Chinesische Städte haben in den letzten 35 Jahren einen enormen Wandel vollzogen: Sie wachsen nicht nur in einem gigantischen Tempo, sondern leisten auch einen erheblichen Beitrag zur Modernisierung des Landes. Nahezu die gesamte chinesische Mittelschicht – geschätzte 120 Millionen Menschen – sind hier beheimatet.
Dabei zählen die aufstrebenden Metropolen (noch) nicht zu den klimafreundlichsten Städten der Welt, sind aber in diesem Bereich durchaus ambitioniert. Denn nachdem das nachgeholte Industriezeitalter in China verseuchte Flüsse, verschmutzte Luft und eine zerstörte Umwelt hinterlassen hat, wurde seit etwa 10-15 Jahren damit begonnen, die chinesischen Städte erneut in lebenswerte Orte zu verwandeln.
Wer heute durch eine Stadt wie Peking fährt, wird überrascht sein, mit welcher Intensität die Begrünung der Stadt vorangetrieben wird. Verlässt man die Stadt mit dem Schnellzug bemerkt man die vielen Baumschulen, die sich entlang der Strecke befinden. Gleiches gilt für andere urbane Räume in China.
Politisch wird eine nachhaltige, ökologische Stadtentwicklung mit verschiedenen Programmen unterstützt. Seit 2006 werden Eco- und Low-Carbon Cities ausgezeichnet, die besondere Leuchtturmprojekte, insbesondere in den Bereichen Effizienz- bzw. kohlenstoffarme Technologien, vorweisen können. Beim so genannten Sponge-City Programm geht es um die Resilienz von Städten, die an Flüssen oder am Meer liegen.
Besonders großzügig zeigt sich der chinesische Staat bei der Förderung von Smart-Cities. Für den Zeitraum von 2016 bis 2020 ist ein Budget von 500 Mrd. RMB (umgerechnet knapp 70 Mrd. Euro) eingeplant. Von schätzungsweise etwa 1000 Smart City Pilotprojekten weltweit befinden sich mehr als die Hälfte in China. Durch Big Data Analysen, Internet of Things (IoT) Technologien und intelligente Infrastruktursysteme sollen Städte effizienter und damit auch umweltfreundlicher und lebenswerter werden.
In der internationalen Öffentlichkeit und bei westlich-orientierten Medien betrachtet man diese Modernisierungsvorhaben mit großer Skepsis. Vor allem die angekündigte Einführung eines Social-Credit-Systems schürt die Annahme, dass der chinesische Staat vorhat, die eigene Bevölkerung in bisher unbekanntem Ausmaße zu überwachen und unerwünschte Handlungen und Meinungsäußerungen gezielt zu sanktionieren.
Die Befürchtungen sind durchaus gerechtfertigt: Gerade in den autonomen Regionen, in denen es starke separatistische Bewegungen gibt wie in Xinjiang und Tibet, nutzen chinesische Behörden digitale Kontrollsysteme zur Überwachung und als Mittel der Repression. Und dennoch lässt sich diese Analyse nicht auf ganz China übertragen, denn in den allermeisten Provinzen wird die Einführung neuer Technologien, wie zum Beispiel Videoüberwachung und Gesichtserkennung, als etwas prinzipiell Positives empfunden.
Dies lässt sich zum einen damit erklären, dass viele Chinesinnen und Chinesen sich davon mehr Sicherheit (Stichwort Terrorbekämpfung), Ordnung und „Harmonie“ erhoffen – seit Hu Jintao, Vorgänger von Staatspräsident Xi Jinping, ist der Begriff „harmonische Gesellschaft“ fester Bestandteil politischer Reden. Zum anderen hat sich in der chinesischen Gesellschaft eine sehr positive Vision von technischem Fortschritt herausgebildet, die zum Teil spielerische Züge aufweist: Gerade für die noch junge Mittelschicht ist es eine Selbstverständlichkeit, digitale Applikationen wie WeChat zu nutzen, um verschiedenste Aufgaben des Alltags zu organisieren. Dabei schwingt eine Mischung aus Status und Stolz mit, sich selbst und das eigene Land als digitalen Vorreiter zu sehen.
