Ein Land verliert binnen kurzer Zeit zwei seiner bedeutendsten privaten Zeitungen. Nach der Schließung von Liberté vor drei Monaten scheint auch das Ende des Blattes El Watan kaum mehr abzuwenden. Beide Periodika entstanden dank der durch den Jugendaufstand von 1988 erkämpften Pressefreiheit. Dadurch wurde Algerien 1990 zum ersten arabischen Staat, in dem die Presse vor Erscheinen nicht mehr vom Innenministerium überprüft wurde. Da zugleich gesetzlich gesichert war, dass sich keine ausländischen Konzerne in die Medienunternehmen einkaufen konnten, erlebten die unabhängigen Medien viel Zuspruch, sodass sie sich materiell konsolidierten und zum wichtigsten Organ der Zivilgesellschaft aufstiegen. Umso mehr gerieten die souveränen Redaktionen ins Visier
daktionen ins Visier des islamistischen Terrors.Unter Folter verhörtWährend des 1992 beginnenden Bürgerkrieges wurden über 120 Journalisten ermordet. Parallel dazu kam es erneut zu Spannungen zwischen Staat und Presse, weil investigative Autoren Informationen veröffentlichten, die das Militär als geheim betrachtete. So wurde die Führungscrew von El Watan 1993 verhaftet und unter Folter verhört. Sie kam frei, weil es zu einer enormen Solidarität ansonsten konkurrierender Zeitungen und in der Zivilgesellschaft kam. Nur wenige Journalisten gingen ins Exil, die meisten setzten ihre Arbeit fort, trotz latenter Bedrohung. Dabei nutzte der Staat nicht nur die physische Repression, um Zeitungen zu disziplinieren. Schließlich verfügte er über die Druckereien und das Vertriebssystem, sodass die Zeitungsverlage händeringend nach Auswegen suchten. Nachdem sich ein privates Vertriebssystem nicht bewährt hatte, wurden eigene Strukturen aufgebaut. El Watan konnte sich bald eine eigene Druckerei leisten, die von der auflagenstärksten, unabhängigen arabophonen Zeitung El Khabar ebenfalls genutzt wurde.Wirkmächtig blieb jedoch ein weiteres Instrument des Staates: Er behielt das Monopol über die Verteilung von Werbung seiner Unternehmen, während die Einnahmen durch Anzeigen von Privatfirmen zu gering ausfielen. Hinzu kamen der Algerien erfassende Absatzrückgang für Printmedien und die von Corona ausgelöste ökonomische Krise. Liberté konnte sich zunächst halten, da das Blatt Teil von Cevital wurde, einem der größten kommerziellen Unternehmen des Landes. Issad Rebrab, dessen Inhaber, war ab 2016 der Hauptaktionär von Liberté.Durch die unter dem Druck der Volksbewegung Hirak anberaumten Prozesse gegen korrupte Politiker und Industrielle wurde Rebrab 2020 wegen Steuervergehen verurteilt und saß 18 Monate im Gefängnis, die dem 77-Jährigen gesundheitlich schwer zusetzten. Weil er den Erben nur profitträchtige Betriebe seines Imperiums übergeben wollte, stieg er bei Liberté aus. Womöglich gab er zugleich politischem Druck nach. Keine Bank war anschließend noch bereit, der Zeitung einen Kredit zu geben, der es erlaubt hätte, sie als Genossenschaft weiterzuführen.Gefängnisstrafe für einflussreiche KolumnistenSo war das Schicksal von Liberté ebenso besiegelt wie das von El Watan, deren Redakteure und Verlagsmitarbeiter seit Monaten keine Löhne mehr erhalten und immer wieder streiken. Die international bekannteste und mit Preisen für couragierten Journalismus ausgezeichnete Publikation verdankt ihre Verluste allerdings auch eigenem Missmanagement. So leistet man sich ein hochmodernes Redaktionsgebäude, das nicht bezogen werden kann, weil es mehr Stockwerke hat, als die Baugenehmigung vorsieht.Dass der fast besiegelte Untergang dieser beiden wichtigen Zeitungen dem algerischen Staat zumindest nicht ungelegen kommt, darauf deutet das harte Vorgehen gegen einzelne Journalisten hin. Am 7. Juni verurteilte ein Gericht in Algier mit Ihsane El Kadi einen der bekanntesten Kolumnisten des Landes zu drei Jahren Gefängnis, fünf Jahren Berufsverbot und einer hohen Geldstrafe. Sie traf eine Persönlichkeit mit langer Widerstandsgeschichte. Als Student gehörte El Kadi zu den linken Anhängern der Berber-Bewegung, deren Mitglied Kamal Amzal 1982 als eines der ersten Opfer islamistischen Terrors vor seinen Augen mit einem Schwert erschlagen wurde. Wegen seines „berberistischen Engagements“ verbrachte El Kadi wenig später ein Jahr im Gefängnis. Zuletzt leitete er mit dem 2020 festgenommen Journalisten Khaled Drareni die sehr erfolgreiche TV-Plattform La Petite Radio du Grand Maghreb. Vorgeworfen wurde ihm, Wahlen gestört und Falschinformationen über den Bürgerkrieg (1991 – 2002) verbreitet zu haben. Drareni ist seit einem Jahr wieder frei und moderiert nun das Maghreb-Radio.Der „Große Maghreb“ – bestehend aus Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen – war einst ein Parallelentwurf zur Europäischen Gemeinschaft (EG), eine Vision sich kulturell nahestehender Völker. In den 1980er Jahren gab es durch eine Annäherung zwischen Marokko und Algerien sogar eine Realisierungschance. Sie scheiterte letztlich am unüberwindlichen Konflikt über die Westsahara, die Marokko – entgegen den Beschlüssen der UNO – Schritt für Schritt annektierte, während Algerien deren Unabhängigkeit unterstützte. Donald Trump und indirekt auch die EU machten seit 2020 deutlich, dass sie die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko anerkennen würden. Verhindern wollte man vor allem, dass die mit russischen Waffen ausgerüstete algerische Armee über eine unabhängige Westsahara praktisch zum Atlantik vordringen könnte.2020 hat die Befreiungsfront Polisario den Waffenstillstand beendet und greift seither wieder marokkanische Stellungen an. Die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien sind in dieser Situation derart gespannt, dass die Regierung in Algier sogar eine Pipeline unterbrechen ließ, die Marokko mit algerischem Gas versorgt hat. Auch Spanien wird über jene Trasse nicht mehr bedient. Offenbar geschieht das, weil sich Madrid für eine „Marokkanisierung“ der Westsahara starkmacht.Noch nie gesehenDass sie zu allem entschlossen ist und die direkte Konfrontation nicht scheut, demonstrierte die algerische Armee Anfang Juli, als der 60. Jahrestag der Unabhängigkeit begangen wurde. In der Hauptstadt gab es eine mehrstündige Militärparade, wie sie das Land noch nie gesehen hat. Die russischen Panzer und Raketen hatten einen sandfarbenen Anstrich – ein Hinweis darauf, wo sie eingesetzt werden könnten. Obwohl von der staatskritischen Presse keine Unterstützung Marokkos zu erwarten ist, haben die regierungsamtlichen Repressionen gegen sie auch etwas mit derzeit nicht einzudämmenden regionalen Spannungen zu tun.