Der Verlust der Öffentlichkeit

Tyrannei der Intimität 1977 erschien Richard Sennetts Buch über „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“. Eine seiner zentralen Aussagen erinnert an den Corona-Alltag

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Richard Sennett
Richard Sennett

Foto: Fronteiras do Pensamento/Flickr (CC BY-SA 2.0)

In seinem 1977 erschienenen Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ betrachtet Richard Sennett, ein US-amerikanisch-britischer Soziologe, den kollektiven Rückzug aus dem Öffentlichen ins Private historisch und beginnt dabei mit den Römern. Für unsere heutige Zeit konstatiert er die damit zusammenhängende Tyrannei der Intimität.

Öffentlichkeit als Begegnungsraum mit „dem Fremden“

Der öffentliche Raum wurde bei den Römern res publica genannt. Ein Raum, der durch Beziehungen und wechselseitige Verpflichtungen zwischen Menschen bestimmt war, die nicht durch familiäre oder andere persönliche Bande miteinander verknüpft waren. Vielmehr war dieser öffentliche Raum auch der Raum, „den Fremden“ zu begegnen und mit ihnen im Austausch zu stehen. Die Öffentlichkeit bezeichnet also das, was ein Gemeinwesen verbindet – manchmal auch „Masse“ oder „Volk“ genannt –, im Unterschied zu Familien- und Freundschaftsbeziehungen.

Seit dem Tod von Augustus erleben die Römer das öffentliche Leben jedoch nur noch als lästige, formale Pflicht. Es zieht sie kollektiv nach innen – und damit auch ins Christentum und dessen religiöse Verinnerlichung. Der Umgang mit „den Fremden“, der Fremde selbst, wird als bedrohlich erlebt. Dadurch verliert die res publica mehr und mehr an Bedeutung. Das Christentum fördert diese Hinwendung nach innen – auf der Suche nach dem eigenen Seelenheil.

Öffentlichkeit in der Aufklärung

So entwickelt sich dann auch erst im 18. Jahrhundert wieder ein öffentlicher Raum, der die Begegnung unter Fremden möglich macht. Zu dieser Zeit wachsen die Städte durch Zuwanderung vom Land, und es entstehen neue Räume des öffentlichen Lebens. Es ist die Zeit der Kaffeehäuser, der öffentlichen Parks sowie der Theater- und Opernhäuser. Um mit Fremden im öffentlichen Raum angemessen umgehen zu können, deren familiären Stand man nicht mehr nachvollziehen konnte, und eine soziale Ordnung in der städtischen Situation herzustellen, haben sich neue Kleidungs- und Sprachvorschriften gebildet. Diese haben auch den öffentlichen Raum so strukturiert, dass eine Begegnung zwischen Unbekannten möglich, ja als lustvoll erlebt wurde. Ein anschauliches Bild für diese Zeit liefert zum Beispiel Jane Austen in ihren Romanen.

Herausbildung einer neuen, kapitalistischen, städtischen Kultur

Doch dann wandelt sich das öffentliche Leben ein weiteres Mal: Durch den Beginn des Industriekapitalismus und die daraus folgende Herausbildung des nichts-aristokratischen Bürgertums kam es im 19. Jahrhundert zu einer weiteren Umbildung des gesellschaftlichen Lebens. Denn gerade zu Anfang wurde diese neue Form der Ökonomie, die den materiellen Status schnell wachsen oder fallen lassen kann, und das Entstehen eines neuen Standes als undurchschaubar und unberechenbar erlebt – und damit auch der öffentliche Raum per se. Die Familie und das Private wurden zu einem Zufluchtsort, der im Biedermeier seinen stärksten Ausdruck fand.

Intime Sichtweise der Gesellschaft

Weil das öffentliche Leben mehr und mehr an Bedeutung verliert, gibt es nur noch den privaten Bereich. Den Raum unserer intimen Beziehungen. Und den Raum der Begegnung mit uns selbst.

