Widersprüchliche Gleichheit der Geschlechter

Marokkos moderne Frauen Ein kritischer Blick der neuen Generation auf die Lage der Gesellschaft

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Das märchenhafte Bild, was die westliche Bevölkerung von einer Frau aus dem Orient erwartet, entspricht oftmals dem eines typischen Harems: Zwanzig Frauen, die in einem großen Zimmer eingesperrt sind und nur auf ihren Mann warten. Des Weiteren verbringen sie ihren Tag damit, Couscous zuzubereiten und zu putzen. Währenddessen arbeitet der Gatte am Morgen und trifft sich nachmittags mit seinen Kollegen auf einen Minze-Tee und Joint im Stammkaffee. Keine Frage, dass dieses Bild klischeehaft ist. Doch jedes Klischee hat seinen Ursprung, und diesen Ursprung gilt es zu erfassen. Ist Arabisch-Sein gleichzustellen mit der Unterdrückung der Frau? Man nehme das Land Marokko als Beispiel dafür, um der Frage auf den Grund zu gehen, wie es um die Stellung der Frau in der arabischen Welt steht.

In Marokko herrscht eine Hierarchie in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis – die Frau ist nicht natürlich gleichgestellt mit dem Mann. Ihre Stellung beruht mehr auf Einschränkungen als auf Rechten. Um den Grund dafür zu finden, muss man unter anderem einen Blick auf die islamische Prägung der Bevölkerung werfen, auf welcher sowohl Verfassung und Gesetz als auch die Einstellungen weiter Teile der Bevölkerung beruhen. Die marokkanischen Frauen sind die zweitemanzipiertesten der arabischen Welt. Dies wirkt jedoch ein wenig paradox, wenn man bemerkt, dass hier stark ausgeprägte patriarchalische und religiöse Strukturen herrschen. Der Großteil der Frauen, die man auf der Straße trifft, trägt Kopftuch, in vielen traditionellen Cafés sind Frauen schlecht angesehen und häusliche Gewalt fällt nicht unter Anklagerecht. So kommt es auch, dass Marokko im Global Gender Gap Report von 2016 nur auf Rang 137 von 144 liegt.[1]

WAR MOHAMMED EIN FEMINIST?

Erst einmal ist es interessant herauszufinden, wie die Religion die Stellung der Frau beschreibt. Dazu liegt es nahe, einen genauen Blick auf die Vorschriften zu werfen, die der Koran, bzw. die Scharia verlangen. Zum einen sagt die heilige Schrift der Moslems, dass der Sinn der Erschaffung der Frau die sexuelle Befriedigung des Mannes ist (Sure 7,189), außerdem die Hervorbringung (männlicher) Nachkommen (Sure 16,72). Auch sollen sich Männer von ungläubigen Frauen fernhalten (Sure 2, 221/222). Des Weiteren ist für Männer Polygamie bis zu vier Frauen erlaubt, für Frauen jedoch nicht. Auch soll die Frau ihren „Schmuck“ verdecken. (Sure 24, 31). Entscheidend ist jedoch, dass sie gegenüber Allah gleichgestellt ist mit dem Mann (Sure 3, 198).

Diese Koranstellen sind zwar teilweise Fakt, werden jedoch immer wieder neu interpretiert – so dass die Originalfassung schon gar nicht mehr existiert. Fatima Mernissi, Marokkanische Soziologin, Autorin und Feministin, hat diese Koranstellen auf ihre Bedeutung früher und heute hin untersucht. In ihrem Buch Der Politische Harem betont sie, dass im frühen Koran die Gleichstellung zwischen Mann und Frau deutlich zu erkennen ist. Vor allem Mohammeds (beide) Frauen traten für ihre Rechte ein und bestimmten die Politik mit. Weiterhin wurde von dem Propheten der Anspruch vermittelt, dass derjenige am besten ist, der seine Frau am besten behandelt – außerdem äußert er sich klar dazu, dass auch die Frau den Geschlechtsverkehr genießen solle. Danach könne man den Propheten in gewisser Weise als Feministen betrachten, behauptet die Wissenschaftlerin Shereen El Feki[2]. Nach seinem Tod änderten sich jedoch schnell die Sitten: der spätere Kalif Omar, der allgemein als Vorbild galt, war bekannt dafür, dass er Frauen schlug. Die muslimische geprägte Bevölkerung richtete sich nach seinen Ideen, welche sich unter der Herrschaft der Omayyaden um 681 noch verstärkten und die für das islamische Rechte, die Scharia, maßgeblich wurde. Das Resultat war die wachsende Verschleierung der Frau, verbunden mit ihrer teilweisen Wegsperrung aus der Öffentlichkeit. Das Ergebnis der Korananalyse ist also, dass das Buch offiziell keine Frauenunterdrückung rechtfertigt, sondern es vielmehr die männlichen Religionsgelehrten seien, die das Buch über tausend Jahre in ihrem Sinne interpretiert und zur Unterdrückung der Frau missbraucht haben. So etablierte sich zum Beispiel auch die Interpretation des Verdecken des „Schmuckes“ als Verschleierung der Haare – was bis heute mehr als aktuell, fast schon „hip“ ist. Der Glauben wird sichtbar ausgelebt.

