Ein klassisches Eskalationsszenario: Auf eine Provokation folgt eine noch härtere Gangart der Gegenseite. Die demonstrative Reise von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, nach Taiwan war überflüssig, die fortgesetzten Manöver der chinesischen Marine und Luftwaffe sind es ebenso. Umso mehr, als alle Beteiligten, Taiwan eingeschlossen, ihre offizielle Position nicht verändert haben und an der „Ein-China-Politik“ festhalten. Kriegsgründe gibt es keine, allem Säbelgerassel zum Trotz.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges wird in deutschen Medien über den nächsten großen Konflikt spekuliert: Wann greift China Taiwan an? Und mit welchen Sanktionspaketen wird dann geantwortet? Es scheint, als könnten die Verfass
ft China Taiwan an? Und mit welchen Sanktionspaketen wird dann geantwortet? Es scheint, als könnten die Verfasser es nicht abwarten, dass ein zweiter, diesmal globaler Wirtschafts- und Finanzkrieg ausbricht. Es sei an der Zeit, uns auf den kommenden Schlag gegen China einzustellen, tönt es allenthalben, als würden die gegenwärtigen Sanktionen gegen Russland nicht reichen. Eine weitere Konfrontation von solcher Art – diesmal gegen die Weltwirtschaftsmacht China – braucht in Europa kein Mensch. Es gibt nicht einen guten Grund dafür, zumal ein Boykott gegen China die Europäer, vorrangig Deutschland, teuer zu stehen käme. Als Exportnation hätte man schwer zu leiden, allen voran träfe es die Autoindustrie, den Maschinenbau und die Logistiksparte. Chinas Markt ist für die europäische Industrie um ein Vielfaches wichtiger als der Russlands. Allein für Deutschland erweist sich die Volksrepublik seit Jahren als wichtigster Partner im Außenhandel. Die entstandenen Verflechtungen lassen sich nicht über Nacht und nicht ohne hohen Tribut aufgeben. Autarkie ist kein sinnvolles Ziel, weder für die USA noch für China, geschweige denn für Europa, am wenigsten für Deutschland. In der Weltökonomie sind Abhängigkeiten nun einmal die Regel und beruhen auf Gegenseitigkeit. China braucht Europa und die USA, ebenso wie wir China brauchen. Man kann Handels- und Lieferketten durchaus diversifizieren, ohne jedoch einem Sanktionskrieg gegen einen relevanten Partner zu verfallen.Taiwan wiederum ist für China wie die EU als einer der bedeutendsten Produzenten und Exporteure von Chips unverzichtbar. Diese Bauteile werden nun einmal überall benötigt. Die größten Chip-Produzenten weltweit sitzen in Südkorea, in den USA und auf der Insel Taiwan mit den Unternehmen TSMC und MediaTek, die vorzugsweise nach China liefern. Dort produziert man zwar auch eigene Chips, freilich nicht genug und kaum in der gewünschten Qualität. Ein Wirtschaftskrieg gegen China würde sich auf Hochtechnologieexporte konzentrieren, denkt man nicht zu Unrecht in den USA. Denn ebenso wichtig wie Chips sind die Maschinen, mit denen sie produziert werden, vor allem Nano-Chips. Sie werden in Europa gebaut und nirgendwo sonst. Schon jetzt ist deren Ausfuhr nach China mit Restriktionen belegt.Souverän bleiben!Es stellt sich als gravierender Fehler der deutschen und europäischen Politik heraus, das Ende 2020 ausgehandelte Investitionsabkommen (CAI) zwischen der EU und China bis heute nicht ratifiziert und es seit Mai 2021 auf Eis gelegt zu haben. Stattdessen mit massiven Sanktionen gegen China zu beginnen, dazu bräuchte es triftige Gründe, die derzeit nicht erkennbar sind.Schon jetzt sind die Investitionen Chinas in der EU rückläufig und die europäischer Unternehmen in China gleichfalls ins Stocken geraten. Mit dem CAI-Vertrag wäre eine Reihe der von allen Seiten geforderten Spielregeln verankert worden. Leider sind die Europäer dem schlechten Beispiel Amerikas gefolgt. Die USA haben „Chimerika“ als jahrzehntelange Symbiose mit einer aufsteigenden Industrienation in Asien durch einen Handelskrieg ersetzt. US-Präsident Joe Biden wollte diesen Fehler seines Vorgängers Donald Trump nicht korrigieren. Eine Deeskalation durch Abbau der Strafzölle gegen chinesische Importe wäre leicht möglich gewesen. Schließlich hatte China auf Trumps Aggressionen eher verhalten, fast defensiv reagiert. Niemand in Peking wollte auf Dauer eine solche Fehde mit den USA.Vom Welthandel sind die US-Amerikaner weit weniger abhängig als die Europäer. Daher denkt man auf der anderen Seite des Atlantiks darüber nach, wie man China mit Finanzsanktionen treffen könnte. Ziemlich wirksam und ziemlich heftig, wenn man will – wegen der Dominanz des Dollars als Welthandelsgeld und wegen der Dominanz des Westens im internationalen Finanzsystem. Über den daraus womöglich folgenden Einbruch des Welthandels macht man sich weniger Sorgen. Für die EU allerdings wäre es ein mehr als schlechtes Geschäft, dabei mitzuspielen. Höchste Zeit also, sich auf die viel beschworene „strategische Souveränität“ zu besinnen, diesmal außen- und handelspolitisch.Europa ist dank – nicht trotz – der EU eine Weltmacht. Allerdings eine, die sich nicht so benimmt und sich ihrer Stärken selten bewusst ist. Insofern wäre es an der Zeit, vor einem denkbaren Crash zwischen den Vereinigten Staaten und China deeskalierend zu wirken. Zumal die Europäer mit allen Konfliktparteien dieselbe völkerrechtliche Grundlage teilen und die Ein-China-Politik unterschreiben.