Keine Utopie, nirgends...

Digitalisierung Richard David Precht stellt Lesern seines neuen Buchs "Jäger, Hirten, Kritiker" eine "Utopie für die digitale Gesellschaft" in Aussicht. Systemimmanent, versteht sich

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Utopie nicht in Sicht: Richard David Precht
Utopie nicht in Sicht: Richard David Precht

Foto: Jens Komossa (Goldmann Verlag)/Wikimedia (CC BY-SA 3.0 de)

Laut Wikipedia versteht man unter Etikettenschwindel "das Vortäuschen eines spezifischen Inhaltes mit Hilfe einer falschen oder irreführenden Inhaltsangabe auf dem Etikett." Das neue Buch "Jäger, Hirten, Kritiker" von TV-Philosoph Richard David Precht ist eine solche Ware. Wo Utopie draufsteht, ist Talkshow drin.

Gewohnt eloquent flaniert Precht durch das Thema Digitalisierung, und bietet dem ihn begleitenden Leser als reichliche, aber wenig nahrhafte Wegzehrung eine derartige Anhäufung an Allgemeinplätzen, dass einen das ungute Gefühl beschleicht, man würde mit zehn TV-Talkshows beschallt - und zwar zeitgleich.

Kostprobe gefällig? "Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, aus dem Fatalismus des unweigerlichen Werdens aus- und zu einem Optimismus des Wollens und Gestaltens aufzubrechen." Oder: "Nicht die Technik wird über unser Leben entscheiden - was sind schon ein Smartphone oder eine künstliche Intelligenz, die keiner benutzt? - entscheidend ist die Frage nach der Kultur." Aha.

In diesem Duktus geht es weiter. Wir lesen über Politiker, die keine guten Ideen haben. Lassen uns sagen, dass "die Begriffe Bio und Öko ihren Weg aus verlotterten Kommunen in den allgemeinen Vorgarten des deutschen Volksbewusstseins fanden". Dürfen uns darüber amüsieren, dass "Karl Marx und Friedrich Engels...besoffen von ihren Ideen, ihrer noch jungen Freundschaft und reichlich gutem Wein" 1845 in Brüssel kurzerhand den Kommunismus erfanden. Erfahren von Dystopien, in denen "der Palo-Alto-Kapitalismus" die Welt regiert; wissen, dass Retropien kein gangbarer Weg sind. Und landen schließlich bei der Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens, Minimum 1.500 Euro, finanziert durch Mikrosteuern et al. Und an "die" Politik ergeht als ultima ratio der Precht'sche Appell endlich "ihre Selbstverzwergung" zu "überwinden, "die Dinge wieder unter Kontrolle zu kriegen, die man hat schleifen lassen".

Wenn dies die auf dem Titel vollmundig angekündigte "Utopie für eine digitale Gesellschaft" sein soll, muss es den "Digitalkonzernen aus dem Silikon Valley" und anderen Profiteuren des gesellschaftlichen Wandels wahrlich nicht bange werden. "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert", wusste George Bernard Shaw; Precht's Weg in die Utopie mit Allgemeinplätzen, die vor politischer Ahnungslosigkeit nur so strotzen.

Warum schweigen die Lämmer? Unter anderem, weil sie sich von "Hirten" und "Kritikern" wie Precht erzählen lassen, die Freiheit wäre innerhalb des Stalls zu finden: "werch ein illtum." (Ernst Jandl)

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