Er ist die letzte Hoffnung der Menschheit. Irgendwo im Nirgendwo, das an eine pastoral-dystopische Version Islands erinnert. Sam Porter Bridges, dargestellt von Schauspieler Norman Reedus, bekannt durch die Zombie-Serie The Walking Dead, streift als postapokalyptischer Kurier durch das verwaiste grün-graue Hochland, um die Überlebenden einer zersplitterten Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Das 2019 erschienene Videospiel Death Stranding wurde von Ausnahme-Spieleentwickler Hideo Kojima erdacht, der sich in der Branche mit anspruchsvollen, ja intellektuellen Zugängen zu Spielen einen Namen gemacht hat. Laut einschlägigen Kritiken ist das Game ein „ästhetisches Meisterwerk“ und gewann mehrere Preise. Als Retter einer fragmentierten Menschheit errichte
Fatale Ignoranz von Schleichwerbung in der Spieleindustrie
Gamescom Energy-Drinks, teure Lamborghinis: Die Branche jubelt uns in ihren Spielen die Produkte großer Firmen unter – oft ist das illegal. Wieso spielt das auf der diesjährigen Messe in Köln keine Rolle?

Einer von drei Milliarden Menschen, die daddeln – verwundbarste Zielscheibe von Spiele- und Werbeindustrie sind Kinder
Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus
n Menschheit errichten die Spielenden in der Rolle von Sam Porter Bridges eine neue Kommunikationsinfrastruktur und bringen überlebenswichtige Güter von A nach B. Der Soundtrack ist sehnsuchtsvoll, der Horizont weit. Die Mission: hoffnungslos.Dann kommt es zum Bruch. Sam Porter Bridges erreicht einen der Unterschlüpfe, die man im Spiel nach und nach freischalten kann. Und was gönnt er sich dort erst mal? Einen „Monster Energy“-Drink.Vom 23. bis zum 28. August findet die diesjährige Gamescom 2023 in Köln statt. Mehr als 1.200 Aussteller sind an Bord und präsentieren ihre Spiele. Viel wird da geredet über KI, 3D-Technologie und Virtual Reality. Dabei geht eine Frage unter: Welche Ausmaße hat Schleichwerbung in Spielen mittlerweile angenommen? Wer profitiert davon am meisten?Todesfälle in den USA werden mit Energydrinks in Verbindung gebrachtIn der kargen Welt von Death Stranding ist alles rar. Was dagegen im Überfluss vorhanden ist: die Produkte des US-amerikanischen Energydrink-Unternehmens Monster Beverage. In den Safe Houses der Spielwelt, in denen sich der Charakter ausruhen und seine Ausrüstung organisieren kann, stehen die Dosen überall, können getrunken werden und verschaffen einen Bonus auf das Durchhaltevermögen der Spielfigur. Eine Dose gibt zehn Prozent mehr Durchhaltevermögen. Wer drei Dosen trinkt, bekommt gleich 25 Prozent.Schnell wird das gerade im Kontext des nachdenklichen Spiels bizarr wirkende Element in der Community kritisiert. Immerhin regt es zum Konsum eines Getränks an, das in der Vergangenheit schon für einige Schlagzeilen sorgte, nachdem es in den USA zu mehreren Todesfällen kam, die mit dem Energydrink in Verbindung gebracht wurden. Gerade der hohe Koffeingehalt in Kombination mit anderen Inhaltsstoffen kann in höheren Dosen gefährlich werden. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt deshalb, die Abgabe von Energydrinks an Kinder und Jugendliche ganz zu verbieten. Auch die deutsche Verbraucherzentrale warnt.Aber wie viel Schleichwerbung in Spielen ist eigentlich in Ordnung? „Die eine gesetzliche Regel für In-Game-Werbung gibt es leider nicht“, erklärt Laura Braam von der Landesanstalt für Medien NRW. „Es müssen Gesetze aus verschiedenen Rechtsakten auf den jeweiligen Einzelfall angewendet werden, also zum Beispiel online andere als offline.