Kritische Fragen zum Ansatz von Clark (2)

Christopher Clark Verstehen wir den Ersten Weltkrieg, wenn wir seinen Anlass nicht von seinen Ursachen unterscheiden?

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Anlass und Ursache

Was aber ist speziell von den Kategorien "Anlass" und "Ursache(n)" zu halten? Ein Misstrauen gegen sie könnte trotz allem berechtigt sein. Wenn wir die Kategorien da aufgreifen, wo sie beim antiken griechischen Historiker Thukydides erstmals begegnen, sehen wir schnell das Problem. Sogar durch zwei problematische Züge machen sie sich auffällig. Das erste Problem erhellt aus der Formulierung, mit der sie von Jacob Burckhardt umschrieben werden: "Der eigentliche, große Fortschritt [...] über Herodot und alle frühern Griechen und alle alten Nationen hinaus liegt in der Subsumption der Ereignisse oder Phänomene unter allgemeine Gesamtbeobachtungen." (Griechische Kulturgeschichte Bd. III, München 1977, S. 414) Tatsächlich erscheint der Anlass bei Thukydides als Grund, der in einer Hierarchie von Gründen an unterster Stelle steht. Ein solches Modell wird man heute nicht mehr goutieren. Niemand glaubt noch, der Geschichtsverlauf sei hierarchisch strukturiert.

Auf das zweite macht Christian Meier aufmerksam: "Man hat die Unterscheidung zwischen Anlass und Ursache des Krieges" - nämlich des Peloponnesischen Krieges, den Thukydides als ein Geschehen darstellt, in das Athen verwickelt gewesen, an dem es aber nicht schuld sei - "immer bewundert und als eine der großen Erkenntnisse historischer Wissenschaft gefeiert. Mit Recht. Doch bedarf sie im einzelnen der Interpretation, damit nicht der Eindruck entsteht, damals habe es keine Freiheit des politischen Handelns gegeben, sondern der Weg zum Krieg sei zwangsläufig gewesen." "Denn, so schrieb er, 'für den wahrsten Grund, der freilich am meisten unsichtbar war im Reden der Menschen, halte ich den Machtzuwachs der Athener und die Furcht, die sie den Spartanern einjagten, so dass sie diese zwangen, den Krieg zu eröffnen'." Thukydides, der Athener, macht es sich leicht: Die Forderung Athens, die korinthische Kolonie Potidäa müsse ihre Mauern schleifen, damit Athen sie gegebenenfalls angreifen könne - eine Forderung, die dem Völkerrecht widersprach (den geltenden innergriechischen Verträgen) -, zieht er als "wahrsten Grund" nicht in Betracht. Auch nicht Athens mangelnde Bereitschaft zu auch nur, so Meier, "geringfügigen Zugeständnissen" beim nachfolgenden Streit mit Sparta. (Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1997, S. 522 f.)

Beide Probleme kehren wieder bei der Historiografie des Ersten Weltkriegs. In sie genau will sich Clark nicht verstricken. "Das Attentat in Sarajevo wird in vielen Darstellungen als reiner Vorwand behandelt", kritisiert er zum einen (Die Schlafwandler, S. 15) und weigert sich, in erster Linie "nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen: Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Bündnisse, Hochfinanz, Vorstellungen der nationalen Ehre, Mechanismen der Mobilisierung." Worin sieht er das Problem? "Der 'Warum-Ansatz' bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt." (S. 17) Zum andern beobachtet er die Akteure dabei, wie sie "eilends betonen, dass es zu dem eingeschlagenen Weg keine Alternative gegeben habe, dass der Krieg 'unvermeidlich' gewesen sei und folglich niemand ihn hätte verhindern können". Auch viele Historiker hätten so argumentiert, Clark lässt es nicht gelten: "Eventualitäten, Wahlmöglichkeiten und Urheberschaft werden aus dem Sichtfeld einfach ausgeklammert." (S. 468)

