„Reformationstag ist auch säkularer Feiertag“

Medienanalyse Warum die Debatte um den neuen Reformationsfeiertag so aufschlussreich ist.

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Spukhafte Fernwirkungen gibt es nicht nur in der Quantenphysik. Auch in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wurden immer wieder jene Phänomene der geheimnisvollen Fern-Beeinflussung einzelner Teilchen (oder Teilchen-Entitäten) festgestellt. Spukhafte Fernwirkungen nannte Albert Einstein einst die schwer erklärlichen Effekte in der Quantenwelt – zu einem Zeitpunkt, als er selbst noch an deren Existenz zweifelte. Der Spuk besteht darin, dass die Zustandsveränderung einer Teilchen-Entität zu einem Wechsel bei einer anderen Entität führt, selbst wenn beide sehr weit voneinander entfernt sind. Seit dem Beschluss des Berliner Senats (2006), an staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht mehr zu erteilen, gibt es nun eine sonderbare Fernwirkung auf die eine oder andere deutsche Redaktionsstube: Plötzlich ist dort kein Wissen oder Verständnis für religiöse und geschichtliche Grundfragen mehr da.

Ein Feiertag in bundesdeutschen Landen

Das ist bedenklich. Denn wenn Redakteure die eigene Landesgeschichte nicht mehr kennen und verstehen, wird regelmäßig die Debattenkultur in einem Gemeinwesen krumm und kraus.

In Niedersachsen ist die Idee entstanden, den gesetzlichen Reformationsfeiertag aus 2017 dauerhaft beizubehalten. Der Vorschlag erhielt sogleich große Zustimmung. Schon im Januar 2017 wurde dort auf CDU-Vorschlag überlegt, sowohl den Reformations- als auch den Buß- und Bettag als Feiertage einzuführen. Bei einer Umfrage des NDR waren damals 77,4 Prozent dafür.

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Sollten Buß- und Bet- sowie Reformationstag Feiertage sein?

Ja – 77,4 % (799 Stimmen)

Ja, aber nur einer von beiden – 10,4 % (107 Stimmen)

Nein, keiner von beiden – 12,2 % (126 Stimmen)

Umfrage vom Januar 2017, Quelle: NDR.de

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Nimmt man die Stimmen dazu, die für wenigstens einen der beiden Feiertage sind, kommen die Feiertagspläne sogar auf eine Zustimmung von 87,8 Prozent. Mehr wäre wahrscheinlich unheimlich.

Miesmacher-Medien suchen Zwietracht zu säen

Bei dieser breiten Zustimmung ist allerdings erstaunlich, wie lange eine künstliche Debatte um die Einführung dieses Feiertags am Laufen gehalten wurde. Wie es dazu kam, lässt sich jedoch mit detektivischem Talent recht leicht rekonstruieren.

Doch die NDR-Umfrage soll zunächst einfach nur als ein Stimmungsbild genannt werden. Denn leider ist es in Deutschland Mode geworden, nach Umfragen zu regieren statt nach übergeordneten Sachargumenten (oder gar politischem Gestaltungswillen). „Das sollte man in keiner Weise fördern.“

Außerdem handelt es sich um eine Internet-Erhebung. Bei Online-Umfragen ist aber immer und in jedem Fall Skepsis angebracht. Jede Detektivarbeit muss darum noch etwas grundlegender ansetzen.

Als ein erster Ausgangspunkt aber scheint dieses Stimmungsbild jedenfalls dafür zu sprechen, dass der Reformationstag sowie kirchliche Feiertage generell – bei 87 Prozent – der Bevölkerung überaus konsensfähig sind. Von Stirnerunzeln keine Spur. Das ist deshalb wichtig, weil das bereits einen ersten Hinweis dafür gibt, dass auf verschiedenen Ebenen künstlich und kampagnenartig versucht worden sein muss, den Reformationstag madig zu machen.

2017 ein Sommermärchen

Als das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) unter dem Titel „Unsere Besten – die größten Deutschen“ 2003 eine historische Suche mit viel Zuschauerbeteiligung veranstaltete, belegte Martin Luther unter den bedeutungsvollsten Persönlichkeiten der Geschichte den zweiten Platz. (Immerhin ein Sender, dem eine gewisse Reichweite nachgesagt wird, und) ein weiteres Indiz, dass der Reformation eine gewisse Relevanz beigemessen wird. Gar so abwegig war es soweit nicht, dass manche das Reformationsjubiläum 2017 schon als eine Art zweites „Sommermärchen“ sehen wollten (in Anspielung auf die Feierstimmung bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland).

Denn man kann ja, wenn man möchte, diese Geschichte ohne Weiteres erzählen als die Geschichte des kleinen unbeugsamen Bürgers, der den beiden Universalmächten seiner Zeit (Kaiser, Klerus) mit einigem Recht und erfolgreich trotzt. Man kann die Geschichte, ohne die Unwahrheit zu sagen, erzählen als die von David gegen Goliath, Zwerg gegen Riesen, Unten gegen Oben. Und man kann die Geschichte, auch unter Absehung aller „kirchlich-religiösen“ Gehalte, erzählen als Abenteuergeschichte von Mut und Einstehen für Überzeugungen.

Und man kann, ohne jemand dabei auf die Füße zu treten, zahlreiche Inhalte der lutherischen Reformation heute gesellschaftsübergreifend feiern – einfach weil sie längst zur anerkannten Grundlage des Gemeinwesens zählen und allgemein geteilt werden, z. B.:

- Schulpflicht – unabhängig von sozialem Status

- freier Zugang zu Wissen, selbst zu vormaligem „Herrschaftswissen“ – ohne Sprachbarrieren

- Teilhabe sowie Verpflichtung des Einzelnen über das persönliche Gewissen, u.a.m.

Schulpflicht, Wissen und Gewissen: untrennbar mit der Reformation verbunden

Das Spannende und Interessante an der Persönlichkeit „Martin Luther“ ist ja, dass hier in einem historischen Prozess diese – und viele andere – universalen Inhalte, Erkenntnisse und Wahrheiten real und anschaulich zum Durchbruch kommen. Wartburg, Wormser Reichstag, Wittenberger Turm – die Luther-Geschichte hält für mehr als einen Film genügend Stoff parat.

Summa: Man hätte publizistisch das Jubiläum 2017 leicht zu einem echten Festjahr machen können.

