Für eine Handvoll Rotkohl

Traditionen Die Feiertage sind vorüber, das Fest ist geschafft. Aber warum der Aufwand jedes Jahr, warum das Festhalten an den Erwartungen eines perfekten Heiligabends?
Braten, Baum, Brimborium: ein Heiligabend, wie er im Märchenbuche steht
Braten, Baum, Brimborium: ein Heiligabend, wie er im Märchenbuche steht

Foto: Keystone/Getty Images

Ich habe es wieder mal geschafft. Also, ich habe alles hingekriegt. Das ist das eigentliche Weihnachtswunder, jedes Jahr, dass ich es trotzdem immer wieder hinkriege. Trotz Berufsleben, trotz Privatleben, trotz Grippe. Gegen alle inneren und äußeren Widerstände. Es musste sein, wegen der Kinder.

Am Ende stand da dann doch der geschmückte Baum mit den Geschenken drunter. Die Ente lag im Herd, obendrauf der Rotkohl, die weiße Decke auf dem Esstisch und später alle drumherum, die ganze Familie: Oma, Exmann, Bruder, Schwester, die Kinder und ich. Beim Essen ging es wie jedes Jahr hauptsächlich um den Rotkohl. Ob diesmal der Idealgeschmack getroffen wurde. Nicht zu süß, nicht zu sauer, genug Nelken, genug Fett? Ente, Kartoffeln und die tolle Jamie-Oliver- Sauce waren wie immer nur Beiwerk.

Aber wenn wir den so lieben, warum essen wir den nicht öfter? Na, weil wir doch auch nur einmal im Jahr Weihnachten feiern. Der Idealgeschmack des Rotkohls entspricht dem Idealbild des Weihnachtsabends. Ich weiß wie er sein muss und zwar so: Ich liege mit den Kindern unterm Baum inmitten von Geschenkpapierfetzen und setze die neuen Legosteinchen der Anleitung entsprechend zusammen. Ein einziges Mal in ihrem Legosteinleben werden sie so ihrer Bestimmung gemäß eingesetzt, denn schon bald werden sie für immer in der Schar der anderen Legosteinchen verlorengehen.

Ich bin in diesem komischen Zustand: Halb Glück, halb Koma. Betrunken, gerührt, überfressen, sterbensmüde und euphorisch zugleich. Die anderen sitzen am Tisch, unterhalten sich, trinken und lachen. Alles ist, wie es sein soll, denn alle wissen, wie es sein muss. Warum wissen wir das? Aus der Kindheit. Warum machen wir das? Für die Kinder.
Baum, Geschenke, Champagner, Rotkohl. Jeder hat ein Idealbild von Rotkohlgeschmack und Heiligabend im Kopf und alles wird daran gemessen, wie nahe dem gekommen wird. Auch die kleinen Katastrophen gehören zu diesem Ideal: jemand kommt zu spät, ein Kind weint, jemand hat Grippe, jemand hat Liebeskummer.

Drei Kinder krabbelten unterm Weihnachtsbaum herum. Aber als ich klein war, war ich das einzige Kind. Oma, Opa, Onkel und Mutter müssen das ganze Theater eigentlich nur wegen mir veranstaltet haben, denn weder waren sie Christen, noch sonstwie religiös. Im Gegenteil. Das ist mir dieses Jahr zum ersten Mal klargeworden. Ich freue mich. Die Narzisstin in mir triumphiert. Wenn es mich nicht gegeben hätte, dann hätten sie wahrscheinlich nicht zusammen Weihnachten gefeiert. Dann hätte es keinen Baum, keinen Rotkohl, keine Geschenke gegeben. Kein Idealbild von einem Heiligabend, dass ich jetzt Jahr für Jahr für meine Kinder reproduziere und die dann eines Tages sicherlich für ihre Kinder. So feiern auch wir Nichtchristen Jesu Geburt, denn es ist wie es ist: Ohne Kind kein Weihnachten.

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