Indessen sind die Kategorien Anlass und Ursache an beide Probleme nicht wirklich gebunden. Der springende Punkt ist, dass sie in Wahrheit gar keine "Kausal"kategorien sind. Kausalität gibt es in der Natur - dem Fallgesetz zum Beispiel nicht unterworfen zu sein, ist nicht möglich, das ist Kausalität -, in der Menschheitsgeschichte gibt es sie nicht. Die Menschheitsgeschichte stützt sich, das stimmt, auf Handelnde mit "Wahlmöglichkeiten" oder geht durch solche wenigstens immer hindurch. Doch Clark sieht nicht, dass auch "Wahlmöglichkeiten" einen "ständig steigenden Druck erzeugen" können. Keinen "Kausal"druck zwar und eigentlich überhaupt keinen "Druck", denn auch diese Kategorie gehört der Physik an; dafür aber die Nötigung, eine objektiv vorhandene Fragestellung als solche zu bemerken, hinzunehmen und sich, irgendwie antwortend, zu ihr zu verhalten. Es ist ja gerade die Frage, die uns mit "Wahlmöglichkeiten" beglückt. Außerhalb ihrer kommen keine vor. Doch solche Möglichkeiten sind immer begrenzt. Auf die Frage, wie spät es ist, kann ich nicht "25 Uhr" antworten. Das heißt, wenn an dem Tag eine Rückzahlung fällig ist, habe ich zwar zwischen 0 und 24 Uhr diverse "Wahlmöglichkeiten", sie zu leisten, doch wenn ich das Geschäft auf "25 Uhr" verschiebe, bin ich geliefert. Es lässt sich einfach nicht leugnen, dass der "Druck", um bei dem Ausdruck zu bleiben, gegen 24 Uhr hin "ständig steigt".

Wenn es Prozesse, in denen sich die Wahlmöglichkeiten verringern, tatsächlich gibt, braucht man sich auch über Beteiligte nicht zu wundern, die behaupten oder wirklich zu sehen glauben, man habe überhaupt gar keine Wahl. In Wahrheit birgt eine gegebene Situation, die sich verengt und weitere Verengung erwarten lässt, immer wieder noch Auswege. Dass solche gesucht oder gar gefunden werden, wird freilich immer unwahrscheinlicher. Man kann sich dann aber noch entscheiden, die Prinzipien des Prozesses, der auf die Situation hinausgelaufen ist, als solche in Frage zu stellen. Statt zu bestreiten, dass es eng gewordene Situationen gibt, sollte man eher hervorheben, dass es immer möglich ist, mit Vernunft auf sie zu reagieren, eben indem man die Prinzipien des herbeiführenden Prozesses entdeckt (oder sich ihrer erinnert) und sie um besserer Prinzipien willen beseitigt. Clark, der es bestreitet, betont selbst die Überkomplexität der diplomatischen Verhältnisse. Er fragt aber nicht, ob nicht gerade sie das Zeichen eines Verengungsprozesses sein könnte. In diesem Fall gäbe es für sie ein Warum.

Wo man Anlass und Ursache(n) unterscheidet, unterscheidet man die Ursache(n) der Verringerung von Wahlmöglichkeiten in einem gegebenen Prozess von der dann "unter Druck" getroffenen Wahl, mit welcher der Prozess vielleicht früher abgebrochen wird als nötig gewesen wäre. Die Beteiligten brechen ab, weil sie "den Tropfen" zu sehen glauben, "der das Fass zum Überlaufen bringt", in welchem Bild die Behauptung, sie hätten keine Alternative mehr gehabt, schon enthalten ist. In Wahrheit haben sie einen Anlass ergriffen oder sich von ihm leiten lassen. Dass sie es taten, war von außen betrachtet schon wahrscheinlich geworden. So expliziert, ist an der Unterscheidung von Anlass und Ursache(n) nichts auszusetzen, sie ist im Gegenteil notwendig und es bleibt nur die Frage, wie Ursachen entdeckt werden können. Das gelingt dadurch, dass nach ihnen gefragt wird.

In der Frage nach ihnen sind sie bereits versuchsweise unterstellt und die Antwort nach vollzogener Untersuchung bestätigt entweder die Unterstellung oder zeigt, dass unzureichend gefragt wurde und anderes unterstellt werden muss. Schon die Anfangsunterstellung ist aus vorausgegangenen Untersuchungen gewonnen, "repräsentiert den Forschungsstand", es wird also nichts "Subjektives" von außen an die Sache herangetragen, aber dabei bleibt es, dass die Untersuchung nicht nur selber Wissen liefert, sondern dies unter Voraussetzung eines hiervon getrennten anderen Wissens, eben der Forschungsfrage tut. Wer nicht abstreitet, dass es Prozesse mit sich verringernden Wahlmöglichkeiten tatsächlich gibt, kommt mit Netzdenken allein nicht aus.

