"Je steiniger der Weg, desto besser"

Fotojournalismus Mithilfe ihrer Kamera erzählt sie Geschichten, die es ohne sie nicht an die Bildoberfläche geschafft hätten. Ein Interview mit UN-Fotopreis-Gewinnerin Ingetje Tadros

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"Je steiniger der Weg, desto besser"

Bild: Ingetje Tadros/Photocircle

Ingetje, was hat Dich dazu bewegt, den Lauf der Welt mit der Kamera einfangen zu wollen?

Mein Vater war Amateur-Fotograf und was auch immer um die Familie herum geschah: Seine Canon hatte er stets bei sich, um es zu dokumentieren. Als ich mit 17 das erste Mal von zu Hause wegging, um für eine Weile in einem Kibbutz zu leben, war das Erste, was ich tat, eine Kamera zu kaufen. Seit damals habe ich zu jedem Zeitpunkt eine mit mir herumgetragen. Ich denke, das Fotografieren stellte seit jeher eine Möglichkeit für mich dar, mich selbst durch die Linse auszudrücken – und die vielen Eindrücke mit denjenigen zu teilen, die selbst nicht das Glück haben, selbst reisen zu können.

Du siehst Dich heute vor allem als Dokumentarfotografin und Geschichtenerzählerin. Wie bist Du dahin gekommen?

Ich habe erst vor ungefähr vier Jahren angefangen, meine fotografische Arbeit ernst zu nehmen. Ich wollte mich damals selbst herausfordern und habe angefangen, Agenturen wie Getty Images zu kontaktieren. Nur um zu sehen, ob sie meine Arbeiten mochten. Und sie taten – und so fing ich nach und nach an, für Getty, Aurora und Corbis zu arbeiten. Dann wurde ich Stringer für Getty und Demotix und fing an als Freie für einige Zeitungen zu arbeiten. Nach einigen Jahren hatte ich jedoch das Gefühl, etwas zu vermissen. Und als ein Freund dann vorschlug, ich solle ein paar Foto-Workshops machen, brachte mich das auf den Pfad, auf dem ich heute bin. Durch diese Workshops hat sich meine fotografische Arbeit um Klassen verbessert und so beschloss ich, das Steuer herumzureißen und nach Geschichten Ausschau zu halten, die ich mit meiner Kamera erzählen und für die ich brennen konnte. Ich glaube, meine Arbeiten wurden aussagekräftiger und authentischer, da diese Geschichten für mich eine große Bedeutung, und gewissermaßen eine eigene Seele haben. Die Geschichte, die Du erzählst, wird glaube ich dadurch eindringlich, dass Du Teil davon wirst und aufhörst, nur daran vorbeizugehen.

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Weshalb hast Du Dein heimisches Holland gegen Australien ausgetauscht? Fotografiert es sich besser am anderen Ende der Welt?

Bereits als kleines Kind wollte ich stets entdecken und reisen; ich konnte mir schon damals nicht vorstellen, in Holland verhaftet zu bleiben. Seit ich 17 war habe ich über 50 Länder bereist! Es war als ich Romani – heute mein Ehemann – traf, dass ich beschloss, nach Australien zu ziehen. Ich habe damals bei einem französischen Reisebüro in Rotterdam gearbeitet, Nouvelles Frontiers, und da die Löhne niedrig waren, durften wir Last Minute Tickets nutzen. Einmal konnte ich Romani mit nach Australien nehmen und ich habe mich sofort in dieses Land verliebt – ich wusste, ich würde wiederkommen. Zunächst lebten wir einige Jahre in Ägypten und Neuseeland und 2001 verkauften wir schließlich alles, reisten mit unseren beiden Kindern (damals acht und zehn Jahre alt) zwei Jahre lang umher und landeten schließlich in Broome im westlichen Australien.

Wie sieht Deiner Ansicht nach ein guter Fotograf aus?

Groß und blond [lacht]. Für mich ist ein guter Fotograf jemand, der eine Geschichte in nur einem Bild erzählen kann.

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Und welche Deiner eigenen Charaktermerkmale haben sich beim Fotografieren als nützlich herausgestellt?

Die Fähigkeit, eine Verbindung aufzubauen – das fällt mir sehr leicht; ich weiß genau, wann ich etwas näher verfolgen will, und der Rest kommt ganz von allein. Ich mag es, herausgefordert zu werden, und ich bin sehr impulsiv. Je steiniger der Weg, desto besser. Außerdem weiß ich, dass es Wunder wirken kann, Menschen mit Respekt, einem Lächeln auf den Lippen und einem Witz im Gepäck zu begegnen.

Seit ich vor allem dokumentarische arbeite, versuche ich auch, langsamer zu arbeiten und unterm Strich weniger zu knipsen. Das ist mit wichtig – den Dingen ihren Lauf zu lassen, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich entfalten und mit meinen Motiven zusammenzusitzen, mit ihnen zu sprechen, Gedanken und Ideen auszutauschen. Manchmal habe ich Fotos nur gemacht, um sie diesen Menschen zurückzugeben, um eine Beziehung aufzubauen. Und auf dem Weg ergeben sich großartige Freundschaften!

Was macht ein Trademark-Ingetje-Tadros-Foto aus?

Gute Frage. Ich hoffe, ich habe es überhaupt schon so weit gebracht. Aber ich denke schon, dass ich mit Geschichten wie Caged Humans in Bali und Kennedy Hill so etwas wie einen konsistenten Stil entwickelt habe. Ich versuche, zu konfrontieren und die Dinge in all ihrer Rohheit zu zeigen. Außerdem ist es mir wichtig, dass meinen Fotos eine Mischung aus großer Nähe und genügend Abstand zu eigen ist.