Hier setzt auch das Social-Kredit-System an. Dieses wird bisher kaum, zumindest bei den Chinesinnen und Chinesen, als ein Überwachungsinstrument wahrgenommen und zielt darauf ab, die Neugier und Affinität für „smarte“ Lösungen zu nutzen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Laut Regierung soll das System unter anderem Anreize schaffen, mit denen umwelt- und klimabewusstes Verhalten gefördert wird. Dies sei eine notwendige Flankierung einer groß angelegten ökologischen Umsteuerung. Wie erfolgreich dieser Ansatz ist, bleibt abzuwarten.
Fest steht, dass die Erreichung globaler Klimaschutzziele ohne China nicht möglich sein wird. Das Land ist für mehr als ein Viertel des weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich und sieht sich mit enormen Transformationsaufgaben konfrontiert: Es gilt einerseits den derzeitigen Ausstoß und die damit verbundene Luftverschmutzung nachhaltig zu begrenzen. Andererseits muss, entsprechend des Pariser Abkommens, eine signifikante Verringerung von Treibhausgasen erzielt werden, ohne dabei das vergleichsweise hohe Wirtschaftswachstum und die Energieversorgung des Landes zu gefährden.
Dabei ist China derzeit noch auf die Unterstützung und das Knowhow ausländischer Unternehmen angewiesen. Auslandsinvestitionen gerade in den Bereichen Effizienz- und Umwelttechnologien sind sehr willkommen und die chinesische Regierung ist bemüht, kritische Punkte mit Blick auf die Öffnung des chinesischen Marktes (Stichwort: Schutz des geistigen Eigentums und Erwerb an chinesischen Firmenanteilen) aus dem Weg zu räumen.
Gleichwohl sind in den letzten Jahren zahlreiche „Reallabore“ der urbanen Energiewende entstanden und in einigen Bereichen, z.B. Elektromobilität und Photovoltaik, ist China zum technologischen Vorreiter und Weltmarktführer aufgestiegen. Damit ändert sich auch die Rolle europäischer Unternehmen und Regierungsorganisationen, die in China an der Einführung von Effizienztechnologien arbeiten. Vom „Importeur“ werden diese zu Partnern eines Gemeinschaftsprojektes: globaler Klimaschutz.
Das bietet die Chance, Innovationen auch in die andere Richtung, von China nach Europa, fließen zu lassen sowie, und hier liegt wahrscheinlich eines der größten zukünftigen Potenziale Europäisch-Chinesischer Wirtschaftsbeziehungen, zusammen Energiewende-Projekte in Drittländern zu entwickeln und umzusetzen, etwa in Zentralasien oder Afrika im Kontext der Belt and Road Initiative (BRI).
Die Quintessenz lautet: Gegenwärtig sind chinesische Städte zentrale Partner beim Kampf gegen die globale Erderwärmung, weil sich in China mit den richtigen Maßnahmen enorme Mengen an CO2 einsparen lassen. Europäische Unternehmen können sich dabei mit dem Export von Effizienztechnologien sowie passenden Umweltstandards und Normen einbringen.
Auch in politischer Hinsicht scheint ein Wandel nur durch Annäherung möglich zu sein. Gerade die junge Generation in China ist weltoffen wie nie zuvor. Und bald wird von dieser sicherlich mehr als nur „saubere Luft“ gefordert. Das muss nicht gleich Demokratie sein, aber vielleicht eine Art Datenschutz-Grundverordnung.
Kommentare 2
Guter Beitrag, dem zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen sind.
Politische Aufklärung versus Kapitalfaschismus und Bourgeoissozialismus im 21. Jahrhundert.
● Chinas Hurra-Kapitalismus der westlichen Claqueure
Chinas Blumenschau bedeckt jede Erinnerung. Je höher der Eintrittspreis, desto gewillter ist man, sich bestens zu amüsieren.
