Karl-Marx-Stadt ist überall

Jahresend-Reflexionen Zweihundert Jahre nach Karl Marx' Geburt ist ein Widerspruch entstanden, der ihn dazu gebracht hätte, sich im Grabe zu drehen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Wirklichkeit übertrifft die Fiktion, lieber Karl
Die Wirklichkeit übertrifft die Fiktion, lieber Karl

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Vor fast vier Monaten hat ein soziopolitisches Ereignis in der damaligen Karl-Marx-Stadt stattgefunden, dessen Wichtigkeit und Besonderheit nicht aufhört, zur Reflexion einzuladen – insbesondere zu diesem Jahresende. Zweihundert Jahre nach Karl Marx´ Geburt ist ein Widerspruch entstanden, der der Größe dieses Jubiläums entspricht und Marx dazu gebracht hätte, sich im Grab umzudrehen. Am Denkmal des Theoretikers der Arbeiterrevolution in Chemnitz haben sich rechtsradikale Gruppierungen und sich selbst als Mitte der Gesellschaft ausgegebenen Bürger versammelt, um eine eigene Revolution gegen die Tatsache und die normative Rechtfertigung der Ankunft von kriminell bezeichneten Asylbewerber und Migranten in Gang zu setzen. Zum Klang des „Ausländer raus“, „Merkel muss weg“ und „Volksverräterin“ hat der Trupp von aufgeklärten Verfechtern „europäischer Werte“ an die Pogrome der 30er und 40er Jahre erinnert, bei der nur die Vernunft des eigenen, nationalen Brüllens galt.

Die alteuropäischen Vertreter der marschierenden AfD, Pegida und Pro-Chemnitz haben keine Zeit verschwendet, um den alten Schleier des Ethnonationalismus zu verbreiten. Es spielte keine Rolle, dass der Ermordete der Sohn eines schwarzen Kubaners war. In dem Fall lohnte es sich, jenes Bild des von ausländischer Kriminalität betroffenen Deutschen zu verstecken. Nicht, dass die Laufenden über sein ausländisches Aussehen Bescheid wissen! Das ganze emotional komponierte Auftreten musste daraufhin als Vorbild für die internationalen Rechte gelten. Der Kontakt, den die Marschierenden mit dem Rest europäischer und anderswo existierenden rechtsradikalen Bewegungen geknüpft haben, erweist sich dabei als rechtsradikale Ode zum Widerspruch. Das Motto lässt sich heute Marx´ paraphrasierend schnell erfassen: „Rassisten aller Länder, vereinigt euch!“.

Die Geschichte ist trotz verschiedener Nuancen mehr oder weniger bekannt. Die sich selbst als „Verlierer“ der globalen Spätmoderne bezeichneten Menschen suchen Zuflucht an einem der unerschütterlichsten Orte überhaupt: der Herkunft. Gegenüber der deutlichen Heterogenität der globalen Welt erscheint die Homogenität des Eigenen als ihr bestes Gegenmittel. Der alte Widerspruch von Kapital und Arbeit wird deshalb durch eine klare Spannung zwischen wir und sie ersetzt, die auf einem asymmetrischen, fremdenfeindlichen Prinzip beruht. Dabei geht es nicht mehr, wie bei dem vor einigen Monaten von Rechtsradikalen besuchten Marx, um universalistisch orientierte Klassen-, sondern eher um ethnisch-nationalistische Kämpfe. In jenen selbst kreierten, von Fernsehern und YouTube-Videos angefeuerten Kämpfen soll die reaktionäre Revolution eine neue Ära in der uralten Geschichte Deutschlands aufmachen. Während Marx zu seinerzeit das zu erkämpfende „Paradies“ im Kommunismus identifizierte, bei dem es keine Klassenunterschiede mehr gibt, sehen aber die Rechtsextremisten es in einer zeitnahen Gesellschaft, bei der es keine ethnischen Unterschiede mehr gibt, sondern nur das „Deutsche“ – mit oder ohne Vogelschiss ist ihnen sicherlich unbedeutend.

