Belgrad, März 2022: So populär, dass es in die Umlaufbahn des Kreml einschwenken würde, ist Russland in Serbien nicht
Foto: Sergey Ponomarev/NYT/Redux/Laif
Gibt es wieder Krieg auf dem Balkan? Eröffnet Wladimir Putin eine neue Front? Inzwischen vergeht kaum mehr ein Monat, ohne dass irgendwo eine solche Schlagzeile auftaucht. Von jetzt an allerdings darf niemand mehr öffentlich derartige Fragen stellen, ohne das Buch von Florian Bieber gelesen zu haben.
Der führende Südosteuropa-Experte deutscher Zunge widersteht der Versuchung, die Schlagzeilen einfach als medientypischen Alarmismus abzutun und aus wissenssatter Perspektive Entwarnung zu geben. Auf der einen Seite dekonstruiert Bieber zwar die wiederkehrenden Inszenierungen von Zwischenfällen, die die Region in einem permanenten Ausnahmezustand halten sollen und die erregten Schlagzeilen produzieren. Das Szenario, das er stattdessen zeichnet, ist aber nicht weniger ve
weniger verstörend. Eher im Gegenteil. In dem „Loch“ in Europa, bestehend aus den Staaten Serbien, Bosnien, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo und Montenegro und versinnbildlicht durch einen dicken weißen Fleck auf EU-Landkarten, hat sich in zwei Jahrzehnten ein System von Autokratie und Korruption aufgebaut, kein ganz stabiles zwar, aber ein attraktives, das, einmal in Kraft, schwer zu knacken sein wird.Prototyp für das System ist Serbien, dem Bieber auch die meiste Aufmerksamkeit schenkt. Im größten und mächtigsten Land des ominösen „Westbalkan“ tummeln sich starke und halbstarke Weltmächte mit ihren fragwürdigen Ambitionen. Man schätzt einander: Halbseidene Investoren freuen sich, dass hier das Wort des Präsidenten gilt und der sich um komplizierte Gesetze und Vorschriften nicht schert. Bieber gibt immer wieder höchst plastische Beispiele. So setzten des Nachts vermummte Gestalten ein Gelände im Zentrum Belgrads in Brand, das der Platz werden sollte für das Großprojekt „Beograd na vodi“, Belgrad am Wasser: eine Art Brandrodung südamerikanischen Typs. Anwohner riefen die Polizei, die – natürlich – nicht kam.Umgekehrt gefällt es dem Präsidenten und seinen Parteifreunden, dass die Autokraten und die „umstrittenen Businessmen“ aus aller Welt ihnen den Rücken frei halten gegen lästige Forderungen aus der Europäischen Union. Dabei sind ihnen ideologische oder die immer wieder behaupteten kulturellen Sym- und Antipathien herzlich egal. Russen sind genauso willkommen wie Chinesen, ein arabischer Emir genauso wie ein türkischer Pseudo-Sultan. Hauptsache: einer, mit dem man „Deals“ schließen kann. Nicht umsonst war auch Donald Trump bei der serbischen Elite und der von ihr kontrollierten Presse so beliebt. Die gegenwärtige Ambivalenz Serbiens im Ukraine-Krieg, sein Schwanken zwischen Putin und der NATO, ist bei Bieber der politische Ausdruck des Verhältnisses. Liebe zu Russland, Ressentiment gegen den Westen, Hass auf den Islam – alles das ist nicht viel mehr als eine verschiebbare Kulisse.Biebers Analyse ist an Serbien entwickelt, aber nicht auf Serbien begrenzt. Seitenblicke wirft der Autor auch auf die Türkei, Bosnien und Nordmazedonien, den gründlichsten noch auf Montenegro. Das kleine Land ist ein lohnendes Studienobjekt, denn hier war es ein offiziell „pro-westlicher“ Politiker, der das Muster zur Perfektion gebracht hat. Mit gutem Grund hält Bieber sich eine Weile bei dem angeblichen russisch-serbischen „Putsch“ des Jahres 