Propalästinensische Proteste in der Arabischen Welt: Die Angst der Regime
Nahostkonflikt Wie in der westlichen Welt auch finden von Ägypten über Jordanien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten propalästinensische Proteste statt. Die Regierungen reagieren mit teils massiver Unterdrückung. Ein Überblick
Demonstration gegen den Gaza-Krieg in Rabat, Marokko
Fadel Senna / AFP
Wir kennen die Bilder aus Jordanien: Seit Monaten gehen massenhaft Menschen gegen den Krieg in Gaza auf die Straße, und die Regierung antwortet harsch. In vergangenen Wochen wurden Dutzende friedliche Demonstrant*innen festgenommen und abgeurteilt, wie Medien und Menschenrechtsorganisationen berichten. Auch in anderen arabischen Staaten gibt es Proteste. In Marokko etwa wurden Demonstrationen gewaltvoll von der Polizei aufgelöst. Im November 2023 wurden in Saudi-Arabien sogar Gläubige an der heiligen Stätte von Mekka festgenommen. Ihr Vergehen: Sie sollen dort angeblich für Gaza gebetet haben.
Die Region steckt in einem Zwiespalt zwischen den geopolitischen Interessen der Regierungen, ihrer Innenpolitik und der Solidarität von Teilen der Bevölkerung mit Pa
Vergehen: Sie sollen dort angeblich für Gaza gebetet haben.Die Region steckt in einem Zwiespalt zwischen den geopolitischen Interessen der Regierungen, ihrer Innenpolitik und der Solidarität von Teilen der Bevölkerung mit Palästinensern. Bisher haben die Regime in der Arabischen Welt Proteste zum Nahostkonflikt – insbesondere gegen die israelische Besatzung – geduldet. In den Neunzigerjahren war die pro-palästinensische Solidarität im Nahen Osten und Nordafrika ein guter Deal für alle Seiten: Die Menschen konnten auf die Straße gehen, ihrer Wut und Empörung freien Lauf lassen und die jeweiligen Regime konnten behaupten, dass sie mit der Konstellation in Israel und Palästina wenig bis nichts zu tun haben. Dazu konnten sie der Außenwelt zeigen, dass durchaus unter ihrer Führung demonstriert werden kann.Dieses Arrangement ändert sich allerdings – spätestens seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der Geiselnahme von Hunderten Israelis und der – laut vielen Kritiker*innen weltweit – unangemessenen, kriegerischen Antwort des israelischen Militärs mit mehr als 40.000 meist zivilen Opfern, unzähligen Verletzten und bis zu zwei Millionen im Gaza-Streifen gefangenen und hungernden Flüchtenden. Es regen sich weltweit Proteste für eine unverzügliche Beendigung dieses Leids, in vielen arabischen Ländern werden sie teils massiv unterdrückt. So zum Beispiel in Ägypten, wo seit Oktober 2023 kontinuierlich friedliche Demonstrant*innen festgenommen worden sind. Erst vor einer Woche wurden mehrere bekannte Feminist*innen für mehrere Tage festgenommen, weil sie für einen Waffenstillstand in Gaza, aber auch im kriegsgebeutelten Sudan demonstrierten. Die Kritik aus der Bevölkerung richtet sich dabei an das Regime von Präsident Abdelfattah al-Sisi, der als enger Verbündeter des israelischen Premiers Benjamin Netanyahu gilt und in den Augen vieler Ägypter*innen zu wenig tue, um die Menschen in Gaza zu schützen.Zwar vermittelt die ägyptische Regierung neben Katar in indirekten Gesprächen zwischen den Kriegsparteien, also der Hamas und der israelischen Regierung, allerdings wurden in den vergangenen Monaten Fluchtkorridore und Hilfslieferungen im Nachbarland Ägypten konsequent blockiert. Ein No-Go für viele Ägypter*innen, die trotz der staatlichen Repressionen gegen eine aus ihrer Sicht unterlassene Hilfeleistung ihrer Regierung demonstrieren.Von Ägypten über Jordanien bis in die Vereinigten Arabischen EmirateIn den Vereinigten Arabischen Emiraten, so berichtet zum Beispiel die New York Times, haben Menschen, die gerne für einen Waffenstillstand demonstrieren würden, schlicht Angst vor staatlicher Gewalt. In Jordanien, wo viele palästinensisch-stämmige Bürger*innen leben, steht die Regierung angesichts der massiven Proteste unter enormem Druck, seine traditionell israelfreundliche Außenpolitik zu ändern.Was bei der Niederschlagung dieser pro-palästinensischen Proteste deutlich wird: Die große Geopolitik der Regierungen kollidiert mit der Überzeugung vieler Menschen in der arabischsprachigen (und sonstigen) Welt, dass die israelische Kriegsführung in Gaza so nicht gerechtfertigt ist. Berichte über eine in Trümmern liegende Infrastruktur, die es noch nicht einmal erlaubt, die Leichen zu zählen, Bilder von toten Kindern, Meldungen von Massengräbern, zerbombte Krankenhäuser sowie die Vernichtungsfantasien rechtsextremer israelischer Politiker, die in arabischen Medien ausgiebig wiedergegeben werden - all dies erzürnt die Menschen in der Region.Die Regime dagegen haben große Bedenken, vielleicht sogar Panik davor, dass die Solidarität mit Gaza