Die Forschungsfrage fragt nach Gründen: manchmal, wie gesagt, nach Gründen für Ereignis-Gesamtheiten. In diesem Fall muss sie auch nach dem Anlass fragen. Der Anlass ist ein Anfang in der Zeit. Zum Beispiel der Anfang Roms, oder auch eines Weltkriegs. Rom mag mit irgendeiner Stadt-Gründung begonnen haben, die erklärt aber nicht, was Rom war, warum es möglich war, dass etwas wie Rom entstehen konnte, und warum Rom über Jahrhunderte Bestand hatte. Bei Clark ist der Anlass das Einzige, er sagt es auch ausdrücklich: Das "Problem einer allzu großen Vorherbestimmtheit" dürfe nicht "durch eine zu geringe Bestimmtheit" ersetzt werden, "durch einen Krieg ohne jeden Anlass" - was im Umkehrschluss heißt, der Anlass, wenn man ihn nennen kann, ist als Bestimmtheit nicht zu gering. "So wichtig die Erkenntnis ist, dass dieser Krieg ohne Weiteres hätte vermieden werden können - und aus welchen Gründen -, muss diese Einsicht gewissenhaft mit einer Einschätzung, wie und warum es tatsächlich dazu kann, ausbalanciert werden." (S. 469) Was er hier "Gründe" nennt, ist damit deckungsgleich, dass die Akteure jede ihrer Einzelentscheidungen auch anders hätten treffen können. Die "Gründe" sind daher keine und es bedarf ihrer auch nicht. Wenn der Krieg weder absolut noch teilweise vorherbestimmt war, ist das ja selbst schon der tautologische "Grund" seiner Vermeidbarkeit.

Steinwürfe und Kreise

Clarks Netzdenken äußert sich darin, dass er Einzelpersonen, die irgendwie mächtig sind, charakterisiert und uns hauptsächlich die Interaktionen zwischen ihnen vorführt, sei's in den Machtzentren, sei's zwischen ihnen. Er zeigt uns die Reaktionen auf "Sarajevo", zunächst die österreichische und deutsche, dann die Reaktionen auf die Reaktionen, die serbische, die russische und französische, die britische, und so immer weiter bis in "die letzten Tage", wie das Schlusskapitel heißt, nachdem vorher ein Kapitel "Die Krise zieht immer größere Kreise" überschrieben gewesen war. Wo er auf die Vorgeschichte eingeht, ist es nicht anders. Akteure werfen Steine ins Wasser - verüben ein Attentat, besetzen Ägypten, kündigen den Rückversicherungsvertrag -, es entstehen Kreise, die Kreise breiten sich aus und überschneiden sich. Besonders "komplex" wird die Sache noch dadurch, dass in jeder Hauptstadt Akteure operieren, die auch unter sich mehr oder weniger zerstritten sind. In keiner damaligen Hauptstadt ordnen sich alle Minister einer jeweiligen Kabinettsdisziplin unter, sondern manche handeln auf eigene Faust und die eine Hauptstadt kann nicht sicher sehen, was die andere überhaupt will. Die Darstellung dieser Verworrenheit, durch welche es viel mehr Steinwürfe und Kreise gab als Hauptstädte, ist eine sehr wichtige Leistung von Clark.

Wir sehen dann zum Beispiel, auf wie fatale Art die bosnische Annexionskrise 1908 zustande kam. Österreich-Ungarn hatte Bosnien und die Herzegowina mit Zustimmung der europäischen Mächte schon länger besetzt gehalten. Auch noch bevor es die Gebiete dem Reich einverleibte, wurde der russische Außenminister um Zustimmung gebeten und der gab sie, ohne dass seine Kabinettskollegen davon wussten. Er bestritt es aber später unter dem Druck der russischen slawophilen Presse. Nun empörte man sich in Europa über Österreich-Ungarns Eigenmächtigkeit. Erst als Berlin andeutete, es könne die Dokumente der Zustimmung des russischen Außenministers veröffentlichen, sorgte dieser dafür, dass die Annexionskrise wieder abflaute. Der ganze Vorgang führte aber dazu, dass Österreich-Ungarn seitdem als deutscher Satellitenstaat wahrgenommen wurde. Entsprechend sahen die europäischen Mächte 1914 in Berlin den Hauptakteur der Julikrise, die sich an Sarajevo anschloss.