Der emanzipatorische Spin der Reformation

Für freitag.de-Leser vielleicht besonders virulent: die Rede vom emanzipatorischen „Drive“ und „Spin“ der Reformation ist dabei keine leere Phrase, sondern höchst inhaltlich gefüllt: Frauenrechte; Entflechtung und Befreiung des Politischen von religiöser Überfrachtung; Geburtsstunde bzw. Basismomente von Demokratie und Religionsfreiheit... Dazu weiter unten mehr. Hier zunächst der Hinweis auf nur ein Beispiel, warum es wahrlich nicht einsehbar ist, dass ausgerechnet ein linksschlagendes Herz sich mit reformatorischem Gedankengut nicht anfreunden können sollte.

Denn gerade die „Option für die Armen“ ist ein gemeinchristliches Anliegen, das doch ein linkes Herz erreichen sollte. Hier gibt es viele Schnittmengen. Luthers 43. These von 1517 lautet:

„Wer einem Armen gibt oder einem Bedürftigen leiht, handelt besser, als wenn er Ablässe kaufte.“

Seine Zeitgenossen sollten ihr Geld also lieber für die Armenversorgung aufwenden als für ein fragwürdiges Finanzinstitut. Darum tadelt Luther entschieden, wenn jemand „einen Bedürftigen sieht, sich nicht um ihn kümmert und für Ablässe etwas gibt“ (These 45).

Linke würden heute Luther wählen, wäre er eine Partei.

Die Prioritätensetzung ist für Luther kategorial und wird in weiteren Schriften systematisch ausgebaut. Die energische Prioritätensetzung dürfte zugleich einer der Gründe dafür sein, dass es dem heutigen Papst Franziskus nicht schwer fällt, in Luther einen wahren Genossen zu erkennen.

Linke würden heute Luther wählen, wäre er eine Partei

Man hört es geradezu über die Alpen hinweg und über die Zeitdistanz von 500 Jahren hinweg in Rom laut Nicken, wenn Luther formuliert: „Der Papst hat nicht im Sinn, dass der Ablasskauf in irgendeiner Weise den Werken der Barmherzigkeit gleichgestellt werden solle.“ (These 42)

Wie umgekehrt der jetzige Papst Franziskus es mit seiner lateinamerikanischen Schlauheit jedem Lutheraner und es jedem Luther wählenden Linken leicht macht, gemeinsame Schritte zu gehen – einfach schon dadurch, dass er ein Herz für die Armen hat, dass er ein Herz für die Armen zeigt, man könnte sagen, ein jesuanisches Herz…

Nicht zufällig hat der Vorsteher der lutherischen Gemeinde in Rom, Jens-Martin Kruse, die Amtsführung von Papst Franziskus in höchsten Tönen als positiv herausgestellt und gewürdigt, wie das römische Oberhaupt sein Amt schon jetzt als eine Art „ökumenischer Primas“ ausübe.

An dieser Stelle müsste den freitag.de-Lesern ein kurzer Ausflug in das inner-ökumenische evangelisch-katholische Gespräch zugemutet werden.

Doch die wirklich ernsten und großen Fragen nach Tod und Leben, Gottvertrauen und Vergebung, christlicher Nächstenliebe und christlicher Nachfolge, sollen in diesem Post bewusst ausgeblendet bleiben (obwohl das in gewisser Weise ja die wirklich interessanten sind), und nur die ganz einfachen, schnöden weltlichen Angelegenheiten bedacht werden. Die großen Lebens- und Menschheitsfragen gehören dann zum Beispiel auf die Kanzel. Der heutige Durchschnittsleser würde durch zu viel Ernsthaftigkeit ja nur unnötig verschreckt... (Schon, dass solche Lebensfragen offen gehalten werden – was ist Freiheit? Wahrheit? Gerechtigkeit? Sinn des Lebens, ist da was? – , immer wieder am Horizont auftauchen und thematisiert werden, wäre diesen Feiertag wert.) Zu ungewohnt ist es geworden, etwa die Gottes-Frage zu reflektieren. Wobei es gerade im Jahr des Reformationsjubiläums eine gute Gelegenheit gewesen wäre, hier wieder etwas Raum in der Herberge zu machen.

Der bestohlene Luther

Doch es wurde etwas anderes geplant. Geplant wurde vielmehr, in einer Art konzertierten Aktion, Luther schlicht den Ruf zu stehlen. Den guten Ruf, den er bei der Bevölkerung ja längst genießt (siehe ZDF 2003). Ein Ruf, den Luther heute auch durchaus in weiten Teilen der katholischen Kirche genießt. Besonders an der sogenannten „Basis“. Auch auf Theologen-Ebene, wo doch manches Dokument wachsender Übereinstimmung im Blick auf Luther unterzeichnet wurde.

Denn Luther ist in ökumenischer Hinsicht heute eher konfessionsverbindend als konfessionstrennend. Bekanntlich wird manches Luther-Lied längst in der katholischen Liturgie gesungen und steht schon seit langem im katholischen Kirchengesangbuch. Immerhin machte 2017 als nachdrückliche Erkenntnis der Merkspruch die Runde, dass Luther keine Kirchenabspaltung beabsichtigte, sondern eine Rückkehr zum Ursprünglichen, eben eine Reformation.

Das gestohlene Reformationsjubiläum

Irritierend an der öffentlichen Berichterstattung ist nun zum Beispiel, dass von vielen Journalisten gar nicht bemerkt wurde, was für eine ungeheure „Sensation“ und „Leistung“ darin steckte, dass die 500-Jahr-Feier tatsächlich interkonfessionell-ökumenisch begangen wurde. Einerseits wird geklagt, dass Religion zu Konflikten führe.

Andererseits geht man über ein solches historisches Geschehen einfach so darüber hin. Es gab anschließend manchen Rückblick auf das Jahr 2017, der diesen Umstand mit keiner Silbe streifte. Das ist nicht nur aus geschichtlicher Perspektive defizitär. (Und eine der eher betrüblichen spukhaften Fernwirkungen fehlender Religionskunde, s.o.)…

Es ist auch deshalb problematisch, weil in Redaktionen doch ja ein gewisses Sentiment und eine gewisse Kompetenz dafür vorhanden sein sollte, um gesellschaftliche Geschehnisse und Ereignisse einzuordnen und zu verstehen. Wie anders soll eine Redaktion sonst das Wesentliche vom Unwesentlichen im täglichen Nachrichtenwirbel unterscheiden – was doch eine der Hauptaufgaben der Presse ist!

Gestohlen wurde aber nicht nur Luthers Ruf. (In manchen Medien wurde er geradezu als dahergelaufener Hanswurst dargestellt.) Gestohlen wurde das 500-Jahr-Jubiläum insgesamt. Statt zu feiern oder wenigstens würdig zu gedenken, wurde oberlehrerhafter Geschichtsunterricht erteilt – und dieser auch noch falsch. Sowenig die kirchlich-religiöse Relevanz der fünfhundertjährigen Reformationsgeschichte verdeutlicht wurde, sowenig kam die umfassende Bedeutung für das weltliche Geschehen und Staatswesen zum Ausdruck.

