Klänge, die es geben wird und gegeben hat

Maerzmusik 2017 Ein Konzert mit Werken von Peter Ablinger, Georg Friedrich Haas und Jennifer Walshe

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Was die Stücke des Konzerts am vorigen Sonntag miteinander zu tun hatten, liest sich in der Programmvorschau so: dreimal das Arditti-(Streich-)Quartett, das uns „von geräuschlosen bewegten Bildern zu lichtlosen Klängen [führt]“, um zu „[gipfel[n]] in ‚Everything is important‘, Jennifer Walshes neuer Komposition – einem Feuerwerk für alle Sinne“. Oberflächlich traf das zu, denn das erste Stück war tonlos, das zweite hörte man in Dunkelheit an und das dritte war so mit Reizen überladen, dass es manchen zu viel wurde. Aber ich würde sagen, die drei Stücke hatten gar nichts miteinander zu tun, und auf jeden Fall würde man die ersten beiden unter Wert einschätzen, sähe man in ihnen die Darbietung eines Hungers und im dritten, dass er gestillt würde. Einzeln waren die Stücke interessant.

Was Peter Ablinger sein 2. Streichquartett nennt (2009/2013), ist ein vier Minuten langes Video, in dem ein entsprechendes Ensemble nichts spielt. Von drei Spielenden ist zu erkennen, was sie sind, es sind Frauen mit Kopftüchern, iranische offenbar, da das Programm mitteilt, das Video sei „in der Wüste des Iran gedreht“ worden. Weshalb von einer „Wüste“ gesprochen wird, erschließt sich mir nicht, aber egal. Die Spielenden sitzen vor einem Baum, hinter dem sich ein weiter Rasen mit wunderbar hohem, ganz leicht bewegtem Gras auftut und am Horizont sind wohl noch Wälder zu sehen – es könnte Brandenburg sein in der typischen Pan-Stille des Sommers. Während man drei Frauen ins Gesicht schaut, ist bei der vierten Person - die das Cello hält - unklar, ob es auch eine Frau ist; eine dunkle Kapuze verdeckt ihre Züge. Die Vier scheinen im Begriff, das Spiel zu beginnen, tun es aber nicht. Ihre Bögen schweben in der Luft über den Instrumenten. Wenn nicht hin und wieder eine Frau ihre Augenlider schlösse, könnte man im Unklaren sein, ob es sich nicht um ein Foto vor dem Hintergrund eines Videos handelt.

Natürlich lässt Ablingers Stück an 4:33 von John Cage denken (1952), dieser ersten ton- und geräuschlosen Musik, der es sich sogar in der Dauer annähert. Doch lässt es nicht nur daran denken, sondern könnte geradezu eine Realisation von 4:33 sein. Denn wie Cage in der Partitur festlegt, hat seine Komposition die jeweilige Dauer der Aufführung zum Titel – 4:33 wird sie nur genannt, weil sie in der Uraufführung, wo ein Pianist sie (nicht) spielte, so lange gedauert hat – und kann sie von jeder Anzahl und Kombination von Instrumenten gespielt werden, also auch von einem Streichquartett. Dass sie nicht im Konzertsaal gespielt werden muss, hat er nicht ausdrücklich gesagt, aber man darf es wohl ergänzen. Warum hat Cage das komponiert? Er sagt, er habe in einem schalltoten Raum Klänge gehört und dabei gedacht: „Bis ich sterbe, wird es Klänge geben. Und diese werden meinen Tod überdauern. Man braucht keine Angst um die Zukunft der Musik zu haben.“

Vielleicht spricht das Programm deshalb von einer iranischen Wüste, weil Cage sein Erlebnis im schalltoten Raum hatte? Doch der Iran ist alles andere als schalltot, auch wenn sich sein Klang in unseren Medien kaum niederschlägt.

Zum 10. Streichquartett von Georg Friedrich Haas (2016) setzten sich die vier Spieler des Arditti-Quartett kreisförmig zueinander, die Rücken gegen das Publikum gewandt, dann wurde das Licht ausgeschaltet. Schon sein 3. Streichquartett, das in der MaerzMusik vor zwei Jahren aufgeführt wurde, war für nachtblinde Augen geschrieben, nur dass die Spieler damals in den vier Ecken des Saals saßen und ihre Musik angeblich improvisiert war, was diesmal nicht behauptet wurde und auch ganz unwahrscheinlich gewesen wäre. Auch hatten damals Zettel ausgelegen: „Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass das Konzert in völliger Dunkelheit stattfindet. Wenn Sie Hilfe brauchen, machen Sie sich durch Rufe bemerkbar“ - darauf wurde diesmal verzichtet. Es war eine sehr schöne Musik, die in der Dunkelheit deshalb gut aufgehoben war, weil sie offenbar die Erinnerung und zwar natürlich die musikalische zum Thema hatte.