Doch dies Verfahren, so sehr es unsere Kenntnis differenziert, hat Grenzen. Die auffälligste ist, dass sich das Gewicht verschiedener Staatsapparate nicht mehr abschätzen läßt. Wie man weiß, ist das Gewicht des militärischen Apparats in den verschiedenen Staaten eine Hauptfrage. Clark wirft sie auch auf - es gibt einen Abschnitt "Soldaten und Zivilisten" -, doch in einer Art, die sie zerfallen lässt. Der Streit beider Gruppen "innerhalb der Regierungen" geht hauptsächlich um Geld, den Militäranteil am Staatshaushalt (S. 385), und geht jedesmal anders aus. Das Gewicht der Ratschläge von Stabschefs lässt sich selbst in Deutschland, wo Clark immerhin vom "prätorianische[n] Charakter des Systems" spricht, nicht abschätzen, man kann nur faktisch feststellen, dass sie "eindeutig phasenweise Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen [konnten], insbesondere in verschärften Krisenzeiten". Ansonsten lässt sich noch "die Wechselwirkung zwischen militärischer und ziviler Entscheidungsfindung" anhand der faktischen Vorgänge erkennen, wo das Pendel mal dahin, mal dorthin ausschlägt (S. 291 f.). Mehr aber nicht. Auf den ersten Blick, so Clark, sehe es zwar so aus, als seien die Militärs in Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn "dank ihres privilegierten Zugangs zum Souverän" in der Vorhand; doch "[a]uch in Großbritannien wurde die Vertiefung der Entente vom Militär vorangetrieben, nicht von Verhandlungen und Vereinbarungen unter Zivilisten" (S. 293 f.).

Nur wo es um Serbien geht, sieht man den Eigensinn der Apparate, weil er sich gleichsam von selbst zeigt. Da stand ja ein militärischer Apparat dem zivilen Regierungsapparat feindlich gegenüber - im Ziel, der serbischen Expansion, stimmten sie überein, nicht jedoch in den Mitteln - und gab es im militärischen Apparat eine Verschwörung, der es gelang, auch den Regierungsapparat teilweise zu durchdringen, was diesen vom Versuch, sich ihrer zu entledigen, nicht abhielt. Eine solche Situation konnte Clark natürlich nicht als Interaktion einzelner höchster Entscheidungsträger darstellen. Aber überall, wo militärischer und ziviler Apparat zusammenarbeiten, also überall sonst, kann und tut er es. Das hat zur Folge, dass Dinge den Anschein kontingenter Interaktions-Ereignisse annehmen, die in Wahrheit vielleicht auf das unterschiedliche Gewicht der Apparate in autoritären und demokratischen Systemen verweisen. Selbst Clarks Abhandlung der belgischen Frage weicht hiervon nicht allzu sehr ab. Wir lesen, dass sowohl die deutschen als die französischen Militärs im Fall des deutsch-französischen Krieges durch Belgien marschieren, also Belgiens Neutralität brechen und somit den britischen Kriegseintritt riskieren wollten. Aber nur in Deutschland setzten sie sich gegen die regierenden Zivilpolitiker durch. Clarks Neigung, dies so zu berichten, als hätte auch das Gegenteil passieren können, ist unverkennbar.

In Deutschland, lesen wir, sahen Generalstabschef Moltke und seine Untergebenen keine andere Möglichkeit als den belgischen Durchmarsch. Die zivile Führung setzte durch, dass man Belgien vorher um Zustimmung ersuchte, freilich in Form eines Ultimatums, was die Sache in Wahrheit noch verschlimmerte. Das klingt ja ganz plausibel, aber die französischen Militärs in ihren Planungen hatten auch keine andere Möglichkeit gesehen. "In Joffre", heißt es jetzt (S. 398 f.), "fand [Staatspräsident] Poincaré einen geeigneten militärischen Partner für sein eigenes strategisches Konzept. Freilich gab es auch einige Meinungsverschiedenheiten", darunter die belgische Frage. "Poincaré weigerte sich kategorisch, Joffres Vorschlag" einer Invasion Belgiens "in Betracht zu ziehen". Damit war zwar "eine klare Demonstration des Primats der zivilen über die militärische Autorität in der französischen Republik" erfolgt - hier also erfahren wir einmal, dass die Frage des Primats sich stellt -, doch nach dem, was Clark weiter oben ausgeführt hatte, müssen wir zweifeln, ob eine andere Begegnung zwischen anderen Männern nicht anders ausgegangen wäre. Wie er denn fortfährt, die Weigerung sei auch eine Demonstration "der Weitsicht Poincarés und seines Geschicks" gewesen.

Ein anderes Beispiel ist der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der unablässig den Präventivkrieg fordert. Er fällt dem Kaiser so sehr auf die Nerven, dass der ihn schließlich 1911 absetzt. Ja, aber 1914 ist er plötzlich wieder ein einflussreicher Mann. Es geschieht eben viel - so auch dass er eine verheiratete Frau auffordert, sich für ihn zu entscheiden, und ihr "von 1907 bis 1915 mehr als 3000 Briefe" schreibt, "einige bis zu sechzig Seiten lang". Diese Beziehung, meint Clark, hat bei ihm "bis zum Kriegsausbruch [...] alle anderen Sorgen [verdrängt], selbst die militärischen und politischen Fragen". "Er betrachtete den Krieg sogar als Mittel, Gina in seinen Besitz zu bringen." (S. 147)

Übrigens glaubt Clarks generell, "eine Krise der Männlichkeit" habe in dieser Zeit das "Konfliktpotenzial" gesteigert. Das ist, wenn man so will, seine Tiefe unter der Oberfläche der erzählten Ereignisse. Doch warum ist es mit "der Geschmeidigkeit, taktischen Flexibilität und Raffinesse einer früheren Generation von Staatsmännern (Bismarck, Cavour, Salisbury)" auf einmal vorbei gewesen? Warum auf einmal dies "Trachten nach dem Triumph über die 'Schwäche' des eigenen Willens"? Der Begriff "fin-de-siècle-Mannestum" trägt zur Erklärung nichts bei. (S. 464 f., 467)

Das Ultimatum

Österreich-Ungarn hat, von Deutschland ermuntert, den Krieg gegen Serbien eröffnet. So begann der Weltkrieg. Denn darüber waren die anderen Großmächte empört: weil Serbien sich einem vorausgegangenen österreichisch-ungarischen Ultimatum sogar gebeugt hatte außer in einem Punkt, dem es ohne Verzicht auf die eigene Souveränität nicht zustimmen konnte. Die serbische Regierung beugte sich insofern, als sie die Attentäter von Sarajevo zu verfolgen und gewisse Organisationen zu verbieten versprach. Clark kreidet ihr an, dass sie in Wahrheit kaum eine Chance hatte, die Verfolgung auch durchzuführen. Dass ihr Wort wenig wert war, habe man in Österreich-Ungarn gesehen. Rechtfertigt das aber die österreichisch-ungarische Kriegserklärung? Wir sollen es offenbar denken.

Gerade auch den Punkt, über den die andern Mächte empört waren, lässt Clark nicht gelten. Hier lohnt es sich, ihn ausführlich zu zitieren. Als der britische Außenminister Edward Grey den Wortlaut des Ultimatums erfuhr, "bezeichnete er es als 'das furchtbarste Dokument, das ich je einen Staat an einen anderen Staat habe richten sehen'" (S. 585). Warum? Weil Wien unter Punkt 5 verlangt hatte, "dass in Serbien Organe der k. und k. Regierung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegung mitwirken'" (zitiert S. 583 f.). "Aber es wäre mit Sicherheit falsch", kommentiert Clark (wieder S. 585), "die österreichische Note als einen anormalen Rückschritt in eine barbarische und längst vergangene Ära vor dem Aufstieg souveräner Staaten zu werten. Die österreichische Note war beispielsweise deutlich zurückhaltender als das Ultimatum, das die NATO in der Form des im Februar und März 1999 verfassten Rambouillet-Abkommens Serbien-Jugoslawien vorlegte, um die Serben zur Einhaltung der NATO-Linie im Kosovo zu zwingen. Unter den Bestimmungen findet sich etwa folgender Passus:

'Das NATO-Personal wird, zusammen mit seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstungsgegenständen, in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien freien und ungehinderten Zugang genießen, unter Einschluss ihres Luftraums und ihrer Territorialgewässer. Dies schließt das Recht ein, beschränkt sich aber nicht darauf, Feldlager zu errichten, zu manövrieren, sich einzuquartieren und alle Gebiete und Einrichtungen zu nutzen, die erforderlich sind für Unterstützung, Übungen und Operationen.'"

Statt zu sagen, der österreichisch-ungarische Kriegseintritt war barbarisch, woran gemessen der Kriegseintritt der NATO, ebenfalls gegen Serbien, noch viel barbarischer war, sagt Clark, oder sagt es nicht einmal, sondern unterstellt wortlos, dass der NATO-Krieg ja wohl nicht barbarisch gewesen sein kann und daher der österreichisch-ungarische erst recht nicht. Das Reich hatte eben, die Stelle wurde oben zitiert, "Interessen [...], die es mit gutem Recht energisch verteidigte" "wie jede andere Großmacht auch" (S. 713). Der so urteilt, ist ein in England lehrender Historiker und wir müssen es so hinnehmen. Clarks Urteil hat jedenfalls zur Folge, dass in seiner Perspektive auch der österreichisch-ungarische Kriegseintritt - den Deutschland empfohlen hatte - nicht hellhörig macht. Er hebt sich von allen sonstigen Ereignissen nicht weiter ab. Er ist nur ein Knoten im Gesamtnetz unter tausenden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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