Der Reformationstag ist auch ein säkularer Feiertag

Das vorliegende Posting soll aber hauptsächlich den Zweck verfolgen, zu zeigen dass der Reformationstag in jedem Fall ein staatlich-säkularer Feiertag ist. In der Feiertagsdebatte wurde teilweise die seltsame Alternative aufgemacht, ob man nicht einen „weltlichen“ Feiertag „frei“ machen sollte. Demgegenüber ist klar zu sagen: Der Reformationstag ist wie kein zweiter ein staatlich-säkularer Feiertag. Das ist er auch, neben und mit weiteren Feiertagsinhalten. Das ist er, obwohl er auch ein kirchlich-religiöser Feiertag ist. Genauer: Er ist es auch deswegen. Denn gerade die unabhängige Eigen-Gesetzlichkeit des Staates neben und unabhängig von der Kirche ist ja – insbesondere in Deutschland – eine Errungenschaft der Reformation! Dass solche grundlegenden Zusammenhänge nicht mehr präsent sind und nicht präsent gemacht wurden, ist ein weiteres großes 2017er Defizit.

Diesen und anderen diversen Defiziten von „2017“ mit detektivischer Gründlichkeit nachzugehen, steht also jetzt in nächster Zeit noch an. Denn die Auslassungen und Verdrehungen geschahen entweder in Unkenntnis oder in böser Absicht. Das sollte beides jedoch unbedingt „behoben“ werden.

Der Reformationstag in Norddeutschland

Staunenswert ist, dass die auffällige journalistische Kampagne völlig konträr zur Mehrheitsmeinung der Bevölkerung in Gang gesetzt wurde. Bereits Ende 2016 gab es diese repräsentative Umfrage der Deutschen Presse-Agentur dpa: 72 Prozent der Befragten gaben darin an, dass sie für die dauerhafte Einführung des Reformationstages als gesetzlichen Feiertag in ganz Deutschland sind. (Das ist das, was man in der üblichen Arithmetik eine Zwei-Drittel-Mehrheit nennt.)

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Repräsentative Umfrage

Reformationstag als dauerhafter Feiertag?

72 Prozent – Ja

17 Prozent – Nein

11 Prozent – ohne Meinung

Quelle: YouGov, dpa

Dezember 2016

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Es wundert somit nicht, dass sich die vier Regierungsschefs in Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein mit viel Lebensklugheit für den Reformationstag als Feiertag entschieden haben. Da zeigte sich gewiss viel landesväterliches Gespür. Sowie die schlichte Wahrheit, dass Parteien anders als Journalisten sich einer (Wieder-)Wahl stellen und sich gegenüber der Bevölkerung regelmäßig verantworten müssen. Weshalb einem Feiertag eben auch ein würdiges Gewicht zukommen muss. Der Reformationstag besitzt geschichtliche Bedeutung – über Jahrhunderte hinaus – und bietet dabei ein vielseitiges Themenspektrum, das seinesgleichen sucht.

Wie das Reformationsjubiläum gestohlen wurde

Als erster Zwischenertrag steht also fest:

1. Die Reformation / der Reformationsfeiertag ist schon deshalb ein staatlicher Feiertag und ein kirchlicher Feiertag, weil er / sie die Unterscheidung von Staat und Kirche demonstriert, historisch mit herbeigeführt hat und in Theorie und Praxis nachhaltig fundiert.

2. Von Schulpflicht über Sozialwesen bis zur Bedeutung des persönlichen Gewissens verdankt das heutige Gemeinwesen der Reformation so viel, dass eine Reformationsfeier wegen Themenarmut sicherlich nie langweilig werden muss.

3. Von all diesen Errungenschaften war 2017 kaum die Rede. Die große Frage ist: Warum?

4. Haltet den Dieb!

2017er Defizite

Schade in 2017 war, dass viele Berichte doch arg tendenziös bis einseitig ausfielen. Wenn sie nicht gleich ganz ausfielen, und über Berichtenswertes ganz geschwiegen wurde. Es gab ja durchaus vielseitige Bemühungen der verschiedenen Veranstalter, die oftmals direkt gegebene Anschlussfähigkeit reformatorischer Anliegen mit Gegenwartsfragen zu thematisieren. Die mediale Begleitung hielt sich allerdings in Grenzen.

Schon vor Eröffnung des Festjahres wurde von evangelischer Seite ausgegeben, dass man das Jahr

- international und weltoffen

- nicht triumphalistisch

- ökumenisch: kirchen- und konfessionsverbindend

begehen und gestalten wolle. Das ist dann auch geschehen. Über zwölf Monate hindurch gab es Veranstaltungen wie den „Europäischen Stationenweg“ durch 18 Länder. Der Tourplan führte durch 67 Städte in Europa wie Prag, Venedig oder Lubljana (Slowenien). Es gab bspw. Diskussionsrunden bei Themenwochen in Wittenberg zu „Menschenrechten“, „Medien“ „Europa“, die Rosa-Luxemburg-Stiftung bot ebenso Veranstaltungen an wie der Deutsche Kulturrat, 66 renommierte Künstler konnten in Wittenberg und Kassel als deutsches Novum sogar unbehelligt erstmals ohne jegliche Zensur (!) die Reformation thematisieren.

Das ökumenisch-konfessionsverbindende Element war bei den Feiern nicht nur evangelisch-katholisch gemeint, sondern bezog bewusst auch andere Konfessionen mit ein. Sichtlich war man auf Kirchenebene bemüht, jede Art von Polemik oder Konfrontation zu vermeiden. Stellenweise ging das bis an die Grenze der Selbstverleugnung. Dass es andererseits problematisch sein kann, wenn Errungenschaften nicht benannt werden, sollte sich jedoch noch zeigen.

Stattdessen blieb für manche Zeitungs-Entität 2017 Zeit, um manche Zeitungsente im Nachrichtenstrom losschwimmen zu lassen, wohl in der Meinung eine echte Ente tät dort schon nicht weiter auffallen.

Luthers friedliche Reformation

Manches Blatt schrieb, der Thesenanschlag von 1517 markiere den Beginn einer „blutigen Kirchenteilung“. Richtig ist: Die Reformation war überhaupt nicht blutig. (Blutig waren freilich die Versuche ihrer Unterdrückung). Vielmehr handelt es sich angesichts der Dimensionen um eine erstaunlich friedvolle Umwälzung.