Osten: »Die stärkste Hoffnung der Menschheit«? Das eigentliche Problem dürfte auch eines des westlichen Selbstverständnisses sein, das derzeit angesichts der realen Lage weder einen Hurra-Kapitalismus vor sich hertragen noch sich seiner globalen Hegemonie sicher sein kann. –
● Das verleitet manchen, in Beijing (wieder) den Leitstern des Fortschritts zu sehen, die Tageszeitung »Junge Welt« schreibt sogar, Chinas Regierung und die »herrschende Partei sind Garanten der Aufklärung und des Humanismus – und, in einer irre gewordenen Welt, die stärkste Hoffnung der Menschheit«. – Vgl. OXI, 20.10.2017
● China ist auch eines der ungleichsten Länder der Erde.
Die soziale Spaltung hat sich in China gravierend vertieft. »Chinas große Fortschritte bei der Armutsbekämpfung gehen mit dem Entstehen sehr hoher Ungleichheiten einher«, so der Alston-Bericht. Auch wenn Daten über die Verteilung der Einkommen schwer zu beurteilen seien oder fehlten, stehe »China nach wie vor unter den 30 Ländern mit der höchsten Einkommensverteilung«.
● Die reichsten 1 Prozent [14 Mio. Menschen] der Haushalte würden ein Drittel des Gesamtvermögens besitzen, die ärmsten 25 Prozent [350 Mio. Menschen] dagegen nur 1 Prozent [ nur hier, die durchschnittliche Vermögensverteilung: 1 zu 833 ].
● Zum Einsatz der ''Gesichtserkennungstechnologie'' in China
RS: Gegen den gesellschaftspolitischen Missbrauch von Kindern bei der flächendeckenden Durchsetzung der politischen Kontrolle und Überwachung der rebellischen Arbeiterklasse und werktätigen Bevölkerung.
Beijing Rundschau: ''Gesichtserkennungstechnologie hilft beim Wiederauffinden vermisster Kinder''
· 2019-06-05 · Quelle: german.china.org.cn
»Die Polizei in China werde die Gesichtserkennungstechnologie künftig landesweit fördern, um entführte Kinder mit ihren Familien wieder zusammenzuführen, sagte ein hoher Beamter des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit vergangene Woche.« –
Vgl. Beijing Rundschau: http://german.beijingreview.com.cn/China/201906/t20190605_800169944.html
● Das kapitalfaschistische Social-Scoring-Überwachungs-System in China [-Japan-USA-EU-SA]
»Soziale und ökologische Verhaltensanreize oder Überwachungs-Albtraum? Zur Steuerung einer sozial verträglichen Entwicklung experimentieren die chinesischen Behörden mit neuartigen Kredit-Punkte-Systemn, die eine prosoziale Rücksichtnahme und ökologisches Verhalten fördern sollen. Diese Tests, zur Zeit wird mit 40 unterschiedlichen Systemen experimentiert, lösen - vor allem in den westlichen Medien - heftige Diskussionen aus, beruhen die Systeme doch zum Teil auf gleichen oder ähnlichen technischen Grundlagen (Big-Data, Mustererkennung, Künstliche Intelligenz, Datenintegration) wie die polizeilichen und geheimdienstlichen Überwachungstechniken, die hierzulande entwickelt werden. Das Thema ist ein ideologisches Minenfeld, es ist "contested terrain". Was fehlt, sind natürlich solide und unvoreingenommene Informationen aus erster Hand. Madeleine Genzsch, MBA, Marketing- und China-Expertin, hat 15 Jahre in China gelebt, hat dort deutsche Unternehmen beraten, spricht chinesisch und ist wohl eine der besten China-Kennerinnen in Deutschland. Sie versucht in ihren Vorträgen, über China aufzuklären, Vorurteile abzubauen und für Kooperation zu werben.«
● Vgl. Madeleine Genzsch: Das neue Social-Scoring-System in ChinaVeröffentlicht von Weltnetz TV am 23.04.2019. https://www.youtube.com/watch?v=Xd65AlXWKhA
Info.- Empfehlung:
● Die Diskussion um den Klassencharakter der VR China: Ausdruck der weltanschaulichen Krise der kommunistischen Weltbewegung. Von Thanasis Spanidis. Veröffentlicht von Kom.Org. am 4. Dezember 2017. https://kommunistische.org/diskussion/die-diskussion-um-den-klassencharakter-der-vr-china-ausdruck-der-weltanschaulichen-krise-der-kommunistischen-weltbewegung/
11.06.2019, R.S.