Das autoritäre System Marokkos fußt stark auf der mittelalterlichen Scharia, weniger auf dem Koran selbst, und da so auch das marokkanische Recht sehr eng mit der Scharia verknüpft ist, fällt die Interpretation des Islams real durchaus ins Gewicht, allein, da schon in Präambel und Artikel I der Verfassung die Bewahrung der „unabänderlichen nationalen, muslimischen Identität” betont wird. Dies ist ein widerstreitendes Prinzip zu der Universalität der Menschenrechte, zu der sich die Regierung 1993 durch die Ratifizierung der UN-Konvention verpflichtet hat und die die Eliminierung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen verlangt. Des Weiteren wurde 2004 – nach Jahren des Kampfes, ausgehend von Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsorganisationen – die neue Moudawana, das Familiengesetzt, gültig, welches die bis dahin geltenden Regelungen reformierte. Der Weg hin zu dieser Erneuerung war lang und es ist fragwürdig, ob das Gesetz real etwas an der Situation geändert hat oder nur auf dem Papier existiert. Zunächst: Welche Rechte räumen die offiziellen, neuen Vorschriften der Frau ein – und was ist gleich geblieben?

GLEICHBERECHTIGUNG: REALITÄT ODER NUR AUF DEM PAPIER?

Am wichtigsten ist wohl die neue, rechtliche Gleichstellung von Ehemann und Ehefrau, die bis dahin schlichtweg nicht existent war. Auch ist die Frau verantwortlich für sich selbst und nicht mehr angewiesen auf Meinung und Einkommen des Mannes, kurz: sie muss ihm nicht mehr gehorchen und darf selber darüber bestimmen, ob sie arbeiten möchte oder nicht. Auch über die Hochzeit kann sie neuerdings selber entscheiden (Wilaya), die vorherige Bevormundung durch den Vater ist nicht mehr obligatorisch. Zunächst hieß es auch, dass beide Ehepartner volljährig sein müssten – nur ein richterlicher Beschluss könne die Hochzeit mit Minderjährigen erlauben. Inzwischen hat sich das Mindestalter jedoch wieder auf sechzehn gesenkt. Ferner ist auch die Eheschließung noch mit dem islamischen Recht verknüpft – konkret bedeutet dies, dass sich der Mann zwar auch mit christlichen und jüdischen Frauen verheiraten darf, die Frau sich aber einen muslimischen Mann suchen muss. Wenn nicht, darf die Eheschließung nicht anerkannt werden. Polygamie-Rechte existieren offiziell noch, sind aber eingeschränkt: der Mann darf mit Bestätigung des Gerichts vier Frauen gleichzeitig haben, muss sie aber alle gleich behandeln. Auch darf sich die Frau nun mit richterlichem Beschluss scheiden lassen, die Entscheidung liegt nicht mehr nur beim Ehegatten. Nach der Scheidung liegt das Kinderrecht nach der neuen Regel in der Obhut der Mutter, die Bevormundung jedoch noch immer beim Vater. Ebenfalls finanziell hat sie noch immer Defizite, eine Frau erbt nur die Hälfte von dem, was ein Mann erbt.

Eingebetteter Medieninhalt

Soweit, so gut. Doch hat man den Eindruck, dass dieses Gesetz nicht unbedingt bahnbrechend ist. Es ist erschaffen worden, um die Proteste einzudämmen und ein positives und offenes Bild zu vermitteln – die Frau muss jedoch noch immer Freiheitseinschränkungen über sich ergehen lassen. Es wirkt durchaus widersprüchlich, wenn die Nachrichten 2014 berichten, dass zwei marokkanische Mädchen verhaftet wurden, da sie im Minirock durch die Straßen von Inzegane promeniert sind. Sex vor der Ehe ist ebenfalls nach dem Artikel 490 des Gesetzbuches noch untersagt und wird mit bis zu einem Jahr Freiheitsentzug bestraft. Es erscheint absurd, dass jedoch meist die Frau, in den wenigsten Fällen jedoch der Mann bestraft wird. Mit diesem Gesetz hängt die aussichtlose Situation für nicht-eheliche Kinder zusammen – die von der Gesellschaft sowie vom Staat so gut wie nicht anerkannt werden und keine Rechte besitzen. Auch wurden 2009-2010 sechs Millionen marokkanischen Frauen Gewalt zugefügt – physisch sowie psychisch. Diese hohe Quote ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass auch das neue Familiengesetz Gewalt an Frauen in keiner Weise regelt oder verbietet, das Thema wird schlicht ignoriert. Selbst sollte die Beschädigte daraufhin zur Polizei gehen, ist eine Strafverfolgung also keineswegs gesichert.[3] Hinzu kommt, dass Abtreibung nur bei unmittelbarer Todesgefahr der Mutter erlaubt ist. Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung gilt dabei nicht als Ausnahme der Regel, auch sagt der Paragraf 475, dass bei einer Hochzeit mit dem Vergewaltiger dieser straffrei bleibt, quasi als „Wiedergutmachung“. Bekannt wurde die 16-Jährige Amina Filali, die 2012 Suizid beging, nachdem sie ihren Vergewaltiger heiraten musste.[4] Scheinbar besteht also ein aussichtsloser Zusammenhang zwischen dem Gesetz gegen nicht-ehelichen Sex und der Vergewaltigung. Wurde das Mädchen einmal misshandelt, gilt sie als „unrein“ und niemand würde es überhaupt noch in Betracht ziehen, sie zur Frau zu nehmen. Außerdem sei „nicht immer […] eine Ehe, die aus einer Vergewaltigung stammt, schlecht“, sagt Familienministerin Bassima Hakkaoui. So liegt jede Schuld also bei der Frau. SIE trägt die falsche, zu aufreizende Kleidung, SIE trägt die Schuld an ihrer eigenen Vergewaltigung. Die Familien legen ihren Töchtern Ausgangssperren auf, damit sie sicher sind. Das Kopftuch wird aufgrund des Selbstschutzes getragen, ja, sogar als Zeichen der Emanzipation. Die Konsequenz des Benehmens der Männer ist also umso mehr die Unterdrückung der Frau – während dem männlichen Geschlecht niemand sagt, wie es sich zu benehmen hat. Dies bietet genug Potential, um den giftigen Mix aus Religion und Kultur anzuprangern.

