Seelische und körperliche Affekt-Musik

Musikfest 2017 Die Zerrissenheit des europäischen Menschen ist nicht bloß ein Herrschaftskonstrukt. Monteverdis Spätopern: der Schritt zum Musiktheater

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Wir haben Monteverdis Affekt-Musik in den Kontext einer Zeit gestellt, die eine neue Subjektivität hervorgebracht hat, eine Verfassung von Individuen nämlich, die zu haltlos und zu zerrissen sind, um sich noch selbst beherrschen zu können ohne den Rekurs auf eine äußere Macht. Manche sagen, nicht bloß irgendeine Subjektivität, sondern „das Subjekt“ selber sei auf diese Weise geschaffen worden. Die Annahme würde mit der Etymologie im Einklang stehen, heißt doch subiectum so viel wie „das Daruntergeworfene“. Sie ist vor einem halben Jahrhundert von dem französischen marxistischen Philosophen Louis Althusser vorgebracht worden und bestimmt auch das Werk Michel Foucaults. Althusser sagt, das Subjekt konstituiere sich in der Anrufung durch die Institutionen eines großen Anderen, etwa einer Monopartei, der Nation oder Gottes. Wahrscheinlich ist die Annahme zu einseitig: Man kann fragen, ob alle Menschen in diesem Sinn „subjektiviert“ sind, ob sie es ganz oder nur teilweise sind. Althusser selbst scheint sich auszunehmen, denn er charakterisiert die Subjektivierung als eine Ideologie und kann das ja nur tun, wenn er sie von außen betrachtet. Ich gehe davon aus, dass der Ansatz jedenfalls etwas trifft, und verfolge ihn in dieser relativierten Form weiter.

In unserer Erörterung der Entstehung des „Subjekts“ im althusserschen und foucaultschen Sinn ist er uns in der Version begegnet, dass er ein Kalkül von Herrschern beschreibt. Im sich anbahnenden Absolutismus seien die Menschen ermutigt worden, und nicht zuletzt durch die Künste, sich als haltlos und zerrissen zu erleben, damit dann der Staat sich als Retter anbieten konnte. Er zwingt die Menschen sowieso, aber durch die Zutat des Menschenbilds hätte er auch ihre freiwillige Unterordnung erwirkt. Diese Theorie mag nun auch selbst wieder – auch wenn wir jenem Ansatz sein relatives Recht einräumen - zu einseitig sein. Es könnte doch sein, dass die Herrschaft eine Zerrissenheit, die sie nicht erzeugt sondern vorgefunden hat, nur ausnutzte, vielleicht auch steigerte. Man stößt in ihr selbst auf den Zusammenhang von politischer und religiöser Macht. Wenn eine dieser Mächte im Verdacht stehen kann, die Zerrissenheit erzeugt zu haben, dann allenfalls die letztere. Die Reformation könnte beschuldigt werden, dem Menschen eingeredet zu haben, dass er ohne äußere Hilfe verloren sei. Man braucht nur an Luthers Leitfrage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ zu erinnern. Gleich wäre dann noch zu ergänzen, dass der Protestantismus nicht geschichtsmächtig geworden wäre, hätte er nicht das Interesse einiger Fürsten, sich von den politischen Universalmächten Kaiser und römische Kirche zu emanzipieren, bedient. Das Weitere haben wir gesehen: Der Reformation antwortet die Gegenreformation, die von der Musik das gut verständliche Wort verlangt, und das Wort wird von der zu heilenden Zerrissenheit handeln; die Musik des Wortes wird Affekt-Musik sein. Auch die Gegenreformation ist eine mindestens ebenso „weltlich“-politische wie religiöse Bewegung. In ihrem Schatten entwickelt Monteverdi seine neue weltliche Musik, die vor allem Impulse der Renaissance aufnimmt und auf der Schwelle zum Barock steht.

