Oskar Lafontaine: „Dafür hätte ich Wolfgang Schäuble gerne noch gedankt“
Einfühlungsvermögen Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble pflegten eine jahrelange politische Gegnerschaft. Beide wurden 1990 Opfer von Attentaten. Jetzt las Lafontaine für den „Freitag“ Schäubles Autobiografie – und war tief berührt
Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble beim Festakt zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1998
Foto: Fabian Matzerath/picture alliance/dpa
Ohne Wolfgang Schäuble wäre die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anders verlaufen. Im Oktober 2021 begann er seine Erinnerungen aufzuschreiben. Unmittelbar vor seinem Tod Ende 2023 hat er das Manuskript abgeschlossen. Er berichtet darin von seiner behüteten Kindheit in einer wohlhabenden Familie: „Immerhin hatten wir ein Kindermädchen und wir wussten durchaus, dass wir zum Bürgertum gehörten.“ Er liebte die klassische Musik und die Literatur, aus der Begegnung mit der Kunst schöpfte er stets neue Kraft. Dem Bürgertum fühlte sich Schäuble sein Leben lang zugehörig, ohne diese Prägung hätte er wohl auch in der Politik einen anderen Weg genommen.
„Ich habe Fehler gemacht, ich habe Entwicklungen falsch e
be Fehler gemacht, ich habe Entwicklungen falsch eingeschätzt“, schreibt er und zitiert Helmut Schmidt: „Wer weiß, dass er so oder so, trotz allen Bemühens, mit Versäumnis und Schuld belastet sein wird, wie immer er handelt, der wird von sich selbst nicht sagen wollen, er habe alles getan und alles sei richtig gewesen. Er wird nicht versuchen, Schuld und Versäumnis den anderen zuzuschieben, denn er weiß, die anderen stehen vor der gleichen unausweichlichen Verstrickung.“Albert Camus und Karl Popper„Optimismus ist Pflicht“, mit diesem Zitat des Philosophen Karl Popper beginnt Wolfgang Schäuble seine Erinnerungen – den schweren Schicksalsschlägen zum Trotz. Immer wieder rät er zur Zuversicht. Wenn er gefragt wurde, warum ihm Politik auch nach fünf Jahrzehnten im Parlament noch Freude mache, verwies er auf Albert Camus‘ Bild des glücklichen Sisyphos.Das Attentat auf ihn, bei einer Wahlveranstaltung in Oppenau 1990, veränderte sein Leben: „Ich konnte dem Rollstuhl nicht entkommen.“ Eine Prostatakrebserkrankung 2006 verschwieg er der Öffentlichkeit, wohl, weil er befürchtete, diese zusätzliche Schwächung seiner Gesundheit würde in der Öffentlichkeit zu einer Diskussion führen, ob er seinem Amt als Innenminister noch gewachsen sei.Edward Snowden und die NSAIn jener Zeit als Bundesinnenminister, seiner zweiten in diesem Amt, warf man Schäuble vor, Deutschland in einen Überwachungsstaat zu verwandeln. Der Präsident des Deutschen Anwaltsvereins empörte sich: „Die Sicherheitspolitik droht jedes Maß zu verlieren.“ Schäuble befürwortete den Einsatz der Bundeswehr für Sicherheitsaufgaben innerhalb der Bundesrepublik und forderte eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes. Das führte ebenso zu heftigen Diskussionen wie sein Vorschlag, die Aussagen, die in anderen Staaten unter Folter erzwungen wurden, bei der Arbeit der Sicherheitsbehörden zu verwenden. In der Spionageaffäre 2011, in der Edward Snowden enthüllte, dass die USA die Telekommunikation und das Internet global überwachen, verteidigte er die NSA mit dem Argument, das habe geholfen, Terroranschläge zu verhindern.Mit Helmut Kohl, der ihn 1984 zum Chef des Kanzleramts gemacht hatte, überwarf er sich in der Spendenaffäre. Schäuble musste einräumen, vom Waffenhändler Karl-Heinz Schreiber 100.000 DM erhalten zu haben, die nicht ordnungsgemäß verbucht worden seien.Schäubles letztes Gespräch mit Helmut KohlDie letzte Unterredung zwischen dem CDU-Vorsitzenden Schäuble und seinem Vorgänger Kohl wurde zum Drama. Schäuble schildert sie so: „Schon Kohls frohgemute Begrüßung, ob ich denn nun zurücktrete, setzte den Ton. Kaum verborgene Selbstzufriedenheit und eine gewisse Lust am Untergang des Nachfolgers waren für mich unübersehbar … Ich forderte Kohl auf, sein Bundestagsmandat niederzulegen, weil