2016 auf, den der starke Mann des Landes, Milo Ðjukanović, aufgedeckt haben wollte. Der Beispiele sind viele, wahrscheinlich allzu viele.Die Balance zu halten zwischen konkreten Details und abstrakter Analyse ist eigentlich eher eine journalistische Aufgabe – die der Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien der Universität Graz souverän beherrscht. Vereinfachungen widerspricht Bieber behutsam. Nicht mit Statements, sondern mit faktengestützten Beobachtungen: Überzeugend legt er dar, dass und wie die Rolle Russlands in dem Spiel mit dem Deal oft überschätzt wird. Der „große Bruder“ ist in Serbien keineswegs uneingeschränkt populär; so weit, dass das Land in die Umlaufbahn des Kreml einschwenken würde, geht die Sympathie nicht.Umgekehrt hat Russland in der Region kein anderes Interesse als das, die Annäherung oder gar Eingliederung Serbiens und seiner Nachbarn in die westliche Staatengemeinschaft zu stören. Nüchtern legt Bieber aber auch dar, dass auf der anderen Seite der türkische „Neo-Osmanismus“ von Recep Tayyip Erdoğan, gerichtet vor allem auf die muslimisch geprägten Staaten Albanien, Kosovo und Bosnien, nach kurzem Strohfeuer verpuffte. Die spektakulären Großprojekte chinesischer Staatsfirmen schließlich werden am Ende keineswegs alle Wirklichkeit, wie der Autor zeigt. Wir lernen, dass auch chinesische Bäume nicht in den Himmel wachsen. Zu Recht liegt der Fokus der Analyse nicht auf dem fremden Einfluss, sondern auf den lokalen Akteuren.Die EU sieht seit 20 Jahren zu, wie aus dem „weißen Fleck“ auf dem Kontinent ein „schwarzes Loch“ wird. Sie ist in Biebers Analyse nicht ausdrücklich Thema, muss sie auch nicht sein: Es spricht für die Anlage des Buches, dass man ihre Rolle automatisch mitliest. Müsste sich die EU nicht viel stärker einmischen, den Autokraten die Pistole auf die Brust setzen? Statt wirklich Dampf zu machen, nimmt sie die Entwicklungen in der Region stoisch zur Kenntnis. Wenn sie sie nicht gar negiert: Nicht umsonst hat die Kommission in Brüssel das schwierige Thema der Südosterweiterung ausgerechnet einem Gefolgsmann des autoritären und zudem Putin-freundlichen Viktor Orbán übertragen – dem man seither zusehen kann, wie er von den Beitrittskandidaten des Balkans mit gekreuzten Fingern und maliziösem Lächeln die Umsetzung von europäischen Beschlüssen fordert, die sein eigener Patron in Budapest beharrlich bekämpft.Die Doppelzüngigkeit hat ihre fatale Logik: Der Schwebezustand zwischen EU und der „illiberalen Internationalen“ kommt einem erweiterungsmüden Westen genauso zupass wie einem Spieler nach Art des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Die einen tun so, als wollten sie beitreten, die andern tun so, als wollten sie sich erweitern. Dass die Scharade auf Kosten der Bevölkerungen des Balkans geht, ist den einen wie den anderen egal.Die abschließende Forderung Biebers, die EU müsse sich „auf ihre Werte rückbesinnen“, ist da etwas hilflos. Sind wir nicht längst nicht mehr nur Zeuge, wie sich das System der Deals weltweit ausbreitet? Sondern Mitspieler? Der nächste logische Schritt jedenfalls wäre, dass die Europäer in der Region genau solche schmutzigen Deals zum eigenen Vorteil schließen, wie Russen, Araber, Chinesen und manchmal auch Amerikaner es heute schon tun. Aber vielleicht ist das ja schon das Thema für ein nächstes Buch.Placeholder infobox-1
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