Ökonom Stephan Schulmeister über ETFs: „Früher oder später kommt die kalte Dusche“
Interview Stephan Schulmeister kennt die Finanzmärkte wie wenige andere Beobachter. Aktien besitzt er selber trotzdem keine. Ein Gespräch über Altersvorsorge, den Boom bei ETFs, die Börse und den Sozialstaat
„Eine Politik, die den Sozialstaat schwächt, lässt Kurse steigen“, sagt Ökonom Stephan Schulmeister
Foto: Marcella Ruiz für der Freitag
Auf einmal sind sie überall: Im Internet und in der Presse, die sich als Finanzratgeber versteht, wird man mit Werbung für ETFs regelrecht bombardiert. ETFs steht für Exchange Traded Funds, also Investmentfonds, die an der Börse gehandelt werden. Anstatt wie früher auf einen Fondsmanager zu hören, der mit seinen „Geheimtipps“ sehr oft danebenlag, bilden ETFs einfach einen Querschnitt aus einem ganzen Aktienindex oder gleich mehreren. ETFs wie der MSCI World versprechen sichere, hohe Renditen. Aber kann das überhaupt stimmen? Wir haben mit Stephan Schulmeister gesprochen, einem österreichischen Ökonomen, der seit Jahrzehnten die Finanzmärkte erforscht.
der Freitag: Herr Schulmeister, nehmen wir an, ich hätte 10.000 Euro anges
an, ich hätte 10.000 Euro angespart. Fast alle Ratgeber sagen mir: Bei ETFs gibt es zehn Prozent Rendite. Ich wäre doch blöd, wenn ich nicht mitmache, oder?Stephan Schulmeister: Es kann auch wesentlich mehr sein als zehn Prozent, das hängt von der Art des Fonds ab. Im Bereich KI zum Beispiel waren die Kurssteigerungen in letzter Zeit noch wesentlich höher. Man darf aber nicht vergessen: Es handelt sich dabei um reine Bewertungsgewinne. Was bedeutet: Das, was für jeden Einzelnen rational ist, lässt sich nicht systemisch umsetzen.Dazu gleich mehr, lassen Sie mich zuerst noch fragen: Woher kommt denn dieses Mehr an Geld eigentlich? Es hat ja den Anschein, als würde sich mein Geld einfach so wundersam vermehren … Es wächst und wächst, und das ziemlich schnell.Ja, woher kommt das Geld? Wenn Sie durch Wertsteigerung eine Rendite von 30 Prozent machen, dann kommen zu den 10.000 Euro, die Sie am Anfang eingesetzt hatten, noch mal 3.000 Euro dazu. Aber eigentlich entsteht dabei gar kein neues Geld, es vermehrt sich nichts: Sie müssen nur jemanden finden, der Ihnen Ihre Fonds abkauft. Dieser Käufer hat jetzt dementsprechend weniger Geld. Aber die Geldmenge selbst, so wie sie traditionell definiert wird, steigt dadurch nicht.Sie sagten eben: Für den Einzelnen sei es rational, in ETFs zu investieren; zum Systemischen kommen wir dann gleich später. Aber warum sind ETFs denn überhaupt so irre erfolgreich?Nun, es sind ja nicht nur die ETFs: Deren Kursentwicklung spiegelt nur die allgemeine Entwicklung der Aktienkurse wider. Wann hat das begonnen? Das kann man ziemlich genau sagen: im Jahr 1982. Seitdem ist der DAX auf das 35-Fache gestiegen. Das (nominelle) Bruttoinlandsprodukt hingegen ist im selben Zeitraum lediglich auf das Fünffache gestiegen. Wir haben also seit gut 40 Jahren eine Entwicklung, bei der die Bewertung von Aktienvermögen viel stärker gestiegen ist als die reale Produktion und der reale Wert der Unternehmen.Seitdem wächst auch die Gruppe derer, die Aktien haben.Ja, jetzt beginnt der große Prozess, wo nicht mehr nur die Dagobert Ducks diese Anlageformen annehmen, sondern auch der gehobene Mittelstand und dann der ganz normale Mittelstand, Schritt für Schritt. Wer sind die