Die politischen Widersprüche des “Establishments”

Aber die Widersprüche hören hier bedauerlicherweise nicht auf, sondern breiten ihre Tentakel auf das politische System aus. Bei der Großen Koalition wird bis heute der Versuch unternommen, eine gewisse Grundeinheit zu bewahren, damit Deutschland stabil regiert wird, ohne darauf zu achten, dass das heutige „stabile“ Zusammenregieren zu einem künftigen instabilen Regieren führt. Bei der SPD ist dieses Paradox am Deutlichsten – auch nach der Landtagswahl in Bayern und Hessen. Die Beteiligung dieser innerlich durch junge und alte Mitgliedern geteilten Partei an der Bundesregierung erweist sich als Ausdruck einer bloßen Machtbestrebung. Dabei hat die Ausübung solcher Machtbesessenheit nicht nur kein bedeutendes sozialdemokratisches Gesicht angenommen, sondern auch die Partei selbst zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die Macht will immer mehr Macht, doch kann sie in ihrer Befriedigung schädlich werden.

Innerhalb dieses Panoramas befindet sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso in einem sichtbaren Paradox – auch nach ihrem Rucktritt als CDU-Parteivorsitzende. Aufgrund der letztgenannten Widersprüche inmitten der Großen Koalition zeigte sich Merkel zum Thema „Rassismus und Flüchtlingskrise“ größtenteils des Jahres ohne richtiges Regierungsauftreten. Vorbei sind Entscheidungen wie „Wir schaffen das“. Die Notwendigkeit, die negativen Effekte des Regierens zu reduzieren, hat die dreizehn Jahre lang regierende Merkel dazu gebracht, sich hinter der Vernunft der Ereignisse zu verstecken, ohne zu verstehen, dass, wenn es um das Regieren geht, nicht nur wichtig ist, der Machthaber zu sein, sondern auch als solcher zu wirken. Genauso widersprüchlich ist es bei der Zwillings-Partei der AFD, d.h. die CSU. Zur gleichen Zeit, in der sie vor drei Monaten den geheimen Schützer derjenigen verteidigt hat, die die Verfassung ständig in Frage stellen, greift sie ihre in bayerischen Wahlkampf notwendig zugespitzt weggeschobene Zwillings-Partei an und stellt sie merkwürdigerweise als rechtsaußen Gefahr dar. Wenn es um Macht geht, gibt es keine Familie.

Interessant wird es auch letztendlich bei der „progressiven Opposition“. Während sich dieses Jahr bei den Grünen einige Stimmen erhoben haben, die, wie Robert Habeck, an die von Marx als „Reservearmee“ des Kapitalismus bezeichneten Migranten appellieren, um Probleme wie die der Pflege zu lösen – das lohnt sich offensichtlich mehr als die bestehenden Arbeitsbedingungen zu verbessern –, erinnert uns bei der Linke die neue eiserne Dame daran, dass es in der Politik nicht notwendigerweise darum geht, Ideen für ein allgemeines Zusammenleben zu fördern und zu verteidigen, sondern vielmehr darum, Stimmen zu sammeln. Die Stimmen der marschierenden oder mitlaufenden Unzufriedenen wieder zu gewinnen, die „Ausländer raus“ gebrüllt haben, nahm die mit migrationshintergrund bekannte Vertreterin der neuen Aufstehen-Bewegung und Marx´ Sympathisantin Sahra Wagenknecht als Herausforderung[1]. Der chilenischer Antipoet Nicanor Parra hat das Paradox solcher Visionen am Klarsten ausgedrückt: Die Linke und Rechte vereint werden nie besiegt werden!

Einige werden wohl behaupten, dass solche Widersprüche Resultat einer willkürlichen Analyse sind, die Probleme sieht, wo es nur Meinungsunterschiede gibt und kleines Kalkül diagnostiziert, wo bloß guter Wille ist. Das verkennt aber die Textur einer sozialen Welt, die ohne solche Widersprüche nicht los kommt. Der Widerspruchsgeist der Moderne, den Marx gesellschaftstheoretisch auf den Punkt gebracht hat, weht weiter, ob man es will oder nicht, mit immer neuen Überraschungen. Wie man auf Spanisch gern sagt: la realidad siempre supera a la ficción (die Wirklichkeit übertrifft immer die Fiktion). Wünschenswert in dieser Zeit ist nur, dass wir nächstes Mal überrascht werden und die Wirklichkeit in die andere, gutherzige Richtung übertroffen wird.

[1] https://www.youtube.com/watch?v=Gr-2B5zePZo

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Rafael Alvear M.

Postdoktorand in Soziologe -- Neues Buch: "Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie" (Transcript Verlag, 2020)

Rafael Alvear M.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden