Die Schrift zu studieren

Unfertiges Erinnerung und Neuwerden hängen nicht nur im Judentum sehr eng zusammen.

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[Disclaimer: Der folgende Beitrag enthält schwere theologische Begriffe und behandelt auch die Frage, ob Jesus ein Linker war. Wenn Sie „keinesfalls“ Leser in einem (auch) links-liberalen Forum sind, bleiben oder ein solcher Leser werden wollen, dann lesen Sie bitte nicht weiter und verlassen Sie bitte diese Webseite. Disclaimer Ende]

„Ohne Erinnerung keine Zukunft“: Der Philosoph Paul Ricoeur sprach gerne von „Erinnerung an Zukunft“. Indem man sich der Wurzeln erinnert, kann man gestärkt nach vorne schauen. Und so ist es eine schöne Sache, dass in diesem Jahr ein Festjahr zu „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ begangen wird. Gerade das Judentum hat ja einen starken Begriff des Erinnerns hervorgebracht, Zachar (hebr.: זכר). Im immer wieder Gegenwärtigmachen von Überliefertem wird ein neues Stück Wegesration und Proviant für das Weitergehen gewonnen.

1700 Jahre Judentum

Über 1000 Veranstaltungen finden bundesweit statt, und wäre es in diesem Blog erlaubt, etwas flapsig oder unfertig zu formulieren, man könnte schreiben: „Das Judentum hat derzeit in Medien allemal einen guten Lauf.“ Weil es aber gute Gründe gibt, beim Thema Judentum alle Worte auf die Goldwaage zu legen, belassen wir es beim Irrealis/Konjunktiv „könnte“ auch wenn wir uns tatsächlich durchaus freuen würden, ganz unbefangen und froh davon zu schreiben, dass das Jüdische, die ursprüngliche vox hebraica („hebräische Stimme“) klar und unverstellt in unseren Breitengraden zu hören ist.

Was „das Judentum“, das „Jüdische“ ist, ist dabei freilich gar nicht leicht eindeutig zu bestimmen. Ganz gleich, in welches Jahrhundert man zu einer Art Definitionsbestimmung springt¹, was das Wesentliche ist, das „Wesen“ ausmache, ist wie eigentlich bei fast jeder Weltreligion immer auch ein Stück umstritten.

Andererseits: Einige Hauptmerkmale lassen sich dann doch recht eindeutig erkennen. So gilt das Judentum recht früh als große Schriftreligion. Man schreibt auf, was die Vorfahren erfahren haben (die „Väter“, die Erzmütter und Erzväter), bewahrt es tradiert es, überliefert es und gibt es an die Nachkommenden weiter. Zu den besonders bedeutenden Überlieferungen gehört dann z.B. das „Zehnwort“ (Dekalog: die Zehn Gebote). Ein klassisches, hochwirksames Beispiel für eine frühe Rechtssetzung, das bis in die Neuzeit und in unsere heutige Rechtssprechung und Rechtskultur hinein gewirkt hat, wirkt und bleibende Maßstäbe setzte. Man nehme als schlichtes Beispiel den Satz: „Du sollst / Du wirst nicht stehlen“ (2. Mose 20,15). Der unmittelbar einleuchtet als Grundlage gelingenden Zusammenlebens. Und sowohl in seiner Kürze, wie in der so doch auch noch offen bleibenden „Auslegungs-Bandbreite“, kaum zu übertreffen ist.

Auch mit dem Satz „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst(3. Mose 19,18) hat das jüdische „Erbe“ und seine Überlieferung Geschichte gemacht. Und ohne Zweifel gäbe es noch eine ganze Menge mehr, an das man hier erinnern könnte.

Kein Wunder also, dass diese stetige Ressource durch alle Jahrhunderte viel befragte Bezugsquelle war und blieb. Und schön und hilfreich, dass auch heute versucht wird, diese Ressourcen als Inspiration, als Quelle, als zukunftsspendende Erinnerung neu fruchtbar werden zu lassen.

Der Galiläer Jesus

Ganz wesentlich aus diesen Ressourcen speiste sich auch Wort und Werk eines gewissen Jesus von Nazareth. Wann immer es im Neuen Testament heißt „sie forschten in der Schrift“, „Was sagt die Schrift?“ oder „alle Schrift ist gut zur Unterrichtung“ sind ja immer eben diese jüdischen Schriften des „ersten Testaments“ gemeint, das „Neue Testament“ gab es ja als „Schrift“ noch nicht.

Auch einen seiner Zentralbegriffe, den vom „Reich Gottes“, übernimmt er aus der vorfindlichen (jüdischen) „Schrift“. Wenn er von diesem „Reich“, oder wie man auch übersetzt hat, von dieser „Wirklichkeit Gottes“ redet, dann klingt dabei also immer auch dieses jüdische Erbe, diese jüdische Überlieferung mit an. Wenn es daher heißt, das Reich Gottes ist wie ein Senfkorn (Mk 4,30), oder das Reich Gottes ist vergleichbar der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26), steht das in guter jüdischer Tradition (Hes 17,23 / Spr 10,22).