In den Städten vollzog sich die Refornation zumeist in Rats-Abstimmungen und in den großen Landesreformationen wie z.B. Hessen, Brandenburg, Kursachsen, Sachsen usw., ohne dass „ein einziger Schuss gefallen“ ist.

Einer der Gründe für diese, gerade auch angesichts der enormen Ausmaße, wirklich staunenswerte friedliche „Revolution“ war sicher Luthers energisches Bestehen auf seinem Grundsatz: nur mit dem Wort, nicht mit Gewalt („sine vi sed verbo“, seit 1530 auch ein offizieller Bekenntnisgrundsatz der lutherischen Seite). Luther: „… sagen will ich's, schreiben will ich's, aber zwingen, mit Gewalt dringen will ich niemanden“. Luther setzt allein auf die Kraft des Wortes: „Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt und ausgerichtet.“ „Das hat, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philipp Melanchthon … getrunken habe, soviel getan“.

Luther: „Man lasse die Geister aufeinanderplatzen, aber die Faust haltet stille“

Blutig war jedoch in der Tat das Ansinnen des Kaisers, die reformatorischen Überzeugungen zu unterdrücken. Seit dem Wormser Edikt von 1521 droht der Kaiser der lutherischen Seite mit gewaltsamer Auslöschung und Unterdrückung. Diese Drohung wird 1530 nachdrücklich erneuert. Es ist schließlich 1546 – bezeichnenderweise erst nach Luthers Tod – der Kaiser, der militärisch gegen die reformatorisch gewordenen Landstände vorgeht.

Insoweit birgt die päpstliche Aussage am 31. Oktober 2016 in Lund, dass die Spaltung „in der Geschichte mehr durch Vertreter weltlicher Macht aufrecht erhalten“, verstetigt und so mit verursacht wurde, viel Weisheit in sich.

Luthers Ablehnung von Religionskriegen

„Wer von der Reformation spricht, muss auch von Religionskriegen sprechen.“, hieß es außerdem in manchem Blatt. Das ist allerdings ebenfalls kaum die halbe Wahrheit. Und vollends falsch, wenn damit behauptet sein soll, dass Martin Luther die Schuld an kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben werden könnte.

Luther schreibt seinem Landesherrn mehrfach, dass dieser keinesfalls wegen ihm zu den Waffen greifen sollte. In einer eigens verfassten Schrift ruft er auch seine „Anhänger“ ausdrücklich dazu auf, keinerlei gewaltsamen Aufstand, Aufruhr oder Ähnliches zu beginnen. Nicht einmal Widerstand solle Friedrich I. leisten, falls der Kaiser mit Truppen angreift. Der Kurfürst solle vielmehr seine „Kaiserliche Majestät lassen walten … wie sich's gebührt nach Reichs Ordnung, und ja nicht wehren noch widersetzen noch Widerstand oder irgendein Hindernis begehren gegen die Gewalt, so sie mich fangen oder töten will.“ (Brief an Kurfürst Friedrich den Weisen, bei der Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg, 1522).

(Nicht zuletzt sollte man auch vorsichtig sein, den sog. Dreißigjährigen Krieg von 1618-1648 etwa Martin Luther anzulasten. Nicht nur, dass dieses Ereignis gut 100 Jahre nach dem Thesenanschlag stattfindet – schon daher ist die direkte Zuschreibung einer Verursachung doch recht gewagt –, es ist auch so, dass zum Beispiel der als Auslöser geltende „Fenstersturz von Prag“ wohlgemerkt ein Ereignis in Böhmen ist. Böhmen sind aber, deshalb heißen sie so, Böhmen und nicht einfach Lutheraner. Will sagen: Wenn das Prager Ereignis als Kriegsauslöser genannt sein soll, so handelt es sich – wenn schon in großen Zeiträumen gedacht werden soll – zunächst um eine Fortsetzung der langwährenden hussitischen Streitigkeiten zwischen den böhmischen Herrschaften und den Anhängern des Jan Hus, beginnend mit dessen Verurteilung in Konstanz 1415 sowie der anschließenden Hussitenkriege von 1419-34 (Erster Prager Fenstersturz 1419), ein Ereignis, das also schon 100 Jahre vor der lutherischen Reformation stattfand und ebenfalls kaum Luther anzulasten ist. Doch ob der Dreißigjährige Krieg überhaupt als ein Religionskrieg im eigentlichen Sinn bezeichnet werden kann, ist bekanntlich generell umstritten. Also bitte nicht so schnell den armen Luther für etwas verantwortlich machen, wofür er nun wirklich nichts kann.)

Die durch das ganze Reformationsjahr anhaltende Diffamierungskampagne konnte Luther und den Seinen allerdings bei der Bevölkerung wenig anhaben:

Anfang November 2017 ergab eine (nicht-repräsentative) Umfrage der Nordwest-Zeitung 82 Prozent Zustimmung zu diesem Feiertag. Auch nach der Wahl in Niedersachsen und nach den Reformationsfeierlichkeiten wurde das Stimmungsbild Pro Reformationstag in diversen Umfragen also bestätigt.

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Umfrage

Reformationstag als gesetzlicher Feiertag?

82 Prozent für den Reformationstag


Quelle: NWZonline.de

November 2017

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Das Stimmungsbild ist also stets das gleiche: Ende 2016, Anfang 2017, Ende 2017. Weit über zwei Drittel der Bundesbürger sind für den Reformationsfeiertag. Das verstärkt somit für alle Hobby-Detektive nocheinmal die Frage, warum nun dennoch eine kontinuierliche Phantom-Debatte entstehen konnte. Die Diskussion um den neuen Feiertag ist daher gut geeignet, um den Kampagnenverdacht zu prüfen und einige prinzipielle Fragen durchzudeklinieren.

Ein Wählerauftrag, der besteht

In Niedersachsen sind bereits im Wahlkampf zur Landtagswahl vom 15. Oktober 2017 beide Spitzenkandidaten von CDU wie SPD mit der Aussage angetreten, einen neuen Feiertag einzuführen. Für die CDU waren dabei die Termine Buß- und Bettag oder Reformationstag gesetzt (siehe oben, Umfrage des NDR vom Frühjahr 2017), in der SPD wurde insbesondere der Reformationstag favorisiert. Im Wissen um diese Ankündigungen erhielten beide Parteien insgesamt 70,5 Prozent der Stimmen. Daraus spricht ein klarer Wählerauftrag. Geradezu ein Mandat für den neuen Feiertag.

