Der Luther-Rummel nähert sich der Apotheose

Luther-Effekte Martin Luther, diese „Inkarnation deutschen Wesens“ (Thomas Mann), als Apologet deutscher Untertanengesinnung und Spiritus rector des modernen Antisemitismus?

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Wofür steht Martin Luther?
Wofür steht Martin Luther?

Foto: Lucas Cranach der Ältere/Wikimedia Commons (CC0)

„Der Luthereffekt“ lautet der Titel der großen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Berliner Martin-Gropius-Bau zum Reformationsjahr. Sie beleuchtet die Vielfalt und Wirkungsgeschichte von „500 Jahre Protestantismus in der Welt“, ohne dessen Konfliktpotenziale auszusparen. Am 31. Oktober 1517 hatte der Wittenberger Mönch Martin Luther einer hartnäckigen Legende zufolge 95 Thesen an eine Kirchentür genagelt, in denen er vor allem den damals verbreiteten Ablasshandel als unchristlich anprangerte, ein einträgliches kirchliches Geschäftsmodell, den armen Sündern gegen Bares den Sündenerlass zu bescheinigen, eine Praxis, für die man wohl heute wegen Betruges zu Recht im Knast landen würde. Neben dem 150. Jahrestag des „Kapital“ von Karl Marx und dem 100. Jahrestag der beiden Phasen der antizaristischen Revolution in Russland nun mit „500 Jahre Reformation“ in diesem Jahr ein weiteres gedenkpolitisches Superevent, alles Gedenkanlässe von Ereignissen, die auf den Gang der jüngeren Weltgeschichte prägend einwirkten.

Bereits 2011 hatte der Bundestag befunden, „die Reformation als ein zentrales Ereignis in der Geschichte des christlich geprägten Europas“ habe „die Entwicklung eines Menschenbildes gefördert, das von einem neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeblich beeinflusst wurde“. Sie sei „wichtig für die Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit und die Gewissensentscheidung des Einzelnen“. Erst damit hätten sich „die Aufklärung, die Herausbildung der Menschenrechte und die Demokratie entwickeln“ können. Dieses Ereignis wurde und wird nun nach allen Regeln der Event-Kunst begangen, mit Kirchentag, einmalig bundesweitem Feiertag, vielen Ausstellungen und Konzerten, aber auch mit eigenem Luther-Merchandising wie Playmobil-Figuren, Luther-Socken, Reformationsbonbons usw.

Dass dafür viel Steuergelder flossen, findet nicht jedermann plausibel. Manche üben deutliche Kritik an dem Luther-Rummel, wie etwa der Kirchenhistoriker und profunder Luther-Kenner Thomas Kaufmann. Er hält das ganze Tamtam für „banal, erbärmlich, albern“ (Tagesspiegel v. 02.01.2017) und auch die Luther verliehene Vorbildrolle für „abwegig“, nicht zuletzt wegen seines Antijudaimus‘, der nicht nur religiöser Natur gewesen sei, sondern biologistische und damit antisemitische Züge im modernen Sinne trug. „Durch niemanden anderes Worte ist so eindeutig zum Synagogenbrand aufgerufen worden wie durch Luthers. Die brennenden Synagogen am 9. November 1938 waren der Probelauf für den Holocaust.“ (ebd.)

Starke Worte des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann, der auch an den Luther-Kult der Hakenkreuzler erinnerte. Wem ist in Halle eigentlich noch bewusst, dass erst unter deren Herrschaft die einstige Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg zum 450. Geburtstag Martin Luthers am 10. November 1933 ihren heutigen Namen erhielt, und zwar mit ausdrücklichem Verweis auf Luther als „Ahnherren des Antisemitismus“? Auch für die Hamburger „Zeit“ ist „Luthers notorische und radikale Judenfeindschaft“ der „größte Sündenfall“, an dem es „nicht viel zu deuteln“ gebe und sieht einen entscheidenden Kollateralnutzen der Luther-Dekade darin, daß „noch nie auf derart hohem Niveau über protestantische Judenfeindschaft gesprochen, geforscht, geschrieben (wurde) wie heute.“ („Die Zeit“, 19.11. 2015 u. 14.12.2016)

Für Thomas Mann ist die Fügsamkeit des deutschen Volkes in das Hitlerregime in der durch die lutherische Zwei-Reiche-Lehre gestärkten Untertanengesinnung begründet, die Widerstand gegen eine legitimierte Obrigkeit ausschlos: „Seine antipolitische Devotheit... hat nicht nur für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt; sie hat nicht nur den deutschen Dualismus von kühnster Spekulation und politischer Unmündigkeit teils begünstigt und teils geschaffen. Sie ist vor allem repräsentativ auf eine monumentale und trotzige Weise für das kerndeutsche Auseinanderfallen von nationalem Impuls und dem Ideal politischer Freiheit. Denn die Reformation, wie später die Erhebung gegen Napoleon, war eine nationalistische Freiheitsbewegung.“ (Deutschland und die Deutschen, 1945)