Das „Reich Gottes“

Es ist ja ganz generell gesagt: Das Reich Gottes kommt nicht mit Äußerlichkeiten, so dass man es beobachtet, sondern: Das Reich Gottes ist mitten unter euch (Lk 17,21).

Man könnte überlegen, ob das „Gottesreich“ insoweit im schlichten „Gottvertrauen“ besteht. Ist, hat jemand gefragt, auch die „Nachfolge“ Jesu insoweit schlicht ein anderes Wort für „Vertrauen“?

Das kann man diskutieren, und wird so auf direktem Wege in den Austausch mit, das Forschen in, das Befragen jener überlieferten Ressourcen geführt...

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Exkurs: War Jesus ein Linker?

Zur Frage, was eigentlich „links“ wäre, las ich einmal den Ansatz einer Art Kurzdefinition (bei Helge Malchow, Verleger beim KiWi-Verlag), dass sich Linke für die Benachteiligten und Unterdrückten einsetzen. Insofern kann sicher gesagt werden, dass Jesus ein Linker war.

War Jesus ein liberal Konservativer? Dazu wird man zuerst nach einer Definition des Konservativen fragen: Für Konservative ist das Denken in Ordnungen wichtig, sind Ordnungen selbst wichtig, weil sie Beschützenswertes bewahren (lat. conservare) wollen. Daher kann Jesus, der sagte „gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, auch als liberal Konservativer gelten: Auch im Tempel-Gotteshaus sorgte er für „Ordnung“ und trieb die Tauben-Händler und Unternehmer mit einer Geißel in der Hand zur Tür hinaus... Links oder rechts, konservativ oder progressiv, bei Jesus scheint vieles zuzutreffen. Exkurs Ende.

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Anfangen, die Schrift zu studieren

„Im Hören auf dieses Wort“ wird auch in diesen unsern Tagen nach der rechten „Nachfolge“, dem Gottesreich geforscht. Hörend auf diese manchmal auch ganz leise Stimme schier verschwebenden Schweigens. Manchmal ganz prosaisch oder auch geradezu poetisch sind dabei Gesprächspartner auch die Leute „des gewöhnlichen Alltags, der 'Jedermann' der menschlichen Wesensart“.

Wie es im Judentum einen starken Rückbezug auf die Erinnerung gibt, gibt es zugleich das Moment des Neuwerdens. Ja, eigentlich steckt dieses Moment (wie gesagt: „Zukunft“) immer schon im Erinnern ja mit drin. Denn: An das damalige Werden und also damalige Neuwerden wird erinnert, und durch die neuerliche Vergegenwärtigung soll eben diese Neuwerdung im Heute aufs Neue sich vollziehen und ereignen.2 Es ist von daher kaum verwunderlich, dass in der „Schriftreligion“ Judentum das „Wort(hebr.: דבר‎, dawar) eine so zentrale Bedeutung hat, wie es der Fall ist. Das Wort, und besonders dieses Wort, hat Substanz und ist Relation, hat Relation und ist Substanz.

Auch zur Beantwortung der Frage, wer oder was zu Recht beanspruchen kann „die Sache Jesu“ heute (oder ihn selbst in Person, in persona) zu repräsentieren – ein hoher, kein geringer Anspruch – wird man kaum umhin kommen, sich in das „Wort Jesu“ zu begeben. Dieses sich begeben, dieser Gang durch und in das Überlieferte, ist dabei nicht nur Quelle und Ressource der Erinnerung, sondern so auch deren Vollzug und: Legitimation. Für das daraus (nach)folgende Tun.

Indem gesagt ist, es gehe darum, in der Schrift zu studieren und zu forschen, ist dabei auch schon angedeutet, dass es mit einem „mal kurz nachschlagen“ oft nicht getan ist. Auch dies: Ein Weg, der gegangen, der ausgeschritten sein will.

Auch dies: Ein Erinnern und Neuwerden, ein Vergegenwärtigen, das immer aufs Neue not tut, gesucht, verantwortet und immer wieder neu begangen sein will.

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¹ Soll man dabei z.B. beim „Reformjudentum“ des 21. Jahrhunderts einsetzen, oder in der Zeit des zweiten Tempels in Jerusalem im 2. Jh. vor unserer Zeitrechnung? Beim rabbinischen Judentum ab dem 1. Jh oder bei den nachexilischen Propheten, die an mancher Kulttradition auch Kritik übten? Soll man im mittelalterlichen sephardischen Judentum suchen, oder soll man einsetzen beim Glauben von Abraham, Isaak und Jakob?

2 Auch eine Ausweitung der „Erzväter-“ und „Ursprungsverheißungen“ ist dabei bereits mit angelegt, denn sie soll letztlich nicht nur Israel zum Guten dienen, sondern allen Menschen (so schon bei genauer Lektüre das Wort – die eigentliche „Ursprungsverheißung“ – an Abraham: „In dir soll Gutes gewirkt werden für alle Völker und Generationen der Erde“, vgl. Gen 12,3).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

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