Dann bliebe aber die Frage, von wo die Reformation herrührt. Sie hat ihrerseits auf eine Erschütterung geantwortet. Ihr ging die Krise der Feudalwirtschaft voraus und diese wurde ausgelöst um 1350 durch die Pest. In der Mitte des 14. Jahrhunderts finden wir mit dem Wirken John Wyclifs die erste Spur dessen, was sich zur Reformation ausweiten wird. Wenn wir die Entwicklung bis dahin zurückverfolgt haben, können wir nicht mehr sagen, die Zerrissenheit des neuen „Subjekts“ sei ein Herrschaftskalkül. Nein, die Menschen sind von sich aus zerrissen.

Wenn Karl Georg Zinn Recht hätte (Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989; vgl. mein Referat: Die Technik wird umorientiert), könnte von der Pestzeit her ein Großteil der bewaffneten europäischen Aggressivität erklärt werden, die im Projekt der Weltbeherrschung mündet. Das würde bedeuten, dass die Herrschaft die neue Zerrissenheit des Menschen nicht nur nicht geschaffen, sondern auch nicht nur vorgefunden hätte. Sie selbst wäre haltlos und hätte als zerrissene gleichsam um sich geschlagen. So wie es den Nero der Monteverdi-Oper ankommt, Seneca in den Tod zu treiben.

Wie wäre dann der musikalische Neuanfang einzuschätzen? Solange wir annehmen, der „unendliche“ Affekt sei ein Herrschaftskonstrukt, werden wir auch in der musikalischen Bewältigung vor allem die Herrschaft am Werk sehen. Musik als Auftragskunst. Wenn dieser Affekt aber im Kern etwas Originäres ist, dann erscheint die Musik selber als eine von mehreren Bewältigungsmächten. Man würde sagen, dass ihre Methode, die Menschen zur melancholischen Selbstberuhigung anzuhalten, den Vergleich mit anderen Methoden – der Kirchen, der Staaten - gut aushält. Man hat im vergangenen Jahrhundert gesehen, wie sie mit dem Totalitarismus konfligierte: Es gibt Herrschaften, die sich Melancholie nicht leisten können und sie deshalb verbieten. Unverträglich mit ihr ist auch die Macht der kapitalistischen Reklame. Solche Mächte können die Musik nicht abschaffen, müssen aber versuchen, sie auf Optimismus zu reduzieren, und stellen sich damit eine unlösbare Aufgabe.

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Seine beiden Spätopern hat Monteverdi 35 Jahre nach dem Orfeo komponiert und der Stil ist fast nicht mehr wiederzuerkennen. Der Orfeo hat noch etwas von einem Oratorium; es kommt daher, dass in dieser ersten Oper die Affekte noch – ich bediene mit der Begriffe des ausgezeichneten Buchs Das dramatische Spätwerk Claudio Monteverdis von Wolfgang Osthoff, Tutzing 1960 - als seelische Bewegung aufgefasst werden, während sie im Ritorno di Ulisse in Patria (Die Rückkehr des Odysseus in die Heimat, 1641) und der Incoronazione di Poppea (Die Krönung der Poppea, 1642) zur körperlichen Geste geworden sind. Man hört es der Musik an, sie ist nun gestalthaft und dramatisch. Die kleinen Reden, die in der Incoronazione gesungen werden, verändern immerzu ihren gestaltlichen Charakter, je nachdem was die einzelnen Sätze thematisch berühren. Gleich das Erste, was man hört, der Angriff der Fortuna auf die Tugend, macht es deutlich: „So verbirg dich doch, o Tugend“, beginnt sie; wenn sie dann später singt, „einst Königin, nun Plebejerin“, habe die Tugend ihre Rechte „verkauft“, ergibt das einen etwas anderen Impuls, und einen wieder anderen ergeben die Schlussworte „Wer sich zur Tugend bekennt, hoffe nie, / Reichtum zu besitzen oder irgendwelchen Ruhm, / wenn er nicht von Fortuna beschützt wird!“

Diese ganze Rede wird weder monoton rezitativ vorgetragen noch als Arie, wie sie später bei Händel und Bach in Gebrauch kommt. Die Arie, deren Ausformung wir mit der Barockzeit verbinden, hätte sich aus so einer Rede einen Hauptinhalt oder Hauptaffekt herausgegriffen und nur ihn in Musik verwandelt. Dies Verfahren läuft darauf hinaus, die Handlung stillstehen zu lassen, sie durch eine Meditation zu unterbrechen. Handlung kann dann nur im musikalisch anspruchslosen Rezitativ vorgetragen werden. Was aber Monteverdi vortragen lässt, zum Beispiel von der Fortuna, aber auch sonst, ist ein kompliziert geformtes Lied, das bei jeder Wendung des Inhalts einen etwas anderen musikalisch-gestalthaften Charakter annimmt. Er hat damit Opern ermöglicht, die wahrhaft Theater sind, Musiktheater. Weil das zu seiner Zeit ganz ungewöhnlich war, hat er zunächst keine Nachfolge gefunden und sind der Ritorno und die Incoronazione zunächst in Vergessenheit geraten. Wenn wir aber von heute zurückblicken, sehen wir, dass von ihnen doch eine Entwicklung ausgeht. Osthoff zeichnet es nach: In Deutschland wurde es üblich, eine Linie Monteverdi – Gluck - Wagner zu konstruieren. Das kann man tun, wenn man Monteverdi auf den Orfeo reduziert. Der Monteverdi des Musiktheaters wird aber ebenfalls fortgesetzt, in der italienischen Oper, mit dem Höhepunkt Verdi. In Deutschland kommt Mozart dem Musiktheater am nächsten. Ich zitiere Osthoff:

„Die von Don Giovanni verlassene Elvira tritt auf und klagt um den verlorenen Geliebten, der mit seinem Diener Leporello abseits steht und die verschleierte Elvira nicht erkennt. Wie bisweilen bei Shakespeare steht eine Person abseits der vordergründigen Handlung, während eine andere über sie spricht. Die eine sieht nicht, die andere erkennt nicht: ein Spiel doppelten Truges, das die Wirklichkeit durchsichtig macht. Elvira sucht den, der ein paar Schritte entfernt von ihr steht, und klagt über ihn. Don Giovanni macht sich daran, mit der Frau anzubändeln, in der er nicht Elvira erkennt, die er fliehen muss. Auch die Gegenwart Leporellos ist dramatisch begründet. Nicht nur, dass sein einziger Satz: ‚Cosi ne consolò mille e ottocento‘ auf die folgende Registerarie vorausweist, auch die Personendisposition der Oper verweist ihn in diese Szene der Elvira. [...] Schon die Musik des Vorspiels unserer Szene verwirklicht diese Dramatik mit den Mitteln der reifen Instrumentalmusik der Zeit. Der Satz scheint aus lauter kleinen Stückchen und Formeln [...] zu bestehen, aber diese sind dramatisch gegeneinandergesetzt und metrisch zueinander in Beziehung gebracht. ‚Nichts Kontinuierliches, jedes Glied ist in sich kompakt, einheitlich, für sich hermetisch geschlossen, ein fester Körper, den anderen heterogen; die Aufeinanderfolge ruckweise, für sich unbegreiflich. Und doch ist das Ganze eine Einheit.‘ [Th. Georgiades] Kaum eine dieser kleinen Formeln ist aus früherer Zeit unbekannt, doch sie werden in einen ganz neuen Sinnzusammenhang gebracht.“ (S. 169 f.)

Diese Technik kann in letzter Instanz auf Monteverdi zurückgeführt werden.

So viel zur Einstimmung in die halbszenische Aufführung der drei Opern durch Sir John Eliot Gardiner. Man kann gespannt sein, wie er es macht, auch was die rein musikalische Seite angeht, denn zu Monteverdis Zeit haben Partituren nicht schon alles so im Einzelnen festgelegt, wie das später gefordert war. Wir verfügen über die großartigen Einspielungen von René Jacobs. Gardiner fasst vielleicht manches anders auf. Es beginnt morgen ab 19 Uhr mit dem Orfeo. Auf die beiden Spätopern komme ich wahrscheinlich noch einmal zurück: nach ihrer Aufführung am Sonntag und Dienstag.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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