An oder mit Corona gestorben

Corona-Journalismus Für die Kritisierten ist es Haarspalterei - für die Kritiker Kern ihrer Beanstandung der Pandemie-Berichterstattung: der Verzicht auf exakte Beschreibungen zugunsten brutaler Vereinfachung, letztlich in Gut und Böse, richtig und falsch.

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Eingebetteter MedieninhaltTim Röhn (Reporter und Leiter des Investigativ-Teams der Welt) schreibt auf Twitter:

"Habe die neue #Hirschhausen-Covid-Doku bis Minute 3 gesehen. Dann behauptet der Autor: „Zur Einordnung: In Deutschland sind 173.000 Menschen AN Corona gestorben.“ Das ist eine so offensichtliche Falschinformation, dass man fast von Absicht ausgehen muss, @DasErste" (10. Juni 2023; 23:39 Uhr)

Weiter hat Röhn dann nach eigenen Angaben nicht geschaut. Und als jemand, der sich intensiv mit dem Corona-Journalismus beschäftigt hat, kann ich es ihm sehr gut nachfühlen. Denn ja, solche Falschaussagen sind Absicht, sie sind kein Versehen, sie werden nicht korrigiert, wenn man den Kollegen darauf hinweist. Aber es sind nach meiner Einschätzung auch keine vorsätzlichen Lügen, kein bewusstes Biegen der Wahrheit wie in der klassischen Public Relations. Sondern es ist die Überzeugung dieser Journalisten, mit ihrer Hemdsärmeligkeit richtig zu liegen. Es ist ihr Erkenntnisdesinteresse, das zu all solchen Falschmeldungen führt - und die natürlich einen Bestätigungskosmos ergeben, einen Resonanzraum für weiteren Quark.

Und das ist viel problematischer für unsere Gesellschaft, als es eine "Lügenpresse" wäre. Wer lügt, kennt schließlich die Wahrheit. Man könnte mit ihm rational reden. Es gibt Motive fürs Lügen, meist Notwendigkeiten – wenigstens aus der Sicht des Lügenden.
Aber wer die Welt nicht in ihrer Differenziertheit wahrnimmt und gleichwohl behauptet, genau über diese Differenziertheiten sprechen zu können, der ist rational nicht mehr erreichbar.

Der Großteil journalistischer Fehlleistungen, die uns seit dreieinhalb Jahren zu Corona präsentiert werden, entstehen aus Absicht; sie sind - aus Sicht der Journalisten - nicht das Ergebnis von Fehlern oder Unzulänglichkeiten.
Gerade bei großen Häusern, bei Sendern insbesondere, schauen genügend Leute vor Ausstrahlung auf einen Beitrag. Unwahrscheinlich, dass da mehrfach der gleiche Fehler gemacht wird. Die Falschinformation entspringt viel mehr der Hybris, bereits alles zu wissen und dieses Wissen nun an die deutlich weniger wissenden Rezipienten weiterzugeben. Nur so entstehen Weizenkörner bestäubende Bienen, nur so liest man, was nirgends steht, und nur so schwadroniert man seit drei Jahren mit exakten Zahlen von den "Corona-Toten", die in Wahrheit niemand gezählt hat, die weder Politik noch die für sie und unter ihrer Fuchtel arbeitenden Behörden interessiert haben.

Ich hatte das bereits im Sommer 2020 an einer bis heute relevanten Standardsituation festgemacht: der routinierten Behauptung in den Tages- und Wochenreporten, so und so viele Menschen "müssen auf Intensivstation beatmet werden". Im Indikativ und als Tatsache, nicht als medizinische Meinung einzelner Ärzte präsentiert. Die Aussage ist regelmäßig falsch, zumindest mit der impliziten Behauptung, es zu wissen (anstatt eine externe Quelle für die Tatsachenbehauptung anzugeben). Aber sie ist auch inhaltlich falsch, sobald wir auch nur einen Patienten haben, der nicht "beatmet werden muss": weil er es selbst nicht wollte, weil es medizinisch nicht notwendig oder zumindest bezweifelt ist oder weil es in ethischer Abwägung die Alternative Palliativversorgung gibt.
Wer aber von "müssen" spricht, verbaut sich selbst die Recherche. Denn "was muss das muss" weiß der Volksmund. Da gibt es keine Fragen zu stellen, da ist nichts zu recherchieren. Was eh muss, bleibt vom Journalismus verschont. Und so wird in den Medien kaum thematisiert, dass eine erhebliche Zahl von Covid-19-Patienten nicht trotz, sondern wegen der invasiven Beatmung gestorben ist (ein scheinbares "Paradox", das man natürlich auch bei allen anderen Behandlungen finden kann, nur meist weniger dramatisch und in deutlich geringerer Fallzahl).

Ich habe das mit vielen Kollegen diskutiert (u.a. öffentlich: Kritik an meiner Position, meine Entgegnung). Und es läuft immer darauf hinaus, es nicht genauer wissen zu wollen, nicht differenzieren zu wollen, das Publikum nicht zu verwirren, eben Unterscheidungen wie "mit Corona" und "an Corona" gestorben für Mumpitz zu halten. Erkenntnisdesinteresse. Rechercheverweigerung.

Und das ist leider kein Corona-Spezifikum. Da war es möglicherweise besonders stark ausgeprägt (empirische Daten dazu kenne ich nicht), meiner Vermutung nach angetrieben von der persönlichen Gesundheitssorge der Journalisten, die ethologisch völlig korrekt aber journalistisch leider inakzeptabel den Führern durch die Krise gefolgt sind, um nicht von der Herde getrennt zu werden (die sie gegen das Böse immunisiert), um nicht vom Weg abzukommen, um nicht allein auf weiter Flur zu stehen.

Aktuell Rammstein. Mit der ersten Geschichte von Süddeutsche und NDR war klar, wie es weitergehen wird: der Herdentrieb, die vielen Einzelgeschichten, die Meldungen von gekündigten Werbepartnerschaften, Veranstaltungsabsagen etc. - alles, alles war von der ersten Sekunde an klar. Die Storys hätte man alle - mit Lücken für ein paar Namen und Zahlen - direkt vor der ersten Veröffentlichung schreiben können. Und das liegt nicht daran, dass eben Ermittlungs- und Strafverfahren in einer bestimmten Weise ablaufen müssen. Sondern es liegt daran, dass auch hier Journalisten vom ersten Moment an glauben, den Sachverhalt zu kennen und fortan nur noch das dumme Publikum aufklären bzw. unterhalten zu müssen.

Siehe zur Medienkritik ausführlich mit mehreren hundert Beispielen:
Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus - Eine kommentierte Fallsammlung

PS: Der Hirschhausen-Film läuft am Montag, 12. Juni 2023, ab 20:15 Uhr in der ARD und steht ansonsten in der Mediathek bereit.

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