Hauptprofiteure? Natürlich die, die vorher schon Aktien hatten, deren Kurse jetzt durch die Neuankömmlinge immer mehr in die Höhe gehen. Über Jahrzehnte weitet sich das Ganze langsam aus, vor allem auch durch die privaten Altersvorsorgesysteme in England, Holland und den USA, wodurch immer mehr Kapital in den Finanzsektor und an die Börsen fließt. In Deutschland will die FDP das durch eine Aktienrente imitieren. Wie auch immer: Es entsteht ein Prozess, wo Aktien zu einer Art Geldmaschine zu werden scheinen, zu einer wunderbaren Welt, wo aus Geld immer mehr Geld wird. Dabei sagt schon die Logik, dass das Spiel immer nur so lange weitergehen kann, solange das, was zufließt, größer ist als das, was abfließt.Aber das ist doch ein Schneeballsystem: Ein legales Schneeballsystem zwar, aber eines, das nur so lange funktioniert, als neue Anleger einsteigen.Völlig richtig.Wie lange kann das so weitergehen?Solange es immer neue Anleger gibt, die Geld zuschießen, könnte das (fast) endlos so weitergehen, der DAX könnte auch 100.000 Punkte erreichen. Es glaubt doch ohnehin schon lange niemand mehr daran, dass die Aktien und ihre Kursniveaus wirklich den Wert des Realkapitals und die Gewinnerwartungen der Realwirtschaft widerspiegeln. Aber je mehr die allgemeine Bevölkerung an diesem Spiel partizipiert, desto problematischer.Warum?Es wird in dem Moment zum Problem, wenn es in die andere Richtung kippt. Über Jahrzehnte haben wir mehr Anteilsscheine am Bruttoinlandsprodukt produziert als das, worauf sie bezogen sind: Wenn eine kritische Masse an Anlegern ihre Anteilsscheine dann wieder in Anteile des Bruttoinlandsprodukts eintauschen will, zum Beispiel weil sie jetzt ihre Renten ausschütten lassen, gibt es ein systemisches Problem. Noch mal: Das ist noch kein akutes Problem. Ich bin niemand, der sagt: Das Spiel ist bald vorbei. Aber es ist bei systemischer Betrachtung irgendwann unvermeidbar.Die Fans von ETFs, Aktienrente und überhaupt der Börse sagen stets: Gucken Sie sich die letzten 40 Jahre an, die Kurse sind auf lange Sicht immer gestiegen.Das stimmt ja auch, aber es ist das Ergebnis von Politik. Das ist gefördert worden, nicht nur durch die Anreizbedingungen des Finanzkapitalismus, sondern natürlich auch durch die Schwächung des Sozialstaats, Stichwort kapitalgedeckte Altersvorsorge. Und schließlich ist es auch dadurch gefördert worden, dass die Aktienmärkte zumindest in den USA seit 40 Jahren die Realwirtschaft nicht mehr finanzieren: Die Rückkäufe von Aktien durch Konzerne wie Apple sind vom Volumen her größer als die Neuemissionen von Start-ups. Im Grunde hat sich dadurch die Logik des Kapitalismus ins Gegenteil verkehrt. Wenn man das vergleicht mit der Phase zwischen 1950 und 1973, der Zeit des Wirtschaftswunders, da sind die Aktienkurse in Deutschland überhaupt nicht gestiegen. Obwohl der reale Wert der deutschen Unternehmen auf das Siebenfache gestiegen ist. Wie kann das sein? Nun, das Gewinnstreben war damals auf die Realwirtschaft gerichtet und nicht auf den Finanzsektor.Wie sicher ist dieses wundersame „die Kurse steigen einfach immer weiter“?Ein Risiko gibt es natürlich schon. Das wurde vor vier Jahren schlagend. Denn die wirklichen Profis auf den Finanzmärkten wissen, dass sie kurzfristig bei fallenden Kursen noch wesentlich mehr verdienen können als bei steigenden Kursen. Klar ist der Megatrend ein riesiger Bullenmarkt, der