Brüllen wie ein königlicher Richter? Kann ich!

Kolumne Solche Situationen passieren regelmäßig: Ob in Mittagspausen oder bei Kneipenabenden – es werden juristisch völlig falsche Behauptungen getroffen, die bei Aufklärung unsere Autorin am Ende nur als Besserwisserin dastehen lassen
Ausgabe 42/2023
Ägäis: Frontex-Crew auf der Suche nach Schleppern
Ägäis: Frontex-Crew auf der Suche nach Schleppern

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Als gute Juristin muss ich zugeben, dass das ein wunderschöner Satz ist: „Ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstand“ – so beschrieb Schriftsteller Ludwig Thoma den königlichen Landgerichtsrat Alois Eschenberger vor 120 Jahren. Einen Landgerichtsrat würde man heute einen Richter am Landgericht nennen, und königlich sind sie höchstens in ihren Träumen. Der Eindruck, dass juristischer Sach- und gesunder Menschenverstand nicht eins sind, ist geblieben. Jedenfalls, wenn der Sachverstand als solcher erkannt wird. Dafür gibt es allerdings Bedingungen. Nach sechs Jahren Studium und einem, mit Verlaub, überdurchschnittlichen Staatsexamen muss ich festhalten: Ich erfülle sie nicht.

Tatort: Kneipenabende, Podiumsdiskussionen, Redaktionskonferenzen oder Mittagspausen. Tatbeteiligte: Kollege, Freundin, Moderator oder Panelgast, wohlgemerkt geschlechterunabhängig. Jedenfalls nicht durch juristische Ausbildung vorbelastet.

Tathergang nach Schilderung der Geschädigten (mir): Im Zuge der Diskussion drängt sich eine juristische Frage auf. Tatvariante eins: Der rechtliche Gehalt der Frage wird von den Tatbeteiligten nicht erkannt. Die Geschädigte weist darauf hin.

Die Tatbeteiligten reagieren, als hätte die Geschädigte gerade eine persönliche Meinung kundgetan.

Tatvariante zwei: Die juristische Frage wird als solche zwar erkannt, die Einschätzung der Geschädigten (ich) wird jedoch als Ansichtssache verhandelt. So werden Gegenargumente vorgetragen, die geradewegs am Kern der Sache vorbeigehen. Zur Erklärung, wie und warum die Argumente nicht greifen, muss die Geschädigte fachsimpeln. Darunter leidet die Aufmerksamkeit aller Beteiligten. Ein Beispiel, in den Details fiktiv, im Ablauf leider nicht: In Debatten zum europäischen Grenzregime wird gerne kritisiert, der „Menschenrechtsgerichtshof“ schaue bei Frontex-Pushbacks weg. Das klingt für Linke plausibel, das klingt nach Herrschaftskritik, allgemeines Nicken. Es ist allerdings völlig falsch.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann, wie jedes Gericht, nur aburteilen, was unter seine Jurisdiktion fällt. Das sind jene Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben.

Frontex ist eine Agentur der Europäischen Union. Deshalb kann der EGMR nicht über sie richten. Die Europäische Union ist der Europäischen Menschenrechtskonvention nämlich nie beigetreten. Das ist kein Skandal und keine Verschwörung. Das ist das Ergebnis eines Selbstbehauptungsstrebens der Luxemburger Richter vom Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die wollen sich dem EGMR in Straßburg nämlich nicht unterwerfen.

Bleiben die Pushbacks also juristisch unbearbeitet? Nein! Die meisten werden nämlich gar nicht von Frontex, sondern von Anrainerstaaten am Mittelmeer durchgeführt. Über die kann der EGMR wiederum richten, denn diese haben die Menschenrechtskonvention ratifiziert. Bringen Sie das mal in einer hitzigen Kneipendiskussion unter, ohne zu brüllen.

Ich habe kein Problem damit, zu brüllen, aber ich könnte deutlich besser brüllen, wenn ich ein Mann wäre. Nur müsste ich es dann wahrscheinlich nicht. Dann könnte ich einfach meine Einschätzung abgeben, mich zurücklehnen und die anderen darüber lästern lassen, dass ich sonst nicht viel auf dem Kasten hätte. Wie der königliche Landgerichtsrat. Das wär’s.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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