“ Da wird es schnell kompliziert. Abhängig von der Form ihrer Verbreitung fallen Spiele in unterschiedliche rechtliche Kategorien. Sogenannte Trägermedien, die etwa auf DVD oder anderen Datenträgern verbreitet werden, unterliegen einer anderen Zuordnung als Telemedien, unter die etwa reine Online-Games oder Spiele-Apps fallen. Bei Letzteren greifen die werberechtlichen Bestimmungen des Medienstaatsvertrags (MStV) und des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV).Wenn Spiele gleichzeitig in verschiedenen Formen zum Verkauf vorliegen, also etwa sowohl auf DVD als auch in einer App, können dann unter Umständen eben auch unterschiedliche gesetzliche Grundlagen zur Anwendung kommen. Laut Paragraf 22 MStV gilt: Werbung muss als solche klar erkennbar und vom übrigen Inhalt eindeutig getrennt sein. „Für die Konsumenten muss also klar sein, dass es sich um einen bezahlten Inhalt mit werblicher Absicht handelt“, so Braam. „Das wird durch eine Kennzeichnung als Werbung – wie etwa bei einem in einem Spiel eingeblendeten Werbebanner – gewährleistet.“ Das bedeutet: „Fehlt es an einer entsprechenden Erkennbarkeit oder Trennung, handelt es sich um unzulässige Werbung.“ Wieso kommen solche Werbebanner dann so selten vor?Death Stranding ist kein Einzelfall. Es gibt ganze Genres, die auf gezielte Produktplatzierungen als zentralen Teil der Spielmechanik setzen. Autorennen-Serien wie Need for Speed bringen von A wie Audi bis V wie Volkswagen sämtliche Automobilhersteller der Welt ins digitale Sehnsuchtsland. Im jüngsten Ableger der Serie, Need for Speed Unbound, lassen sich insgesamt 143 verschiedene Autos realer Marken steuern. In der Fußball-Simulation FIFA findet sich Bannerwerbung am Spielfeldrand und auf den Trikots der Spielenden – ganz wie im echten Leben. Der in Deutschland extrem erfolgreiche Landwirtschafts-Simulator wirbt ganz offiziell damit, „mehr als 400 Maschinen und Geräte von über 100 realen landwirtschaftlichen Herstellern“ im Spiel zur Verfügung zu stellen.Entscheidend ist, ob ein Unternehmen für seinen Auftritt in einem Spiel gezahlt hatDiese Spiele werden gespielt, eben weil sie Spielenden die Chance geben, einmal im Leben zumindest digital in einem Lamborghini Veneno zu sitzen – zeitweise mit rund drei Millionen Euro eines der teuersten Autos der Welt. Oder endlich mal einen Bagger zu bedienen oder ein Feld zu pflügen. Eben Dinge zu tun, für die es im analogen Leben kaum die Möglichkeit gibt. Solche Spiele bieten eine Art Markenprodukt-Eskapismus, der für manche vielleicht schwer nachvollziehbar sein mag. Rechtlich unzulässig ist das deswegen aber noch nicht. „Eine entscheidende Frage ist, ob ein Unternehmen für seinen Auftritt in einem Spiel eine Gegenleistung gezahlt hat oder nicht“, sagt Laura Braam von der Landesanstalt für Medien NRW. Auf den ersten Blick sei das für die Spielenden in den seltensten Fällen erkennbar.In-Game-Werbung wurde in der Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit Kindern immer wieder problematisiert: „Gerichte haben sich damit vor allem aus wettbewerbsrechtlicher Perspektive auseinandergesetzt. So sind etwa laut dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb direkte Kaufappelle gegenüber Kindern unzulässig.“ Relevant wird das gerade im unübersichtlichen Segment der Free2Play- und Pay2Win-Spiele. Vor allem die Candy Crush Saga, Dungeon Keeper oder Fortnite sind da bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt.Die wurden längst als lukrative Zielgruppe erkannt. Der Zugang zu den Spielen ist kostenlos und damit niederschwellig gehalten. Oft muss man aber im Spielverlauf echtes Geld ausgeben, um den eigenen Spielecharakter individuell gestalten zu können oder auch um im Spiel weiterzukommen. Die Manipulation setzt da an, wo Menschen (und gerade Kinder) am verwundbarsten sind: bei der Zugehörigkeit, bei der sozialen Bindung und gesellschaftlichen Anerkennung. Viele Muster, die in diesen Spielen genutzt werden, greifen in urmenschliche Instinkte der Bedürfnisbefriedigung hinein – und sind deshalb sehr wirksam. Rechtliche Einwände dagegen gibt es immer wieder.Bereits 2009 klagte die Verbraucherzentrale gegen Spieleentwickler Gameforge. Der Vorwurf: Das Spiel Runes of Magic würde direkte Kaufappelle an Kinder und Jugendliche richten. Angriffspunkt: direkte Du-Ansprachen wie in „Schnapp dir die günstige Gelegenheit und verpasse deiner Rüstung & Waffen das gewisse Etwas“. Susanne Einsiedler vom Bundesverband der Verbraucherzentralen hat den Prozess damals initiiert und betreut. Sie erinnert sich: „Damals haben wir mehrere Spiele daraufhin überprüft, wie Kinder angesprochen werden. Bei Runes of Magic sind wir nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorgegangen.“ Immer verboten sind unmittelbare Kaufaufforderungen an Kinder. Aber, so Susanne Einsiedler: „Natürlich ist die Du-Ansprache noch kein ausreichender Grund, um sagen zu können, dass es sich um eine unmittelbare Ansprache an Kinder handelt. Man muss das Spiel im Ganzen betrachten.“Epic Games stimmt Vergleich über 520 Millionen US-Dollar zuTrotzdem hat der Bundesgerichtshof am Ende entschieden, dass es ausschlaggebend ist, dass mit der Werbung auch Kinder gezielt adressiert werden. „Für das Gericht war es unerheblich, dass sich durch die Werbung auch Erwachsene angesprochen fühlten“, so Einsiedler.Solche Klagen sind kein Einzelfall. 2019 strengte die Landesanstalt für Medien NRW ein Verfahren gegen die „Casino-App“ Coin Master an. Die US-Verbraucherschutzaufsicht wirft Gaming-Großkonzern Epic Games, der unter anderem durch das vor allem unter Jugendlichen beliebte Multiplayer-Spiel Fortnite zu einem der Platzhirsche in der Branche wurde, vor, unerlaubt Daten von Spielenden im Alter von unter 13 Jahren gesammelt und diese zu In-Game-Transaktionen verleitet zu haben. Ende 2022 stimmte Epic Games einem Vergleich über 520 Millionen US-Dollar zu.Kurz bevor die Zahlung publik wurde, stellte Epic Games seine brandneue Kollaboration mit Ralph Lauren vor. Die Luxuskleidungsmarke gibt sich extra dafür einen neuen Anstrich und redesignt für die Kooperation mit dem Videospiel-Giganten sogar zum ersten Mal in der Firmengeschichte ihr ikonisches Polo-Logo neu. Das lohnt sich zweifellos. Denn über drei Milliarden Menschen weltweit spielen mittlerweile Videospiele – das sind rund 40 Prozent der Erdbevölkerung. Spiele erreichen ein Milliardenpublikum und sind als potenzielle Werbeplattformen entsprechend attraktiv. Das muss nicht unbedingt problematisch werden. Kann es aber. Etwa, wenn es um Manipulationen in Free2Play-Spielen und Co. geht.Aber selbst an Stellen, die aus rechtlicher Sicht in Grauzonen verbleiben, können sich ethische Fragen stellen. Denn: Videospiele sind nicht einfach ein weiteres Konsum-Medium. „Gerade in der Situation des Spielens sind Menschen in der Regel ganz auf das Spiel konzentriert und können die Werbung im Hintergrund daher nicht bewusst als solche wahrnehmen und einordnen“, meint Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Werbung und Produktplatzierungen in Spielen seien demnach, gerade wenn sie nicht transparent dargestellt werden, grundsätzlich kritisch zu sehen. „Werbung während des Spiels kann umso schwerer rational bewertet werden, als beim Spielen häufig starke Emotionen entwickelt werden, was wiederum dazu führt, dass das beworbene Produkt attraktiver erscheint und besser erinnert wird.“Noch stärker ist das Fall, wenn das Produkt tatsächlich positiven Einfluss auf den Spielverlauf, also spielmechanische Relevanz hat – wie in Death Stranding. Der interaktive Charakter des Mediums fesselt Menschen nachhaltiger und zieht sie tiefer in die Spielwelten hinein als der vergleichsweise passive Konsum anderer Medien. Im James-Bond-Film kann der Aston Martin bestaunt werden. Im Videospiel kann er gefahren werden. Claudia Paganini meint: „Eine klare Kennzeichnung der Werbung in Richtung Transparenz ist daher die Minimalforderung.“Zumindest in Death Stranding wirkte die Kritik schließlich: Im Director’s Cut, der 2022 erschienen ist, wurde der „Monster Energy“-Drink durch eine fiktive In-Game-Marke ersetzt, die dieselben Eigenschaften hat und den Spielverlauf ebenfalls positiv beeinflusst. Wann werden die anderen Hersteller diesem Beispiel folgen?