im Grunde seit Anfang der 1980er Jahre besteht. Aber wenn dann so etwas wie Corona passiert, dann gibt es den größten Aktiencrash der Geschichte. Dagegen war 1929 völlig harmlos: 2020 ist der DAX innerhalb von drei Wochen um 35 Prozent abgestürzt. Wir haben das schon wieder verdrängt, aber so was hatte es vorher noch nie gegeben. Nur haben dann die Notenbanken unter der Führung von Jerome Powell in einer wirklich konzertierten Aktion aus vollem Rohr geschossen. Das war ja auch richtig, um eine tiefe Krise zu vermeiden. Zugleich haben sie als Gefangene des Finanzsystems agiert.Ist das dieser Zentralbank-Finanzkapitalismus, von dem Sie sprechen?Ja, die Zentralbanken sind Gefangene einer Fehlentwicklung, die schon 40 Jahre andauert. Sie können es gar nicht mehr zulassen, dass es zu einem Aktiencrash kommt: Weil dann ja auch die Altersvorsorge und die Ersparnisse von Millionen Menschen futsch wären. Es ist also alternativlos, dass sie die Börsen vor dem Absturz bewahren. Das führt aber groteskerweise zum Gegenteil. Denn Notenbanken sind zwar extrem mächtig und können Kursänderungen anstoßen, weil sie unbeschränkte Feuerkraft haben, aber selbst sie können die Folgen nicht kontrollieren. Die Folge der Corona-Zentralbank-Intervention war, dass zwischen März 2020 und Jänner 2021 die Kurse um 80 Prozent gestiegen sind. Also genau in der Phase, als die Realwirtschaft am Boden lag!Früher hieß es, die Börsen seien eine Art Orakel: gespickt mit Erwartungen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung im Allgemeinen und jedes einzelne Unternehmen im Besonderen. Beides wird durch ETFs kaputtgemacht, weil man jetzt einfach das Geld mit der Gießkanne ausschüttet und querbeet den ganzen Index kauft: Natürlich steigen dann alle Aktien, solange Geld nachgeschüttet wird.Richtig. Aber das ist ein Phänomen, das in verschiedenen Phasen des Finanzkapitalismus immer wieder auftaucht. Egal ob in Holland im 17. Jahrhundert die Tulpenmanie oder in England und Kontinentaleuropa der Aktienboom der 1860er und 1870er Jahre. Es ist immer dasselbe: Es breitet sich plötzlich diese Stimmung aus: „Lassen wir unser Geld für uns arbeiten.“ Und dann beginnt eine Art von selbstreferenzieller Vermögensvermehrung, bei der in knappe Vermögenswerte investiert wird, egal ob Grundstücke, Tulpen, Rohstoffe oder Aktien. Diese spekulative Investition bestätigt sich dadurch, dass die Vermögenswerte stark steigen. Aber früher oder später kommt die kalte Dusche.In Amerika gibt es eine Kritik, die sagt: ETFs seien schlecht und führen in den Sozialismus, weil sie alle Unternehmen gleichmachen. Gemeint ist dieser Gießkanneneffekt, der die Preissignale kaputtmacht.Da ist insofern was Wahres dran, als es die Illusion der mikroökonomisch fundierten Wirtschaftstheorie zerstört, die in den USA ebenso wie bei uns gepflegt wird. Die mikroökonomische Sicht rechtfertigt ja die Tätigkeit von Fondsmanagern und Stock-Pickern, weil sie kraft ihrer Erfahrung und ihrer Wissenschaftlichkeit mehr Rendite erzielen würden als ein Index. Die ETFs machen diese Illusion zunichte, weil sie offen darlegen, dass die Finanzwelt zu einem gigantischen Kasino verkommen ist, wo Marktstimmungen – Bullishness, Bearishness – völlig überdecken, ob Firma A oder Firma B besser dasteht. Weil es nur auf die Herdendynamik ankommt.Placeholder infobox-1
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