Diese militant-servile Haltung des Reformators gegenüber jeder Art von weltlicher obrigkeitsstaatlicher Gewaltherrschaft und sozial streng gegliederter Stände- und Klassenordnung als eine gottgewollte, die ihm das Attribut eines „Fürstenknechtes“ einbrachte, scheint jedoch weniger im Fokus der Feierlichkeiten zu stehen. „Auf‘s erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert wohl gründen, dass nicht jemand daran zweifle, es sei von Gottes Willen und Ordnung in der Welt. Die Sprüche aber, die es gründen, sind diese, Röm. 19: ‚Eine jegliche Seele sei der Gewalt und Obrigkeit untertan; denn ist keine Gewalt ohne von Gott. Die Gewalt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet. Wer nun der Gewalt widersteht, der widersteht Gottes Ordnung. Wer aber Gottes Ordnung widersteht, der wird ihm selbst die Verdammnis erlangen.‘ Item 1. Petr. 2: ‚Seid untertan allerlei menschlicher Ordnung, es sei dem König, als dem Vornehmsten oder den Pflegern, als die von ihm gesandt sind zur Rache der Bösen und zu Lob der Frommen.‘“ („Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man Gehorsam schuldig sei“, 1523, in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Berlin 1916, S. 180). Es sind Sprüche wie diese, die Marx zu der Erkenntnis bewogen, jede Gesellschaftskritik habe mit Religionskritik zu beginnen.

Für den liberalen Soziologen Max Weber war dieses blinde Gehorsamsgebot der Kern der von Luther gestifteten protestantischen Ethik, die dem „Geist des Kapitalismus“ zu Grunde liege, so der Titel seiner berühmten religionssoziologischen Studie von 1905. Er sah in Luthers Ethos die Aufforderung an das Individuum, „grundsätzlich in dem Beruf und Stand (zu) bleiben, in den ihn Gott einmal gestellt hat, und sein irdisches Streben in den Schranken dieser seiner gegebenen Lebensstellung (zu) halten.“ Der darauf fußende „ökonomische Traditionalismus“ sei der „Ausfluß des immer intensiver gewordenen Vorsehungsglaubens, der den bedingungslosen Gehorsam gegen Gott mit der bedingungslosen Fügung in die gegebene Lage identifiziert“. Mit anderen Worten: „Einmal Plebejer, immer Plebejer!“ Und wehe den Revolutionären, die dazu anstacheln, dagegen aufzumucken und sich etwas anderes als diese Klassenherrschaft von Gottes Gnaden vorstellen können! Auch das ein Luther-Effekt.

Damit in dieser Gottesordnung die Untertanen auch ja nicht auf emanzipatorische Ideen kommen, dagegen aufzumucken und etwa ihren gottbegnadeten Herrschern zu Leibe rücken, bedarf es zu deren Schutz des weltlichen Schwertes. Dazu passen dann auch Luthers kriegssegnende Thesen. Mitten im 1. Weltkrieg, einem weiteren Jahrhundertjubiläum, wurde in Berlin Luthers Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“ (1526) neu aufgelegt. Ich fand davon im großväterlichen Nachlass ein Exemplar einer tornisterhandlichen Feldausgabe. Darin heißt es: „Darum ehrt auch Gott das Schwert, also hoch, daß er‘s seine eigene Ordnung heißt, und will nicht, daß man sagen oder wähnen solle, Menschen haben‘s erfunden oder eingesetzt. Denn die Hand, die solches Schwert führt und würgt, ist auch alsdann nicht mehr Menschenhand, sondern Gotteshand, und nicht der Mensch, sondern Gott hängt, rädert, enthauptet, würgt und kriegt. Es sind alles seine Werke und seine Gerichte.“ Welch religiös verbrämter Blankoscheck für jede Art von Kriegsverbrechen, der in keiner Feldpredigt vor den Schlachten von Tannenberg oder Verdun gefehlt haben dürfte, ehe es hieß: „Helm ab zum Gebet!“ Gotteskrieger-Ideologen gibt es also nicht erst seit dem IS.

Wie seine Dissidenz zum päpstlichen Establishment in der Frage des Ablaß-Handels oder seine Bibel-Übersetzung gehören auch diese Teile des Luther-Erbes nicht weniger zum „Luther-Effekt“. Wie die sich allerdings mit dem vom Bundestag gepriesenen „neuen christlichen Freiheitsbegriff“ vertragen, steht wohl auf einem anderen Blatt. ..

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