Kaum sitzt er im Auto, schaltet Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) das Tonband ein. Es ist eine Audiokassette. Der Schauspieler und Regisseur gilt als Tschechow-Experte, zu hören ist Onkel Wanja. „Für meine Methode ist es wichtig, den Fluss des ganzen Stücks zu verinnerlichen. Deshalb höre ich es immer wieder“, sagt Kafuku. Nur Wanjas Dialoge fehlen, die spricht er selbst in den perfekt getimten Pausen ein.
Die junge Frau, die sich die Erklärung seiner Arbeitsweise als privilegierter Künstler anhören muss, zeigt sich wenig begeistert. Tôko Miura (Misaki Watari) wurde dem widerwilligen Kafuku vom Theaterfestival von Hiroshima, wo er den Wanja inszenieren soll, als Chauffeurin zugeteilt. Außerdem soll sie ans Steuer seines eigenen Wagens, was Kafuku gar nicht gefällt: Sein kultiger roter Saab 900 ist ihm heilig. Nach einer Probefahrt zeigt er sich mit Miuras Fahrweise allerdings zufrieden. Sein Zimmer befindet sich auf seinen Wunsch hin eine Autostunde von der Stadt entfernt, jeden Tag fährt ihn Miura zu den Theaterproben und wieder zurück. Die 23-Jährige könnte seine Tochter sein. Fast am Ende des Films wird Kafuku ihr sagen, was er tun würde, wenn er tatsächlich ihr Vater wäre. Und er wird aussprechen, was sie verbindet: das Schuldgefühl, für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein.
Drive My Car erinnert in gewisser Weise an einen Fluss, den man zwar nicht verinnerlicht, dem man sich aber überlassen kann. Und der einen mit sich trägt. Drei Stunden dauert der auf einer Erzählung von Haruki Murakami basierende Film von Ryûsuke Hamaguchi, und er wirkt so flüchtig und leicht, dass man seine Tiefe zunächst gar nicht wahrnimmt. Wenn nach 45 Minuten plötzlich die Eröffnungscredits auftauchen, während Kafuku auf seiner Fahrt nach Hiroshima auf einem Parkplatz aufwacht, sind bereits zwei Jahre seit dem Tod seiner Frau vergangen. Die Stimme auf dem Tonband gehört ihr.
Der betrogene Gatte
Oto (Reika Kirishima), Kafukus Frau, war Drehbuchautorin, und obwohl man sie nur im Prolog des Films zu sehen bekommt, bleibt sie bis zum Ende präsent: als Stimme, als Erinnerung, vor allem aber auch als Ehefrau, die Kafuku mit einem anderen Mann betrogen hat. Eines Abends, nachdem ein Flug abgesagt wurde, war er wieder nach Hause gefahren und hatte Oto beim Sex mit einem jüngeren Mann erblickt. Ohne von den beiden bemerkt worden zu sein, hatte Kafuku die Wohnung wieder verlassen und im Hotel am Flughafen übernachtet. Denn er ist ein besonnener Mann. In den folgenden Tagen tat er so, als sei nichts geschehen. Oto war liebevoll wie immer. Als sie ihn wenig später um ein abendliches Gespräch bat, ließ er sich jedoch absichtlich Zeit mit dem Heimkommen. Zu lange, denn da lag Oto schon auf dem Boden – eine Hirnblutung.
Obwohl vieles in diesem Film eindeutig scheint, gilt es noch mehr zu hinterfragen. Entscheidend ist, wann und an wen man die entsprechenden Fragen richtet, doch nicht in der Dialogform eines klassischen Theaterstücks wie Onkel Wanja, bei dem das entsprechende Stichwort den Einsatz liefert. Die wichtigsten Fragen, und davon erzählt Hamaguchi auf beeindruckende Weise, muss man sich immer noch selbst stellen – und dafür braucht es Mut und Kraft. Den Zeitpunkt bestimmt man schließlich selbst.
Langsam und behutsam nähert sich Drive My Car diesem Moment, der Kafuku und Miura Schritt für Schritt ihre Gemeinsamkeit erkennen lässt. Am Beginn seiner Arbeit in Hiroshima stehen für Kafuku das Casting und Leseproben. Zu seinem Inszenierungskonzept zählt unter anderem die Einbindung verschiedener Sprachen, eine junge koreanische Schauspielerin kommuniziert sogar in Gebärdensprache. Einen der Schauspieler kennt Kafuku bereits: Kôji Takatsuki (Masaki Okada), ein Heißsporn und Fernsehstar, hatte mit Oto zusammengearbeitet und nicht nur ihre Drehbücher bewundert. Ist er gar jener Mann, den Kafuku vor zwei Jahren mit ihr beim Sex überraschte? Obwohl Takatsuki sich für eine andere Rolle bewirbt, besetzt ihn Kafuku kurzerhand als Wanja. Der Gedanke, dass sein möglicher Rivale somit auch auf der Bühne seine Rolle übernehmen kann, ist verführerisch. Immerhin könnte Kafuku nun anderweitig über ihn bestimmen.
Eindrucksvoll beweist Hamaguchi, warum er seit einigen Jahren zu einem der wichtigsten Filmautoren Japans zählt und mit Drive My Car in diesem Sommer in Cannes verdientermaßen mehrfach ausgezeichnet wurde. Denn Hamaguchi ist ein poetischer Realist im besten Sinn, der es versteht, bedeutungsschweren Fragen mit erstaunlicher Leichtigkeit auf den Grund zu gehen: Was ist unwiederbringlich verloren, wenn der Glaube an die persönliche Schuld einer Selbstvergebung im Weg steht? Wenn es in Wahrheit nichts Geheimnisvolles an einem Menschen gibt? Ohne seine Figuren zu bewerten – eine tatsächliche Parallele zum Werk Tschechows – balanciert Hamaguchi deren unterschiedliche Gefühlslagen aus: ihre Zweifel und Ängste, ihr Misstrauen anderen gegenüber und ihren Selbstbetrug.
Zuletzt geht es für Kafuku und Miura darum, die eigene Wahrheit zu akzeptieren – die der anderen spielt nämlich keine Rolle, weder im Leben noch im Theater. Kafukus roter Wagen sticht noch immer aus der Masse der grauen, schwarzen und weißen hervor. So wie das Ende von Onkel Wanja, das man so sicher noch nie gesehen hat.
Drive My Car Ryûsuke Hamaguchi Japan 2021, 179 Minuten
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