Erinnerung kann man nicht sehen, außer in Traumbildern. Wenn man sie sichtbar oder hörbar macht, kann das auf zweierlei Art geschehen. Die erste Art ist das, was die Komponisten zu tun gewohnt waren: Sie haben wörtliche oder meist abgewandelte Zitate vorausgegangener Musik in ihre eigene geflochten. Man muss hier nochmals unterscheiden: Es gab tatsächlich Zitate, die als solche erschienen, zuletzt noch die Bachmusik in Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“; ansonsten wurden die aufgegriffenen Stellen aber mehr wie Buchstaben behandelt, deren Integration ins Eigene so weit ging, dass die Herkunft kaum noch entdeckt werden konnte, in vielen Fällen sicher nicht einmal von den Komponisten selber. Ob zum Beispiel Robert Schumann gewusst hat, dass der Anfang seiner achten Novelette fis-moll an das Kyrie von Bach erinnert (vgl. Gerhard Herrgott, Inter vall. Kinder- und Männerszenen von Robert Schumann, in Hans-Jörg Rheinberger u.a. [Hg.], Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 325-338)?

Die zweite Art, Erinnerung darzustellen, besteht darin, dass man nicht nur sie selbst sondern auch die zeitliche Entfernung darstellt, in der das Erinnerte zum Erinnernden steht. Das tut selbst der Traum nicht, aber Haas tut es und so sind es verschwommene Klänge, die er aus der Vergangenheit aufsteigen lässt. Die Erinnerung ist ungenau wie im wirklichen Leben, nur dass man es dort nicht immer bemerkt. Hier erinnert sich atonale Musik an tonale. Diese macht sich an einer Stelle als solche bemerkbar, wird also richtig (aber ungenau und verschwommen) zitiert, beginnend mit einigen tonal wirkenden Schlusstönen; man glaubt schon, sie sollten das Werk beschließen, doch leiten sie nur diese Zitatpassage ein. Anderswo ist das Tonale in den atonalen Hintergrund fast ununterscheidbar eingewoben, und es gibt auch rein atonale Passagen, so gleich zu Beginn, wo chromatische Bögen sich gegenläufig bewegen und einander kreuzen. Wichtig sind die Pausen, in denen gar nichts geschieht: Die Erinnerung kommt, wann sie will, man kann dass sie aufsteigt erbitten doch nicht befehlen.

In Everything is Important für Stimme, Streichquartett und Film von Jennifer Walshe (2016), die selber als Stimme auf der Bühne stand, spielt das Streichquartett nur eine untergeordnete Rolle oder bestenfalls eine gleichberechtigte; als untergeordnet empfindet man es, weil es im Vergleich zur Stimme und zum Film wie ein Pol der Besonnenheit wirkt, der sich aber nicht durchsetzt. Die Komposition im Ganzen ist extrem nervös und soll es offenbar sein, es ist das ihr Hauptinhalt; wenn im Programm zu lesen ist, es ginge „um Technologie, Umweltkatastrophen und wirtschaftliche Ungleichheiten“ und auch ein „Blick auf das Tempo und die Gleichzeitigkeit unserer mediatisierten Realität“ werde geworfen, so würde ich sagen, dass eigentlich nur das Letzte geschieht, ganz so, wie es sich im Titel niederschlägt. Die Bilder des Films sind mit großer Kunst montiert, folgen aber so (absichtlich) wirr aufeinander, dass es keinen Sinn hätte, über sie nachzudenken. Man sieht viel Wasser und Weltraum und auch sonst noch allerlei - am Wichtigsten dürften die Einblendungen von Pillen, wahrscheinlich Beruhigungspillen sein für uns arme Zeitgenossen, die der „Reizüberflutung“ ausgesetzt sind.

Ein entsprechendes Durcheinander richtet Walshe selber mit ihrer Stimme an und auch da hätte es sich kaum gelohnt, dem Einzelnen zuzuhören. Doch diese Stimme ist es, die das inhaltlich triviale Werk zum Erlebnis macht. Was Walshe alles heraussprudelt in der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrfeuers, wie sie zwischendurch in einen sentimentalkitschigen Gesang verfallen und dann wieder im Alltagsgeknautsche des US-Bürgergesprächs fortfahren kann, auch einmal minutenlang in verschiedenen Graden von Hysterie „Shut up!“ schreit, und wie sie das mit ihren Gesten begleitet, das ist schon atemberaubend. Es ist eigentlich ein Popkonzert und sie selbst eine Popkünstlerin, die mit den E-Einwürfen des Streichquartetts aber gut harmoniert. Ein Sinnerlebnis war’s weniger, muss ja auch nicht immer sein, aber Spaß hat’s (den meisten, auch mir) gemacht; diskutiert haben wir hinterher darüber, ob die Stimme live war oder vom Tonband kam und Walshe auf der Bühne nur die Gesten ergänzt hat. Ich nahm das Letztere an, denn ich kann mir schlicht nicht vorstellen, dass irgendwer die Gesamtperformance, in der alle kleinsten Details stimmten, über ein Dreiviertelstunde durchzuhalten imstande wäre. Die Freundin, mit der ich redete, meinte aber, ich hätte gar keine Ahnung, was Frauen alles könnten.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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