Beide Parteien bilden derzeit in Niedersachsen ein Regierungsbündnis. Aber trotz der langen Vorgeschichte wurde der Vorwurf aufgebracht, es handele sich bei der jetzigen Empfehlung für den Reformationstag um eine übereilte „Vorfestlegung“, ohne Gelegenheit zur Diskussion. Dabei stand der Vorschlag zum Reformationsfeiertag sogar bereits seit Februar 2016 dank einer Idee des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) so im Raum. Er war dann im Wahlkampf Thema. Über zwei Jahre insgesamt stand es somit jedem frei, sich inhaltlich einzubringen.

70-85 Prozent Zustimmung – eine klare Sache, möchte man meinen. Doch gegen die Mehrheit der eigenen Leserschaft wurde von weiten Teilen der lokalen Presse an dieser Option gerüttelt. Das verrät, dass hier besondere Interessen vorzuherrschen scheinen. Woher kann das kommen?

Pressearbeit Oben gegen Unten

Der einer unreflektierten Medienschelte eher unverdächtige Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat kürzlich in einer Analyse herausgearbeitet, dass in Deutschland 62 Prozent der Journalisten- oder Redaktionsposten von Menschen mit eher linkspolitischer Einstellung besetzt werden.

Zwei typische Methoden der Berichterstattung führt er an: Skandalisieren und Verschweigen. An dieser Stelle muss also wohl die Detektivarbeit beginnen.

Kepplinger spricht von Entfremdung zwischen Pressevertretern und Publikum.

Skandalisieren und Verschweigen heißt dabei: Einzelsachverhalte werden künstlich aufgebauscht oder in bestimmter Weise zugespitzt, während andere Tatsachen kleingeredet, übergangen und zurückgehalten werden. Methoden, die sich auch im Jubiläumsjahr 2017 und in der Feiertagsdebatte an zahlreichen Stellen nachweisen lassen.

Medienkrise mit System

Allerdings zeitigt die unlautere Methodenwahl eine eindeutige Wirkung. Denn in der Folge befindet sich laut „Forsa Jahres-Umfrage“ Anfang 2018 das Vertrauen in die Medien weiter stark im Sinkflug. Presse, Radio und Fernsehen verloren wieder jeweils vier Prozent. Der Presse als Institution „vertrauen“ nur noch 40 Prozent der Bundesbürger. Dem Fernsehen sogar nur noch 28 Prozent.

Traurig genug; noch trauriger jedoch, wenn die Medien die Schuld dafür in mangelnder Medienkompetenz der Nutzer suchen (!?), oder wenn sich die Medienmacher sogar bedenkenlos auf diesem Level einrichten. So will es sich das ZDF mit einer von ihm selbst in Auftrag gegebenen Studie – das Prinzip solcher Studien kennt man ja – in der selbstgewählten Scheinwelt auch noch dauerhaft bequem machen: Das mangelnde Vertrauen wird dann einfach Hysterie“ genannt, für Änderungen bestünde dann also kein Anlass.

Man erkennt in der Studie zwar ausdrücklich die „Entfremdung“ zwischen Publikum und Medien an. Und versucht es doch weiterhin mit Selbsthypnose und Verharmlosung: „Immerhin 42 Prozent der Menschen vertrauen den etablierten Medien in wichtigen Fragen“, heißt es beschwichtigend beim ZDF.

Doch wenn ein Medium sich schon damit trösten muss, dass weniger als die Hälfte der Empfänger den Wahrheitsgehalt und die bloße Richtigkeit von Nachrichten annehmen, dann ist die Medienkrise wirklich da. (Denn, um den leicht hinkenden Vergleich zu einem anderen Medium und „Transportmittel von Inhalten“ heranzuziehen: Springt ein Auto weniger als jeden zweiten Tag vertrauenswürdig und verlässlich an, wechseln viele halt den Wagen.)

Diffamierungskampagnen

Deutlich spürbar gab es im Reformationsjahr 2017 die Tendenz, „Lutherthemen“ kleinzureden oder künstlich kleinzuhalten.

Die teilweise Heftigkeit der Kampagnen erklärt sich möglicherweise auch daraus, dass in 2017 in manchen Redaktionsbüros das Erwachen aus einer langen Lebenslüge stattgefunden hat: Man hat einfach zuviel (z.B. die eigene) Zeitung gelesen und der dortigen Behauptung, Kirche oder Religion verliere insgesamt an Bedeutung, tatsächlich geglaubt. Einer der häufigen Erzählstränge ging dabei so: Es gibt in Deutschland viele Kirchenaustritte. Der Gottesdienstbesuch sei schwach. Auch in Medien komme das Thema selten vor…

Zu Letzterem braucht man nicht viel zu sagen.

Über Gottesdienstbesuche wäre viel zu sagen (aber wegen der gewählten Themenstellung ist hier dafür kein Platz. Nur soviel:) Die Teilnahme am Kult (lat. cultus) ist gerade bei Protestanten nicht das entscheidende Argument. Luthers Reformation zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er die „Freiheit eines Christenmenschen“ mitten in den Lebensalltag stellt. Was nicht heißt, dass die Sonntagsfeier nicht höchste Bedeutung hätte. Schaut man sich Weihnachtsgottesdienste, Ostergottesdienste, Erntedankgottesdienste, Konfirmationen, Hochzeiten, Kantatengottesdienste und viele andere Gottesdienste, wie zum Beispiel jetzt auch Reformationsgottesdienste an, ist zudem auch das Pauschalurteil nicht richtig, Kirchen seien immer leer. Aber das ist ein weites, für diesen Kontext zu weites, Feld. In der Tendenz von einem Verschwinden kirchlicher oder religiöser Themen in der Bevölkerung zu sprechen, ist jedenfalls falsch.

Zeit für einen Exkurs in Sachen Mengenlehre.

Exkurs:

Nicht einen Trend schon als das Ergebnis des Trends annehmen

Zunächst: An dieser Stelle liegt offensichtlich die alte Problematik der Interpretation von Statistiken generell vor, dass man sehr leicht den Trend hin zu einem Ergebnis bereits als das Ergebnis selbst ansieht. Denn die puren Zahlen der Bevölkerungsstatistik sprechen ja eine ganz andere Sprache: Demnach zählen oder fühlen sich 61,6 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Konfession zugehörig (das sind knapp 50 Millionen), weitere 5-6 Millionen einer weiteren Religion (Zahlen von 2013).