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Du hast vor Kurzem mit Amnesty International Australia an einer Kampagne für die Rechte junger Aborigines in der Kimberley Region gearbeitet. Worum ging es dabei genau?

Ich habe diesen Auftrag für ein fünftägiges Shooting mit Amnesty im Februar erhalten. Dabei lag der Fokus der Kampagne darauf, eine große Vielfalt individueller Geschichten zu erzählen, die sich um die Überrepräsentation indigener Kinder in Haft drehten.

Für Dein Projekt „Caged Humans in Bali“ hast Du außerdem 2014 den United Nations Association of Australia Best Photojournalism Award erhalten. Worum ging es bei dem Projekt?

Das passierte völlig ungeplant! Ich wollte damals eigentlich an einem Workshop teilnehmen – aber als ich erfuhr, dass er auf Bali stattfinden sollte, hätte ich beinahe abgesagt, da ich schon so oft dort gewesen war. Ich dachte ehrlich gesagt, ich hätte bereits alles gesehen. Als man mir versprach, ich könne allein arbeiten und auch das Thema selbst bestimmen, fing ich an einmal unverbindlich zu recherchieren. Und so erfuhr ich von Pasung, einer Methode zur „Bändigung“ psychisch Kranker; und von einer Organisation, die den Opfern dieser Vorgehensweise und ihren Familien zur Seite steht, dem Suryani Institute. Es war sehr schwierig und dauerte sehr lang, bis ich dort jemanden erreichte – und letzten Endes war das Institut nicht an einer Geschichte interessiert, da seine Mitarbeiter zuvor schlechte Erfahrungen mit einem anderen Fotografen gemacht hatten. Das war der Moment, in dem ich mich entschied, zu dem Workshop zu fahren, und zwar mit zwei Tagen Vorlauf, um einen Termin mit dem Institut zu bekommen. Ich konnte die Mitarbeiter letztlich überzeugen und fing am nächsten Tag an, an der Geschichte zu arbeiten.

Eine unglaubliche Erfahrung! Ich fotografierte über 20 Menschen, die unter Pasung gelitten hatten, oder diese Erfahrung gerade machten. Eine Sache, die ich dabei gelernt habe, ist in Momenten intensiven menschlichen Leidens einfach nur zu sein – nicht mehr – um überhaupt fotografieren zu können. Das hatte ich zuvor noch nie erlebt und um ehrlich zu sein verfolgt mich diese Erfahrung bis heute. Ich habe stets alle anderen aus dem Zimmer geschickt und blieb allein mit meinen Motiven – manchmal mit einer an einen Bambusstuhl geketteten Person, die speichelte und merkwürdige Geräusche von sich gab. Um dort sitzen und fotografieren zu können, musste sich etwas in mir verändern, und ich sagte mir selbst: Diese Geschichte musst Du erzählen, das muss an die Öffentlichkeit!

Zurück zu Hause wurden meine Bilder von einem auf den anderen Tag in der Daily Mail veröffentlicht und ich reichte sie bei einigen Wettbewerben ein. Ich erhielt einen Anruf der Vereinten Nationen, bei dem sie mich fragten, ob ich zur Preisverleihung in Melbourne kommen wolle, und da ich zu der Zeit ohnehin unterwegs war, sagte ich zu. Und dort fand ich heraus, dass ich den Best Photojournalist Award gewonnen hatte! Was soll ich sagen, ich war sprachlos und auch eingeschüchtert, da sämtliche Zeitungen ihre Redakteure und Fotografen mit dabei hatten, während ich selbst allein war und auch noch eine Rede halten musste. Alles in allem eine großartige Erfahrung, gleichzeitig aber auch traurig, da die meisten Menschen, die ich fotografiert hatte noch immer festgehalten werden. Dieser Award hätte eigentlich an diejenigen gehen sollen, die ihnen dort vor Ort helfen – nämlich das Suryani Institute, das sind die wahren Helden.

Denkst Du, dass man als Fotograf – als Chronist – etwas bewegen kann?

Ich glaube schon, ja. Ich habe kürzlich eine Geschichte über Kennedy Hill veröffentlicht, das liegt fünf Minuten von meinem Zuhause entfernt. Kennedy Hill ist eine Aborigine Gemeinde in Broome, deren Existenz von Premier Colin Barnetts Vorhaben überschattet wird, 100 bis 150 solcher Gemeinden im Westen des Landes zu schließen. Und ich erinnere mich, dass als ich das erste Mal Fotos von Kennedy Hill gepostet habe, die Leute mich fragten: „Wo ist das?“ Selbst die Ortsansässigen.

Meiner Erfahrung nach gibt es immer Menschen, die es nicht mögen, wenn man ihnen die Realität zeigt, wie sie ist. Mir ist es aber vor allem wichtig, dass meine Motive wollen, dass ich ihre Geschichte erzähle. Das macht sie stärker, es gibt ihnen eine Stimme. Es hat schon Fotografen gegeben, die mit ihren Geschichten dafür gesorgt haben, dass Gesetze geändert wurden. Ich denke, das ist die größte Inspiration für mich.

Ingetje Tadros lebt und arbeitet an der australischen Westküste. Mit dem Verkauf ihrer Bilder unterstützt die Fotografin Tuberkulosekranke in Timor-Leste.

Fragen und Übersetzung aus dem Englischen: Katrin Strohmaier

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https://www.photocircle.net/de/photos/thumbnails/big/22152-Longneck-girls--by-ingetje-tadros.jpg

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