er nicht einfach erklären könne, die politische Verantwortung zu übernehmen, ohne irgendwelche persönlichen Konsequenzen zu ziehen. Er wies das zurück … Meine Ankündigung, dass ich dann wohl keine Wahl hätte als zurückzutreten, weil ich als sein ehemals engster Weggefährte die Partei so kaum aus der Krise führen könne, kümmerte ihn nicht. Leichthin erklärte er mir, dass die ganze Angelegenheit an sich nicht so schlimm sei …, lediglich meine Spende von Schreiber habe die Krise eine fatale Wendung nehmen lassen. Da platzte mir endgültig der Kragen. Mit dem Satz, schon zu viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit ihm verbracht zu haben, verließ ich sein Büro. Wir sprachen danach nie wieder miteinander.“Schäuble war neben Kohl einer der Architekten der deutschen Wiedervereinigung. Der Einigungsvertrag trägt seine Handschrift. Zwischen ihm und mir kam es in dieser Zeit zu heftigen Auseinandersetzungen. Als Kanzlerkandidat der SPD hielt ich die Währungsunion zum Kurse von eins zu eins für einen schweren wirtschaftlichen Fehler, weil bei dieser Lösung die DDR-Wirtschaft von einem Tag auf den anderen konkurrenzunfähig wurde. Wie bei der kleinen Wiedervereinigung des Saarlandes mit der Bundesrepublik wollte ich der DDR-Wirtschaft einige Jahre der Umstellung einräumen und diese Zeit durch eine entsprechende gleitende Währungsanpassung absichern. Aber meine auch vom Sachverständigenrat, dem damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl und der EU-Kommission geteilten Argumente fanden bei der Mehrheit kein Gehör. Meine eigene Partei, die SPD, lehnte sie ab. Schäuble zog das Resümee, „Lafontaine wollte die Wiedervereinigung überhaupt nicht“.Placeholder infobox-1Bei der Entscheidung des Deutschen Bundestages für Berlin als Hauptstadt gelang es ihm durch eine historische Rede, einige Abgeordnete, die für Bonn votieren wollten, umzustimmen. Ich befürwortete damals Bonn als Symbol für Bescheidenheit und demokratische Verlässlichkeit.Gestritten habe ich mit ihm auch viele Jahre über den richtigen Weg in der Wirtschaftspolitik. Er stand eher auf der Seite der Angebotspolitik, wollte die Standortbedingungen der Wirtschaft verbessern und kämpfte für die schwarze Null. Ich hatte eher die Nachfrageseite der Volkswirtschaft im Auge, kämpfte daher für die Erhöhung der Löhne wie Renten und machte die schwarze Null für die jahrelange Unterinvestition in die öffentliche Infrastruktur verantwortlich.Unsere unterschiedliche Herangehensweise zeigte sich auch bei der Interpretation der Freiburger Schule um Walter Eucken, die uns beide schon als Studenten interessierte. Während den jungen Schäuble die Maßhalten-Appelle Ludwig Erhards beeindruckten, war ich fasziniert von der Einsicht der Freiburger, dass zu große wirtschaftliche Macht nicht mehr kontrollierbar sei und daher Demokratie unmöglich mache. Eine Kartell-Gesetzgebung, die in der Lage wäre, eine zu große wirtschaftliche Macht zu verhindern, ist in meinen Augen das Kernelement der Freiburger Schule.„Von Lafontaine sagte ich gelegentlich, er wäre vielleicht ein guter Finanzminister gewesen, wenn 2 + 2 = 40 wäre, aber leider ergäbe es bei aller Intellektualität immer nur vier“In der Griechenland-Krise befürwortete Wolfgang Schäuble harte soziale Einschnitte und wurde zum „Zuchtmeister Europas“, wozu er schreibt: „Mich verletzte das Zerrbild des ,Henkers‘ der europäischen Idee.“ Beim Umgang mit den Südeuropäern fehlte ihm das notwendige Verständnis. „Von Lafontaine sagte ich gelegentlich, er wäre vielleicht ein guter Finanzminister gewesen, wenn 2 + 2 = 40 wäre, aber leider ergäbe es bei aller Intellektualität immer nur vier“, spottet er in seinen Erinnerungen und hat so das letzte Wort bei den Frotzeleien, mit denen wir uns manchmal gegenseitig auf den Arm nahmen.Wolfgang Schäuble war wie ich ein überzeugter Anhänger der deutsch-französischen Freundschaft. Er wusste, dass die Achse Paris-Berlin funktionieren musste, wenn Europa weiter zusammenrücken wollte. Er pflegte auch Freundschaften