Über 68 Prozent haben somit ein wie auch immer charakterisiertes „Band“ oder eine „Verbindung“ zu kirchlich-religiösen Themen. Auch dies ist nach klassischer Arithmetik eine zwei Drittel Mehrheit der Bevölkerung. Darüber hinaus heißt eine fehlende Kirchenzugehörigkeit ja bei weitem nicht, dass dort keine kirchlich-religiösen Thematiken von Relevanz wären. Es gibt im Gegenteil reihenweise Leute, die aus einer Kirche austreten, weil sie dort ihre spezifischen kirchlich-religiösen Anliegen zu kurz gekommen oder zu wenig adäquat aufgenommen sehen.

Auf die Frage „Glauben Sie an einen Gott?“ antworten in Westdeutschland 67 Prozent mit Ja, Gesamtdeutschland: 58 Prozent. (Quelle: statista.de) Aber auch mancher Atheist (s.o. Stichwort Armenfürsorge) weiß die Kirchen als Institution und etwa das Engagement von Diakonie und Caritas zu würdigen. (Nebenbei gesagt, zwei der größten Arbeitgeber in Deutschland.)

Frappierend an diesem Befund ist, dass daraus folgt, dass in den letzten 30-40 Jahren die Presse, Rundfunk sowie Fernsehen ständig quasi mindestens an der Hälfte der Bevölkerung permanent vorbeigeschrieben bzw. an ihr vorbei gesendet hat.

Kein Mensch schlägt heute ein Magazin oder eine Programmzeitschrift auf, um dort etwas Belastbares über religiöse Themen zu erfahren (wohl nur der öffentlich rechtliche Rundfunk ist hiervon in Teilen ausgenommen). Es ist auch betonterweise nicht der Anspruch eines dieser Medien, das zu leisten. Dabei wird indes auch sicher nicht erwartet, dass z.B. Unterhaltungsmedien keine Unterhaltung mehr anbieten. Aber dass z.B. die Nachrichtenabteilungen angesichts der oben skizzierten Mehrheitsverhältnisse überdimensional viele kirchenbezogene Themenbereiche systematisch ausblenden, die eigentlich auf der Tagesordnung wären, das scheint doch schon der Fall zu sein. Ende des Exkurses –

Sehr gut ins Bild passt dabei übrigens, dass in der Forsa Jahresumfrage auch das Vertrauen in die Amtskirchen weiter gelitten hat. (Denn diese weisen bei ihren eigentlichen „Kernaufgaben“ nun ja durchaus ebenfalls Defizite auf…)

Aber generell sind heutige Umfragen, wie gesagt, nicht der Handlungsmaßstab für Leute, die die Zukunft gestalten und gewinnen wollen.

Drei Beispiele emanzipatorischer Wirkungen der Reformation

Hier nun die versprochenen Beispiele für den emanzipatorischen „Drive“ der Reformation.

Frauenrechte

Es hat vermutlich in der Zeit vom 10. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine Einzelperson mehr für die Rechte der Frau effektiv bewirkt als Martin Luther, einfach schon dadurch, dass er den Schulbesuch gleichermaßen für Mädchen und Jungen einführt. (Ein nächster Schub ist in dieser Hinsicht wohl erst im Zutritt für Frauen zum Universitätsstudium zu sehen, das Ende des 19. Jahrhunderts (!) eingeführt wird, also erst über 350 Jahre später, oder im Frauenwahlrecht (Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert!). Luther war auch hier seiner Zeit um Jahrhunderte voraus.

Befreiung von klerikaler Über-Ordnung

Die Reformation befreit die damalige Gesellschaft in vielfacher Hinsicht von klerikaler Bevormundung und Überordnung. Dem Anspruch nach verstand sich die Kirche der Zeit in zahlreichen Fragen dem weltlichen Bereich gegenüber mit einer Oberhoheit ausgestattet. Die Kaiserwahl z.B. gilt formal erst nach der Krönung des „erwählten“ Oberhauptes durch den Papst als vollständig... Luther hingegen wendet sich 1520 entschieden gegen die 'Mär', dass kirchliches Recht über dem weltlichen Recht stehe.

Für die Territorien, die zur Reformation übertreten, bedeutet dies deshalb zugleich eine weitreichende Säkularisation oder Säkularisierung von Kirchengütern (aus diesem Kontext hat das Wort seine Bedeutung).

Das eingezogene Kirchengut mag zwar auch in die ein oder andere Ming-Vase in einer Fürstenresidenz eingeflossen sein, vor allem jedoch wurden die säkularisierten Güter zweckgebunden in Hessen z. B. für den Aufbau eines staatlichen Sozialwesens, die Errichtung von Schulen und für die Gründung der Marburger Universität, eingesetzt.

Emanzipatorisch kann sich der frühneuzeitliche Staat durch, dank und mit der Reformation von der Kirche daher ein gutes Stück weit absetzen. Was „Linke“ heute so gerne fordern, hat die Reformation damals theoretisch begründet und praktisch umgesetzt. Mancher deutsche Papst hat hier übrigens 500 Jahre später, was die „Entweltlichung der Kirche“ anbetrifft, ganz ähnlich argumentiert...

Demokratie und Religionsfreiheit

Die Stadtreformationen in Reutlingen und Nürnberg können als Beispiel dafür gelten, wie in der Reformation wichtige Grundsätze der Demokratie und Religionsfreiheit eingeübt, erstritten und durchgesetzt wurden. In Reutlingen und in Nürnberg, als den beiden Reichsstädten, die auch auf dem Reichstag 1530 dem Kaiser gegenüber standhaft bleiben, wurde die Reformation auf Drängen der Bürgerschaft nach Abstimmungen im jeweiligen Rat der Stadt eingeführt.

Sowohl Reutlingen (im heutigen Baden-Württemberg) als auch Nürnberg (im heutigen Bayern gelegen) gelingt es somit gleichzeitig den Wechsel herbeizuführen, ohne eine umstürzlerische „Revolte“ mit hohem Blutzoll anzetteln zu müssen. Bis heute vorbildhaft.

Geradezu eine demokratische Urszene kann man im Reutlinger Markteid 1524 erblicken.

Im Jahr 1524 initiieren die Bürger trotz drohender Nachteile und trotz Vorbehalten in der städtischen Obrigkeit, die Einführung der Reformation durch gemeinsamen Beschluss.

Versammlungen aus der städtischen Gemeinde sind es auch in anderen Orten wie z.B. Konstanz, Goslar oder Weißenburg in Bayern, die den gemeinsamen Entscheid zur Reformation herbeiführen.

Wenn man die geschichtliche Ausgangslage dabei nicht verdrängt, dass es damals nämlich eine Monopolstellung in Religionssachen mit weitreichenden Sanktionierungen seitens weltlicher und kirchlicher Macht gegeben hat, kann man diese Abstimmungen in Gemeinden – oftmals nach vorhergehender öffentlicher Disputation – auch als Ausdruck von Ausübung von Religionsfreiheit deuten.