Sich selbst suchen, authentisch sein und sich selbst entfalten, sind moderne Ausdrücke dafür. Oder wie Sennett es ausdrückt: „Sich selbst kennenzulernen ist zu einem Zweck geworden, ist nicht länger ein Mittel, die Welt kennenzulernen." Die Welt ist durch das Verschwinden der Öffentlichkeit verloren gegangen. Persönlichkeit und ihre Entwicklung ist an ihre Stelle getreten. Und nur das, was uns persönlich betrifft oder zu betreffen scheint, gewinnt unsere Aufmerksamkeit.

Dadurch werden jedoch auch die gesellschaftlichen Strukturen personalisiert. Ein Beispiel ist ein Politiker, den wir wählen, weil er eine glaubwürdige Persönlichkeit ist oder darstellt, und nicht wegen seines politischen Handelns. Ein anderes ist die Klassenzugehörigkeit als individuelles Durchsetzungs- und Leistungsvermögen zu deuten. Im Zuge der intimen Betrachtung der Gesellschaft werden also gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen psychologisiert. Und diese psychologische Einstellung zum Leben nennt Sennett die intime Sichtweise der Gesellschaft.

Die Tyrannei der Intimität

„Der faschistische Staat ist eine Form von intimer Tyrannei,
die alltägliche Mühsal von Geldverdienen, Kinderhüten und Rasensprengen ist eine andere,
aber noch anders sind die Heimsuchungen beschaffen,
denen eine Kultur ohne öffentliches Leben ihren Angehörigen unterwirft.“
(Richard Sennett)

Wenn Intimität als wichtigster Wert alle gesellschaftlichen Beziehungen durchdringt, Persönlichkeit als wichtigstes Grundprinzip der Gesellschaft gilt und keine öffentlichen Räume der Begegnung mehr existieren, entsteht die Tyrannei der Intimität. Diese sieht Richard Sennett ebenso im faschistischen Staat gegeben wie in subtileren Formen. Die subtile Form der alltäglichen „Mühsal von Geldverdienen, Kinderhüten und Rasensprengen“ kommt uns wahrscheinlich gerade in der Corona-Krise (aber nicht nur dann) bekannt vor. Doch die Tyrannei der Intimität geht auch über die aktuelle Krise und die Einschränkung der öffentlichen Freiheit hinaus. Sie geht bis zur Wurzel unseres Gesellschaftsverständnisses.

Denn die gesamte komplexe soziale Wirklichkeit wird in der historischen Entwicklung immer mehr ausschließlich unter ein Kriterium gestellt: unter das Psychologische. Dadurch wird die Persönlichkeit zum wichtigsten Grundelement der Gesellschaft. Persönliche Beziehungen, ja Intimität, Nähe und menschliche Wärme werden zu den wichtigsten sozialen Bezügen. Damit verliert der öffentliche Raum als Begegnungsort zwischen Fremden, also als Ort der nichtpersonalen Beziehungen und des nichtpersonalen Handelns, an Bedeutung.

Die menschliche Erfahrung beschränkt sich immer mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen der nächsten Umgebung, sodass den unmittelbaren Lebensumstände eine überragende Bedeutung zukommt. Gesellschaftliche Fragestellungen nach Herrschaft und architektonischer Gestaltung öffentlicher Räume, die über den eigenen Lebenshorizont hinausweisen, verlieren hingegen an Gewicht.

Ein öffentlicher Raum jenseits von Konsum und Fortbewegung?

Wenn wir nach den einschränkenden Maßnahmen der Corona-Krise „zur Normalität“ zurückkehren, wird es also, mit Richard Sennett gedacht, nicht nur darum gehen, wieder arbeiten und auf staatliche Kinderbetreuung zurückgreifen, konsumieren und FreundInnen treffen zu dürfen. Die derzeitige Einschränkung des öffentlichen Lebens wirft auch die Frage auf, was Öffentlichkeit ist und wie viel Raum wir dem öffentlichen Leben in unserer Gesellschaft geben wollen. Pflegen wir weiterhin die Tyrannei der Intimität oder schaffen wir auch einen öffentlichen Raum jenseits des Konsums und der Fortbewegung? Einen Raum der Begegnung zwischen Fremden und damit ein Wachsen an und in der Welt. Und einen Raum, der politisches Handeln möglich macht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Melanie Lanner

Soziologin, Master in Gender Studies

Melanie Lanner

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