zu französischen Politikern. Dabei spielte die Parteizugehörigkeit keine Rolle. Schäuble berichtet etwa, wie er als frischgebackener Innenminister dem Sozialisten Pierre Joxe auf französischer Seite begegnete, dessen Vater bereits in der Regierung von General de Gaulle gesessen hatte. Er lud den großen Richard-Wagner-Fan nach Bayreuth ein, als Schäuble in Freiburg auf der Intensivstation lag, war Joxe einer der ersten Besucher.Er war Atlantiker, ich GaullistSeine Freundschaft zu Frankreich hinderte ihn aber nicht daran, ein überzeugte Atlantiker zu bleiben. „Die Atlantiker in der CDU versammelten sich hinter Außen-, später dann Verteidigungsminister Gerhard Schröder, die Gaullisten hinter Adenauer, Strauß und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier“, erinnert er sich. „De Gaulles Vision vom europäischen Europa kollidierte mit meiner Überzeugung, die USA als wesentlichen Garanten für die Sicherheit der Bundesrepublik anzusehen – auch wenn im Zuge der Berlin-Krise eine gewisse Ernüchterung bei mir und in Teilen der Partei gegenüber dem transatlantischen Partner eingekehrt war. Die USA als einzig wahre Schutzmacht des Westens – das ist mein Grundverständnis von Kindheit an. Und das ist bis heute so geblieben“, schreibt er.In dieser Grundfrage der deutschen Außenpolitik war und bin ich anderer Ansicht. Wie Adenauer, Strauß oder Gerstenmaier bin ich Gaullist und fest davon überzeugt, dass kein US-Präsident die Zerstörung New Yorks, Washingtons oder San Franciscos riskieren würde, um ein nukleares Inferno in Warschau oder Berlin zu verhindern. Ebenso war ich schon immer der Auffassung, dass die Russen wie die Amerikaner, wenn es denn zu einem nuklearen Schlagabtausch käme, immer versuchen würden, diesen auf Mitteleuropa zu begrenzen.Die Autobiografie Wolfgang Schäubles behandelt fast alle Themen, die die Bundespolitik in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigten. Für jeden, der das Innenleben politischer Macht in Deutschland und in der CDU als Regierungspartei kennenlernen will, ist sie eine große Fundgrube.Wolfgang Schäuble über meinen Besuch an seinem Krankenbett Ende 1990Schäuble war oft nicht zimperlich und manchmal hart, auch gegen sich selbst. Zunächst kam Zweifel in mir auf, als ich las: „Mein eigenes Einfühlungsvermögen hat im Laufe der Jahre zugenommen.“ Aber dann war ich tief berührt, als er über mich schrieb: „Ich vergaß auch in härtesten Konflikten nicht, dass uns das Schicksal verband, Attentatsopfer von Geisteskranken zu sein. Sein Besuch bei mir am Krankenbett kurz vor der Wahl 1990 war eine besondere und intensive Begegnung, weil wir uns mehrere Stunden abseits der Politik über ganz persönliche Dinge unterhielten – Todesnähe, Schicksal, Ängste ... Während ich täglich und für den Rest meines Lebens die Behinderung als körperliche Folge spürte, litt Lafontaine, der sich von den äußeren Verletzungen erholte, in ganz anderer Weise unter der erlebten Todesangst. Denn er hatte die Messerattacke bei vollem Bewusstsein erlebt und fürchtete in langen Minuten zu verbluten. Ich hatte den Eindruck, dass das Attentat viel bei ihm ausgelöst hat – tiefe Zweifel, das Hadern mit Rollenerwartungen und vielleicht auch die Bereitschaft zum Rückzug. Diese psychischen Langzeitfolgen sind nicht zu unterschätzen … Vielleicht sind wir uns auch darin ähnlich gewesen, dass wir beide nicht mit letzter Unbedingtheit Kanzler werden wollten.“Solche Sätze vermisste ich 1990 schmerzlich, als keiner aus der SPD-Führung bereit war, mir nach dem Attentat die Kanzlerkandidatur abzunehmen. Ich würde Wolfgang Schäuble gerne für diese einfühlsamen Worte danken und bedaure sehr, dass ich keine Gelegenheit mehr dazu habe, weil er vor der Veröffentlichung seiner Memoiren gestorben ist. In der politischen Auseinandersetzung vergessen wir zu oft, dass der andere nicht nur ein politischer Gegner, sondern auch ein Mensch mit zuweilen überraschendem Einfühlungsvermögen ist.Placeholder authorbio-1
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