In Nürnberg ist es ein im Rathaus stattfindendes „Religionsgespräch“ das 1525 wesentlich zur Einführung der Reformation führt. Bürger wie Albrecht Dürer, der Meistersänger Hans Sachs, der Ratsschreiber Lazarus Spengler setzen sich für Luthers Lehre ein. Durch Abstimmungen im Rat kommt es auch in vielen anderen Städten zur Reformation: Braunschweig, Hannover, Lübeck, Wismar u.v.a.

Die Stadtreformationen geben damit zugleich eine wirkungsvolle Vorlage zur freien Religionsverantwortung von den Speyrer Reichstagen (1526, 1529) mit der „Protestation“, über den Augsburger Reichstag (1530), bis zur erstmaligen Anerkennung – erst – im Augsburger Frieden 1555.

(Nebenbei: Für Religionsfreiheit gibt es bekanntlich seit ca. 50 Jahren und mit den drei letzten Päpsten kaum einen größeren Verfechter als den Vatikan.)

Übrigens Luther

„Linke würden heute Luther wählen“, hieß es vorher. Aber Luther wäre nicht Luther, würde er nicht auch für Konservative etliches bereithalten. Weil es 2017 doch ein wenig untergegangen ist, muss erneut darauf hingewiesen werden, dass es übrigens Luther war, der Deutschland zu einer Kulturnation machte. Gab es vor Martin Luther deutsche Literatur? Eigentlich kaum. In Deutschland hausten auch sprachlich die Barbaren… Für die deutsche und europäische Sprachgeschichte ist der Beitrag der Reformation unbestritten. Luther selbst war und ist bis heute einer der größten Literaten deutscher Zunge. Da es vorher wenig gab, schuf er das Deutsche als große Literatursprache ganz einfach selbst. Hier ist wieder an Heinrich Heine zu erinnern, der emphatisch betont, dass „ganz eigentlich die schöne Literatur mit Luther beginnt.“ 1 Und quasi nebenbei zurrt er im Zuge der Wartburgübersetzung Entscheidendes der deutschen Schriftsprache fest. Von Rotzlöffel bis Denkmal hat er zahlreiche Worterfindungen in den deutschen Sprachschatz eingebracht. 2017 hat er es dafür als ausgleichende Gerechtigkeit selbst zum viel gebrauchten deutschen Verb gebracht: „luthern“...

„Unsere Sprache verdanken wir keinem mehr, als Luthern“, wusste Jakob Grimm, der Herausgeber des Deutschen Wörterbuch DWB und geistige Ahnherr der deutschen Philologie. Mit Poesie und Sprachkraft und seinem Prinzip „dem Volk aufs Maul zu schauen“ war er einer der ersten Volksschriftsteller von Rang. Einer der Meistgelesenen bis heute ohnehin. Ein Großteil der deutschen Geistesgeschichte ist ja überhaupt nicht auch nur ansatzweise zu verstehen ohne Luther.

Auch Konservative würden heute Luther wählen, wäre er eine Partei.

Die Popularität von Luther bis in die Gegenwart zeigte sich auch im Jubiläumsjahr in puren Zahlen, wie:

- knapp 2 Millionen beim „Luther-Oratorium“ (1,9 Mio, als Mitwirkende oder Zuschauer)

- oder die 3 Millionen Besucher in Museen.

Phantom-Debatte

Im Zuge der 500-Jahr-Feiern immer wieder hervorgehoben: Dass die Feiern nicht triumphalistisch angelegt waren. Das war in gewisser Weise richtig und ist viel gelobt worden. Allen Miesmachern sei allerdings verraten, dass in dieser Aussage ebenso drinsteckt, dass man ein Reformationsgedenken (auch heute, ganz ohne falsche Zungenschläge) triumphal gestalten könnte, wenn man wollte...

Vieles an der Feiertagsdebatte hatte etwas von aufgebauschter Stimmungsmache, teilweise einhergehend mit einer geradezu wahnhaften Reduzierung der Reformation auf Einzelthemen, die für die Reformationsgeschichte eigentlich vollständig abseitig sind. Das verrät, wie so häufig, mehr über die heutigen Zeitgenossen, als über die in den Blick genommenen historischen Ereignisse. Davon wird noch separat zu reden sein.

Für den Stadtstaat Hamburg wurde auf dem Onlineportal der mopo.de (Hamburger Morgenpost) scheinbar ohne jeden Anflug von Ironie ganz ernsthaft (!) der 14. Juli – der „Sturm auf die Bastille“ – als möglicher Feiertag genannt. Vermutlich weil der letzte Urlaub nach Südfrankreich führte (liegt wie Hamburg auch am Wasser), und der Besuch in Grenoble (hat mit der Isère auch einen Fluss, das is'sehr verbindend) an einem stürmischen Tag stattfand, weshalb die Fahrt mit der Gondel hoch zur Bastille einen erfrischenden Überblick über geschichtliche Zusammenhänge zwischen frankophonen Zonen und deutsch-französischen Partnerstädten wie Essen und Grenoble nahelegt, das hat geschmeckt. (Alle Informationen nach wikipedia.de.)

Und warum andererseits nun ausgerechnet die gut motorisierte Wirtschaft Niedersachsens so hartnäckig einem Feiertag widerstrebt, lässt ebenfalls aufmerken.

Hier wäre wohl recht und billig, dass die gesamte Republik herbei-eile und den Volksstämmen der so niedergehaltenen Sachsen aufhelfe wider solche Tyrannei und spreche: Auch Du, Land der Niedersachsen, sollst einen zehnten Feiertag mit gutem Gewissen Dein eigen nennen.

Einige reden hier sogar so, als würde der Maschsee einstürzen, wenn ein weiterer Feiertag kommt. Demgegenüber ist festzuhalten: Der Maschsee wird aber sicher nicht einstürzen!

Wo aber die Wirtschaft weiter gar so unnachgiebig auf ihrer Position beharrt, ausgerechnet in Zeiten von boomenden Exporten, Haushaltsüberschüssen, florierendem Wirtschaftswachstum, und Höchstständen bei Börsen und bei gehorteten Privatvermögen es sich „leistet“, alles auf den ökonomischen Zweck zu reduzieren, ist vielleicht die Frage, ob nicht doch nochmals eine Debatte rund um hohe Manager-Boni und anderes in breiter Form zu führen wäre.

Wie generell das Thema „Ethik in der Wirtschaft“ wohl ein weiterer guter Grund und aktueller Anlass für einen Feiertag wie den Reformationsfeiertag wäre.

