Den Frieden verteidigen, nicht den Krieg: Lafontaine empfiehlt mehr Diplomatie
Foto: Gerard Lacz/Laif
Er gehört nicht nur zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die für den 25. Februar zu einer Demonstration in Berlin aufrufen. Dieser Tage erscheint auch seine Streitschrift Ami, it’s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas in einer erweiterten Auflage. Oskar Lafontaines Stimme ist also vernehmbar. Aber was wäre eigentlich, wenn ...
der Freitag: Wie würde Oskar Lafontaine eigentlich in der gegenwärtigen Lage entscheiden, wenn er statt Olaf Scholz Bundeskanzler wäre?
Oskar Lafontaine: Das kann ich ohne Probleme beantworten.
Im Allgemeinen sicher, aber konkret? Nehmen wir den Beschluss, nun doch Leopard-Kampfpanzer zu liefern. Sie hätten vermutlich ander
emeinen sicher, aber konkret? Nehmen wir den Beschluss, nun doch Leopard-Kampfpanzer zu liefern. Sie hätten vermutlich anders entschieden ...Selbstverständlich. Ich halte die ständigen Waffenlieferungen für nicht vertretbar. Sie verlängern den Krieg. Jeden Tag sterben Menschen oder sie werden verletzt und immer größere Teile der Ukraine werden zerstört. Wir brauchen sofort einen Waffenstillstand. Ich würde immer wieder Putin anrufen und fragen, ob er dazu bereit wäre, und gleichzeitig den US-Präsidenten. Und dann würde ich öffentlich machen, wer sich weigert, einen Waffenstillstand anzunehmen, wie kürzlich der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett, der geschildert hat, wie die USA und der Westen vor Monaten den Waffenstillstand verhindert hatten.Glauben Sie, das wäre durchzusetzen? Gegenüber den Koalitionspartnern, aber auch gegenüber den Medien?Generäle mahnen zum Frieden und Politiker und Journalisten rufen zum Krieg. Zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik sind große Teile der Medien und der Politik geradezu kriegsbegeistert. Offensichtlich haben sie alles vergessen, was die Entspannungspolitik Willy Brandts erreicht hat. Waffenlieferungen, Kriegshetze und die Dämonisierung Putins sind der Beitrag der Ampel-Regierung zum Frieden.Hätte Deutschland überhaupt die Macht, auf die USA entsprechenden Einfluss zu nehmen?Deutschland muss seine Interessen vertreten, und die stehen denen der USA diametral entgegen. Ziel der US-Politik ist es seit 100 Jahren, Deutschland und Russland gegeneinander aufzubringen.Deutschland ist für die USA ein Schlüsselland in Europa, genauso wie die Ukraine ein Schlüsselstaat für die Beherrschung des eurasischen Kontinents ist. Die USA haben erklärt, sie wollen den Krieg so lange wie möglich führen, um Russland zu schwächen. Um die Ausweitung des Krieges und den Einsatz von Nuklearwaffen zu verhindern, muss Deutschland aber alles tun, um diesen Krieg morgen zu beenden.Kampfflugzeuge will Scholz nun aber doch nicht liefern. Das passt nicht so ganz in Ihr Narrativ, die Ampel-Regierung unter Scholz unterstütze vorbehaltlos die aggressive Politik der USA, oder? Und sind diese wirklich so aggressiv? Auch Joe Biden hat sich aktuell gegen die Lieferung von Kampfjets ausgesprochen.Biden und Scholz haben immer wieder erklärt, das und das würden sie nicht tun, um es dann Monate später doch zu tun. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nennt die USA die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt.Die Vorstellung eines sehr großen Einflusses der USA auf Deutschland gibt es auch bei Putin. Neulich hat er in einer Rede vor Studenten gesagt, dass Deutschland ein von den USA besetztes Land sei, und die Air Base in Ramstein genannt. Würden Sie als Bundeskanzler Ramstein schließen und den Bruch mit der NATO riskieren?Zunächst würde ich alles unternehmen, um den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg zu beenden, den die USA über Ramstein führen. Wir sollten uns ein Beispiel an Ländern wie Brasilien nehmen, die nicht in den Krieg involviert sind und darauf drängen, Frieden zu schließen. Nun heißt es immer, wir seien keine Kriegspartei, wenn wir Waffen liefern ...Aber?Wir sind Kriegspartei im Drohnenkrieg, in dem Tausende unschuldige Menschen sterben, weil der auch über Ramstein gesteuert wird. Das muss aufhören. Der zweite Schritt wäre natürlich, die US-Militäreinrichtungen in Deutschland Zug um Zug abzubauen. Denn solange sie hier sind und für völkerrechtswidrige Kriege der USA benutzt werden, sind wir auch Kriegspartei. Die Souveränität eines Landes besteht mit Charles de Gaulle darin, über Krieg und Frieden selbst zu entscheiden.Sollte nicht zuallererst die Regierung der Ukraine über Krieg und Frieden entscheiden – und darüber, zu welchen Bedingungen es zum Waffenstillstand kommt?Naftali Bennett hat uns ja kürzlich auch darauf hingewiesen, dass nicht Kiew, sondern Washington über den Waffenstillstand entscheidet.Aber die Ukraine hat ein Selbstverteidigungsrecht. Was ist damit?Sie verteidigt sich jetzt mithilfe des Westens ein Jahr. Über 100.000 ukrainische Soldaten sind gefallen, 50.000 Zivilisten sind ums Leben gekommen und weite Teile der Ukraine sind zerstört. Auch Selenskyj trägt Verantwortung dafür, das Sterben der Ukrainer und die Zerstörung seines Landes zu beenden.Und Russland geben Sie keine Verantwortung? Angegriffen hat ja aktuell nicht die Ukraine, sondern Russland.Selbstverständlich ist der Einmarsch der russischen Armee völkerrechtswidrig und daher genauso zu verurteilen wie alle anderen völkerrechtswidrigen Kriege.Aber was geht daraus hervor? Wie konsequent würden Sie das Völkerrecht verteidigen? Würden Sie die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine infrage stellen für einen Frieden, denn das müsste man ja wohl?Leider gibt es keine Weltpolizei, die das Völkerrecht durchsetzt. Deshalb brechen Supermächte wie die USA oder Russland ungestraft das Völkerrecht. Auch Deutschland hat im Jugoslawienkrieg mit Zustimmung von SPD und Grünen das Völkerrecht gebrochen und die territoriale Integrität und Souveränität Jugoslawiens infrage gestellt. Vorrangig ist jetzt, das Morden und die Zerstörung der Ukraine zu beenden.Mit der Abkehr von den USA geht in Ihrem neuen Buch „Ami, it’s time to go“die Vision eines unabhängigen Europa einher. Dagegen spricht, dass ein Großteil von Europa, nämlich praktisch ganz Osteuropa, unter den Schutz der Amerikaner wollte und will.Zu dieser Frage habe ich in der neuen Auflage des Buchs Stellung genommen. Die NATO hat sich strukturell verändert. Sie wird heute von der Achse Washington, London, Warschau, Kiew gesteuert. Dieser fundamentalen Veränderung muss man Rechnung tragen. Der Aufbau eines unabhängigen Europa ist natürlich ein langwieriger, ein schwieriger Prozess. Aber es gibt keine andere Wahl. Nur wenn Frankreich und Deutschland zusammengehen und eine eigenständige europäische Sicherheits- und Friedenspolitik entwickeln, gibt es die Möglichkeit, sich von der Vormundschaft der USA zu befreien.Die Grünen sehen das ja ganz anders. Wie würden Sie als Bundeskanzler mit ihnen umgehen?Mit den Grünen und der FDP eine Bundesregierung zu bilden, wäre für mich unmöglich. Die Grünen sind aus der Friedensbewegung hervorgegangen und sind jetzt die schlimmsten Kriegstreiber. Und die FDP, die die Ostpolitik mit entwickelt hat, wird