irgendwann in Proteste gegen die jeweiligen Verhältnisse vor Ort umschlagen könnten. In den Hauptstädten Amman, Kairo, Riad oder Rabat werden Erinnerungen an die Revolutionen von 2011 geweckt. Der pro-palästinensische Protest könnte einen oppositionellen Flächenbrand gegen die Regime selbst anfachen. Die Machthaber greifen erneut beherzt zum Instrument der Polizeigewalt gegen die eigene Bevölkerung.Gegen Israel – aber nur, wenn es den eigenen Interessen nutztDabei macht die Ausnahme bekanntermaßen die Regel: Der autokratisch regierende Machthaber in Tunesien, Kais Saied, knüpft seit Monaten an die alte Tradition aus den Neunziger Jahren, für die Palästinenser*innen Partei zu ergreifen – um von nationalen Problemen, wie die Unterdrückung der Menschenrechte und einer Wirtschaftskrise im eigenen Land abzulenken. Schon das Ben-Ali-Regime pflegte es, sich auf internationaler Bühne als Opposition gegen Israel zu positionieren und damit die Stimmung auf den Straßen Tunesiens für sich zu nutzen.Doch auch die pro-israelischen Normalisierungsstrategien anderer Staaten in der Region weisen oft rein nationalistische Motive auf: In Marokko tauschte die Regierung im Jahr 2020 seine offizielle Anerkennung des Staates Israel gegen eine internationale Anerkennung der Westsahara als Teil Marokkos ein. Im Fokus dieses Deals stand damals auch die Trump-Administration, die das marokkanisch-israelische Abkommen feierte. Marokkanische User*innen, die nun dieses Abkommen im Lichte des Gaza-Kriegs in sozialen Medien kritisierten, wurden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.Fast überall zwischen Casablanca und Maskat wächst die Diskrepanz zwischen realpolitischen Strategien der Regierungen und der Stimmung in den eigenen Bevölkerungen. Auch weil Demonstrationen so gefährlich geworden sind, haben sich viele Konsument*innen entschieden, bestimmte internationale Konzerne, die mutmaßlich das israelische Militär beliefern oder unterstützen, zu boykottieren: Starbucks, H&M oder McDonald’s melden einen signifikanten Rückgang ihrer Geschäfte in Nordafrika und im Nahen Osten. Selbst Diktaturen können so einen Protest nicht direkt beeinflussen.Eine Schlüsselrolle auf der internationalen Bühne kommt den Golf-Staaten zu: Saudi-Arabien, Bahrain oder die Vereinigten Arabischen Emirate positionierten sich in den vergangenen Jahren offiziell oder inoffiziell als Partner Israels, um neue Bündnisse zu schmieden und den Erzfeind Iran ins Visier zu nehmen. Nur haben diese Regime – und das liegt in der Natur von Autokratien – ihre jeweiligen Bevölkerungen nicht bei diesem politischen Prozess mitgenommen. Das Resultat: Eine innenpolitische Opposition, die nicht akzeptieren möchte, dass eine Normalisierung der Beziehungen zum Staat Israel auf Kosten der Zivilist*innen in Gaza geht. Auch am Golf werden Proteste unterdrückt, Kritik an den außenpolitischen Linien der jeweiligen Regime wird nicht toleriert.Auch in Berlin wird ein Sit-In aufgelöstSchaut man in die arabischen Kommentarspalten in den sozialen Medien, findet man in diesem Kontext durchaus antisemitische Tropen, zum Beispiel zur imaginierten Weltherrschaft des Judentums. Oft wird aber auch konkret die Politik der jeweiligen Regierung von den User*innen kritisiert. Fragen, die die Menschen seit einem halben Jahr beschäftigen: Warum lässt die ägyptische Führung keine Flüchtenden aus Gaza ins eigene Land? Warum unterstützt die jordanische Regierung Kriegsflüchtlinge nicht adäquat? Warum hat Marokko den Staat Israel ohne nachhaltige Lösung für den Nahostkonflikt anerkannt? Warum biedert sich die saudische Führung an die rechtsextreme Regierung von Benjamin Netanyahu an? Warum ist Solidarität mit den Menschen in Gaza nicht erlaubt?Es scheint dabei auf den ersten Blick etwas skurril, ergibt aber aus der Sicht der Menschen in der Region durchaus Sinn: Im Kontext der unterdrückten Proteste in Nordafrika und im Nahen Osten tauchen im arabischsprachigen Netz immer wieder Berichte über pauschal verbotene oder durch die Polizei gewaltsam aufgelöste, pro-palästinensische Proteste in Deutschland auf. So zum Beispiel vor wenigen Tagen das von der Polizei aufgelöste Sit-in vor dem Bundestag in Berlin.Immer wieder ist auf TikTok, Facebook, Instagram und in verschiedenen Messenger-Diensten zu sehen, wie selbst demonstrierende Jüdinnen*Juden mit Kippa auf dem Kopf von deutschen Beamt*innen abgeführt werden. Eine Erkenntnis macht bei den Menschen die Runde: pro-palästinensische Positionen werden gleichermaßen von westlichen Regierungen und ihren autokratischen Partnern im Nahen Osten und Nordafrika unterdrückt. Dies könnte allerdings dazu führen, dass die Wut und damit der Druck auf den Straßen nur noch steigen.
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