Anhaltend hohe Zustimmung zum Reformationsfeiertag

Umfrageritis zum Vierten: Auch im Januar 2018 erhält der Reformationsfeiertag weiterhin konstant hohe Zustimmungswerte.

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Online-Umfrage

Soll der 31. Oktober Feiertag werden?

Ja, auf jeden Fall! 82 Prozent

Unentschieden 4 Prozent

Nein, das ist wirklich nicht nötig 14 Prozent

Quelle: Bild.de
(7600 Teilnehmer)

Umfrage vom Ende Januar 2018 (Tag nach der Bekanntgabe der Regierungs-Chefs der Nordländer, den Reformationstag als Feiertag anzustreben)

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Wie gesagt: Noch höhere Werte kann man sich als Befürworter einer Sache fast nicht wünschen.

Der Reformationstag ist daher auch bundesweit als Feiertag zurecht „im Plan“.

Denn schon ist auch außerhalb der Nordländer die Diskussion im Gange. Hessen. Berlin. Wobei die capitale Hauptstadt – schon aufgrund möglicher spukhafter Fernwirkungen – besonderes Augenmerk verdient. Manche argumentieren, ein Feiertag müsse sich nach den konfessionellen Mehrheitsverhältnissen orientieren (statt historischer Begründungen). Aber hat eine Capitale nicht auch Vorbildfunktion? Von den Errungenschaften der Reformation haben auch die Berliner über Jahrhunderte profitieren können. Nicht zuletzt beim Schulwesen (außer in den letzten zehn Jahren beim Unterricht von Religion).

Wie in Hessen hat sich wohl auch herumgesprochen, dass man (siehe Niedersachsen) mit dem Reformationstag Wahlen gewinnen kann…

Die Chancen für einen bundesweiten Reformationstag stehen deshalb wohl gar nicht schlecht.

Der Reformationstag als Identifikation stiftender bundesweiter Feiertag

Die grundlegende Verankerung des Reformationsfeiertags in Ostdeutschland ist dabei nicht geringzuschätzen.

Er ist schon jetzt ein echter Ost-Westimport, der verbindend über die frühere „Zonengrenze“ wirkt. Man könnte seine bundesweite Einführung sogar als eine späte Anerkennung der lutherisch-kirchlichen „Graswurzel-Entwicklung“ ansehen, die bei der Wende 1989 – sechs Jahre nach den 450-Jahr-Feiern des Luthergeburtstags im Jahr 1983 – ja einen gewissen Anteil an der Überwindung der deutschen Teilung hatte.

Der Reformationstag steht aber nicht nur für innerdeutsche Verständigung. Er ist auch ein Tag, der Brücken nach Europa schlägt: Nach Slowenien, Tschechien, Schweden, Norwegen, Dänemark und den Niederlanden, Finnland nicht zu vergessen. Ebenso ins Baltikum (insbesondere Estland, Lettland).

Er ist zudem ein Tag, der Deutschland global mit der halben Welt verbindet, sei es Chile, Korea oder Indonesien.

Mit Afrika.

Und zählt man die – teilweise leider auf halbem Wege abgebrochenen – Verständigungsversuche lutherischer Vertreter etwa in Richtung Konstantinopel mit dazu, führt auch eine Spur in die orthodoxe Welt des Orients.

Je nachdem, ob auch stilvoll Tee trinkende Briten bei Reformationsfeiern zugelassen sein sollten, kann der Feiertag zudem bis ins protestantische England und von dort ins gesamte ehemalige Commonwealth ausstrahlen (mit der „Meissener Erklärung“ wurde 1988 immerhin eine enge Kirchengemeinschaft zur Church of England deklariert).

Bei so viel Internationalität passt der Feiertag auch gut in Berlin Mitte.

Er könnte sogar den ein oder anderen Gesprächsfaden in die neue alte Welt in Übersee auslegen.

Der so verstandene Reformationstag steht für ein Deutschland bzw. für einen Staat

- mit Verantwortung und Gewissen

- mit Kultur und Kunst, Musik und Wissenschaft

- mit einer sozialen Ader und arbeitsamer Tüchtigkeit

aufgrund

- einer starken, soliden Rechts- und Friedensordnung

- fein organisiert

- aus einem wachen Geist in gesunder Balance und Unterschiedenheit von öffentlicher Politik und persönlicher Gotteszuversicht

- aus wohlgegründetem (nicht nur Arbeits-)Ethos, und doch der (gottgewollten) Lebensfreude und dem Genuss eines guten Biers zur rechten Zeit nicht abgeneigt.

Der Reformationstag ist eben auch ein säkularer Feiertag.

Nicht zuletzt in der Art, wie der Reformationstag an der gesellschaftlichen Basis 2017 zumindest teilweise begangen wurde,

- in der Kombination von geschichtlicher Bedeutsamkeit und Gegenwartsimpuls,

- in der durch die Reformation selbst induzierten Unterschiedenheit von kirchlich-religiöser „Domäne“ und weltlichem Bereich,

- unter Teilnahme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen,

kann dieser gesetzliche Feiertag für Deutschland im 21. Jahrhundert sogar identitätsstiftend sein und werden.

Er wäre ein weiteres Geschenk an uns unzivilisierte germanische Barbaren. Das könnte eine durchaus schöne Fernwirkung sein.

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Anmerkung 1:

Heinrich Heine über Martin Luther

„Ich habe oben gezeigt, wie wir durch ihn zur größten Denkfreiheit gelangt. Aber dieser Martin Luther gab uns nicht bloß die Freiheit der Bewegung, sondern auch das Mittel der Bewegung; dem Geist gab er nämlich einen Leib. Er gab dem Gedanken auch das Wort. Er schuf die deutsche Sprache.“

Dabei war Luther ausgestattet mit einer „Kraft, aus einer toten Sprache [wie der Griechischen oder der Lateinischen], die gleichsam schon begraben war, in eine andere Sprache zu übersetzen, die noch gar nicht lebte [wie dem Deutschen].“

„Ich habe gezeigt, wie wir unserm teuern Doktor Martin Luther die Geistesfreiheit verdanken, welche die neuere Literatur zu ihrer Entfaltung bedurfte. Ich habe gezeigt, wie er uns auch das Wort schuf, die Sprache, worin diese neue Literatur sich aussprechen konnte. Ich habe jetzt nur noch hinzuzufügen, daß er auch selber diese Literatur eröffnet, daß diese und ganz eigentlich die schöne Literatur mit Luther beginnt.“

„Wer über die neuere deutsche Literatur reden will, muß daher mit Luther beginnen.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

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