heute von der Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann repräsentiert.Die Ampel kam aber vor dem Kriegsausbruch zustande.Das ging nur, weil auch die SPD mit der Friedenspolitik Willy Brandts vollständig gebrochen hat.Was sehr viele beschäftigt, ist die nukleare Bedrohung. Sie spielt auch in Ihrem Buch eine Rolle, und da ist es Scholz offenbar gelungen, dass China Druck auf Russland ausübt, auf keinen Fall nuklear zu eskalieren. Würden Sie das als Staatskunst anerkennen?Es gibt immer wieder einzelne Schritte von Scholz, die man fairerweise positiv beurteilen muss, etwa, dass er die Waffenlieferungen verzögert hat. Umso enttäuschter ist man dann, wenn er sie doch billigt. Gut war auch, dass er in China war und dass es diese gemeinsame Erklärung gab. Aber letztendlich muss man diese Schritte auch relativieren. Wenn die Russen beispielsweise in die Situation gerieten, dass die Krim verloren ginge, dann bestünde die Gefahr, dass sie Nuklearwaffen einsetzten. Dann würde auch die Vereinbarung mit China wenig nützen.Was den Schaden für Deutschland anbelangt, müssen wir Nord Stream 2 ansprechen: Es ist hoch wahrscheinlich, dass nicht die Russen die Pipeline sabotiert haben, sondern eine westliche Macht, möglicherweise die USA, das erhärtet ein Bericht von Seymour Hersh, auch wenn Fragen bleiben. Die Bundesregierung weiß es vermutlich, kann es aber natürlich nicht sagen. Würden Sie in so einer Situation als Kanzler nicht auch mit einem schmutzigen Geheimnis durchregieren müssen?Glauben wir doch dem besten Zeugen, den wir überhaupt haben können! Das ist der US-Präsident. Joe Biden hat gesagt: „Wir werden Nord Stream ein Ende bereiten.“ Wieso rätseln Politiker und Journalisten, wer es war? Das zeigt die völlige geistige Verwirrung in der deutschen Debatte. Die Zerstörung der Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 durch die USA war eine Kriegserklärung an Deutschland, und die Ampel-Regierung duckt sich feige weg.Haben Sie eigentlich noch Verbindungen nach Russland?Meine Gesprächspartner waren Valentin Falin, Eduard Schewardnadse oder Michail Gorbatschow. Zur heutigen russischen Regierung habe ich keine Verbindung . Ab und zu schreiben mir russische Bürger.In Ihrem Buch weisen Sie den Vorwurf des Anti-Amerikanismus zurück. Sie schreiben, dass Sie beide Kulturen sehr schätzen, die russische und die amerikanische. Auf welche Künstler spielen Sie an?Da müsste ich viele Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler nennen. Die Kultur überwindet Grenzen, und in diesem Sinne habe ich auch die Städtepartnerschaft zwischen Saarbrücken und Tbilissi auf den Weg gebracht, als Georgien noch zur Sowjetunion gehörte.Sie schreiben auch, dass die russische Kultur unabdingbar für die europäische sei. Würden Sie das auch von der ukrainischen Kultur sagen?Ich weiß zu wenig über die ukrainische Kultur, aber dass beispielsweise Tolstoi und Dostojewski die europäische Literatur beeinflusst haben, wird wohl niemand bestreiten.Insgesamt wirken Sie sehr überzeugt von Ihren Äußerungen und davon, dass Ihre Interpretation und Auswahl der Quellen die einzig richtige ist. Kommen Sie auch mal ins Zweifeln?Der Zweifel gehört zum Denken. Deshalb lese ich viele Interviews von Leuten, die anderer Meinung sind, um meine Argumente zu überprüfen. Wichtiger als der Zweifel wäre heute aber der Skrupel, den man haben sollte, wenn man im Interesse eines höheren Ideals das Töten Hunderttausender Menschen und die Zerstörung eines ganzen Landes befürwortet. Die immer stärker werdende Unfähigkeit zum Mitleiden ist der Fluch unserer Zeit.