichbarkeit der Ziele hinreichend in Rechnung. Die ukrainische Friedensformel ist in gewisser Weise eine gesinnungsethische Maximalposition und utopische Siegesformel, aber keine durchsetzungsfähige Strategie.Notwendig wären vielmehr – auf der Basis einer klaren politischen Verurteilung des russischen Verhaltens – Überlegungen und Optionen für eine Waffenruhe, die auch stärker an die bisherigen diplomatischen Initiativen aus anderen Teilen der Welt anknüpft. Dies bedeutet keineswegs, „einen Diktatfrieden auf Geheiß Moskaus“ (Kanzler Scholz) zu akzeptieren. Allerdings wäre etwa ganz anders über die komplexe Frage von Sicherheitsgarantien als in den bisherigen Sicherheitsabkommen zu verhandeln. Garantien müssen natürlich wirksam sein, damit sie für die Ukraine akzeptabel sind, aber auf keinen NATO-Beitritt durch die Hintertür hinauslaufen, wenn sie Russland akzeptieren soll. Ein anderes Beispiel sind die höchst brisanten Fragen territorialer Veränderungen. Selbstverständlich wäre es inakzeptabel, Russland quasi en passant einen Teil der Ukraine zu überlassen und damit das Ziehen neuer Grenzen per militärischer Gewalt zu belohnen. Deshalb sind Ideen überlegenswert, wie territoriale Fragen im Konsens der Beteiligten entschieden werden können, etwa in Form von international beaufsichtigten Referenden.Das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses kann niemand vorhersagen, aber eine „Erst muss die Ukraine gewinnen, und dann ‚Schaun wir mal‘“-Strategie ist nicht zielführend. Wer eine Lösung will, der muss Russlands rote Linien beachten – oder auf eine russische Niederlage setzen und ein Preisschild drankleben. Eine politische Lösung kann nicht nur auf Gerechtigkeit achten. Sie muss auch Schadensbegrenzung betreiben, Stabilität und ein Austarieren konkurrierender Interessen fördern. Wenn Verhandlungen vorausschauend eine Eskalation verhindern sollen, gilt es zu erkennen, dass sich die Grundlagen des Konflikts in den kommenden Monaten und Jahren nicht positiv verändern werden. Die Kosten des Krieges hingegen dürften sich mit jedem weiteren Tag vervielfachen und können rasch außer Kontrolle geraten. Verhandlungen sind voraussetzungsreich, mühsam und ohne Erfolgsgarantie. Die Lösung auf dem Schlachtfeld zu suchen, ist keine verantwortbare Alternative.Placeholder authorbio-1