Die Panik vor der wahllosen Messerattacke

Terror Wir in Europa müssen erst noch lernen, uns zu schützen – und die Angst auszuhalten
Ausgabe 23/2017
Müssen wir uns auch in Deutschland mit der Präsenz von bewaffneten Sicherheitsbeamten anfreunden?
Müssen wir uns auch in Deutschland mit der Präsenz von bewaffneten Sicherheitsbeamten anfreunden?

Foto: Hazem Bader/AFP/Getty Images

Kürzlich sah ich die „verbotene“ Reportage Auserwählt und Ausgegrenzt. Judenhass in Europa. Ich hatte den passwortgeschützten Link heimlich von einer Freundin bekommen. Um die Nichtaustrahlung bei arte und im WDR soll es an dieser Stelle nicht gehen, nur um ein paar wenige Sequenzen, die die Messerattacken von 2015 in Israel thematisieren. Jene Attacken, die Medien hier nicht selten mit „Palästinenser sterben bei Messerattacke auf Israelis“ umschreiben. Keine zwei Jahre hat es gedauert, bis diese Form des Terrorismus in Europa angekommen ist. Also, das wahllose Niederstechen von Passanten im öffentlichen Raum. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich mich – im fünften Monat schwanger – nicht mehr auf die Straße traute, aus Angst, jemand würde mir in den Bauch stechen. Es ist die Angst davor, das Haus zu verlassen, weil man eine Gurke kaufen muss und vielleicht nicht mehr lebend zurückkommt. Das ist anders als Raketenangriffe. Das ist der ultimative Terror, dachte ich. In den Medien hießen die Angreifer in Israel nicht Terroristen, sondern junge Männer oder gar Freiheitskämpfer. Menschenrechtsorganisationen prangerten das Verhalten der israelischen Polizei an. Sie habe die Täter nicht mit Schüssen niederzustrecken, sondern nur außer Gefecht zu setzen. Israels Regierung musste sich erklären. Die Welt reagierte mit Unverständnis.

Wenn ich jetzt in den Tageszeitungen sehe, wie über London, Paris, Manchester, Berlin und all die anderen unzähligen Städte, die seit fast zwei Jahren vom Terror betroffen sind, geschrieben wird, dann finde ich eine andere Form der Berichterstattung. Dort steht dann „Polizei stoppt Terror, indem sie die Männer erschießt.“ Klar. Wie auch sonst sollte man diesen Vorgang beschreiben? Bis jetzt hat sich keine Menschenrechtsorganisation zu Wort gemeldet. Und wenn sie es doch täte? Na, dann würde die Staatengemeinschaft außer sich sein, ob der Frechheit, das Leben von Terroristen retten zu wollen.

Wir in Europa müssen Terror erst noch lernen. Wir kennen ihn ja kaum. Wir wissen nicht, wie man Großveranstaltungen so absichert, dass sie nicht in Panik wie in Turin oder in einem Blutbad wie in Manchester enden oder wie Rock am Ring unterbrochen werden müssen, weil sich gefährliche Gestalten Zugang verschafft haben. Wir müssen lernen, dass ein Gurkenkauf das Ende sein könnte. Man kann jetzt aufheulen und schreien – oder man macht es wie die Israelis seit fast 70 Jahren, man akzeptiert die Situation und passt sich an.

Der beste Geheimdienst und die ausgeklügeltste Überwachung werden keinen 19-Jährigen aufhalten können, der eines Morgens mit schlechter Laune aufwacht, sich ein Messer aus dem Besteckkasten greift und in der Mall of Berlin wild um sich sticht. Aber wir können von den Israelis und ihrer Erfahrung mit Terrorismus lernen. Er ist nicht zu bekämpfen, aber man kann ihn verhindern. Zum Beispiel, indem man ab sofort an jedem Eingang im Einkaufszentrum, Supermarkt oder größerem Kaufhaus Sicherheitsbeamte wie am Flughafen die Taschen kontrollieren lässt. Das gilt auch für Großveranstaltungen. Logisch.

Wir können jetzt den Kopf schütteln und uns wie ein fünfjähriges Kind bockig auf den Boden werfen, weil wir das scheiße finden. Oder wir verhindern jene Terrorangriffe, die zu verhindern sind, indem wir anerkennen, dass sich die Welt verändert hat.

Mirna Funk, Schriftstellerin, ist in Berlin geboren. Ihr Roman Winternähe (S. Fischer) erscheint gerade als Taschenbuch. Sie lebt in Berlin und Tel Aviv

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