EIN AUSSICHTSLOSER KAMPF?

Insgesamt sollen die Gesetze also theoretisch eine Verbesserung der Lage der Frau darstellen – das Problem liegt in der auf der Handliegenden Widersprüchlichkeit sowie in der praktischen Umsetzung. Religion, Mentalität und Tradition sind in den Köpfen der meisten Marokkaner noch tief verankert. Dies bedeutet konkret zum einen, dass die Falschinterpretation des Korans über das staatliche Gesetz gestellt wird, nach dem Motto: Religionsjustiz vor Staatsjustiz. Danach handeln sowohl Polizei als auch Gericht leider noch oftmals: Korruption ist ein verbreitetes Phänomen. Zum anderen ist der Grund in der mangelnden Bildung zu finden – die meisten Menschen kriegen von neuen Gesetzesänderungen schlichtweg nichts mit, bleiben uninformiert. Dieser Grund spielt zusammen mit der Tatsache, das Frauen schlichtweg keinen Gebrauch von ihren neuen Rechten machen, sie klagen nicht. So zum Beispiel das neue Recht auf Entscheidungsfreiheit in Bezug auf Arbeit: Auch wenn der Mann dies heutzutage noch verbietet, geht die Frau nicht dagegen vor. Sei es aus Angst vor der Scheidung oder auch, weil ebenso für die Frau die Tradition noch fest verankert ist und diese einfach nicht hinterfragt oder angezweifelt wird. Sie akzeptiert. Auf Grund dieses Fehlens der praktischen Umsetzung und der Tatsache, dass so eine Verbesserung der Lage fast aussichtslos erscheint, hat sich Amina Filali umgebracht: aus Verzweiflung und Frust

Die junge Generation wächst jedoch mit einem neuen Verständnis der Lage heran. Junge, gebildete Frauen sowie Männer kritisieren die Lage und sind über die (eingeschränkten) Rechte der Frau aufgeklärt. Da von offizieller Seite her keine Hilfe zu erwarten ist, holt sich die Frau ihre Freiheit halt selbst und macht ihre Revolution im Detail. Sie studieren, anstatt zu Hause zu bleiben und den Haushalt zu machen. Sie gehen in Cafés und rauchen Zigaretten. Sie halten sich in Jungs-Cliquen auf und bleiben nicht nur „unter sich“. Sie tragen moderne Kleidung und reisen. Es ist eine Revolution im Kleinen, die erfolgreicher erscheint als frustriert gegen die strikte Mischung aus „Mentalitäten“ und Rechten anzukämpfen. Die moderne Frau erschafft sich ihren Raum zur Entfaltung, auch wenn die Rahmenbedingungen dies nicht einfach machen. Seit ein paar Jahren gibt es Organisationen, die Hilfe, Bildung und Platz zum Austausch anbieten – so, dass Frau nicht mehr alleine ist mit ihren Problemen und eine Chance bekommt, ihre Selbständigkeit zu entfalten. Ein gutes Vorbild bieten die Frauenrechtsorganisationen Darna und UAF. Abgesehen von psychischer Unterstützung verlangen sie Veränderung von juristischer Seite, setzen sich so z.B. für die Frauenquote im Job ein. Auch das Internet hilft und kreiert Möglichkeiten, so berichtet das feministische Onlinemagazin Quandisha.ma teils kritisch, teils satirisch über das Thema. Die neue Generation der Frau: Sie erwacht, macht sich bemerkbar und ist mehr und mehr aktiv bereit, etwas zu verändern.

Nadia Hafez

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