Die schweigende Mehrheit

Ratlosigkeit Wie geht Russlands Öffentlichkeit mit dem Mord an Boris Nemzow um? Viele scheinen sich mit den Verhältnissen abgefunden zu haben. Eine Analyse

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Menschen auf der Beerdigung-Zeremonie von Boris Nemzow in Moskau am 3. März
Menschen auf der Beerdigung-Zeremonie von Boris Nemzow in Moskau am 3. März

Foto: DMITRY SEREBRYAKOV/AFP/Getty Images

Mark Galperin ist Politaktivist aus Überzeugung. Im August 2013 war der 46-jährige, der zuletzt als Verkaufsmanager für Telekommunikationstechnologie arbeitete, einer der Mitbegründer der Bürgerrechtsvereinigung „Bewegung für einen Machtwechsel“. Die Teilnahme an dem Trauermarsch für Boris Nemzow war für ihn eine Selbstverständlichkeit: „Es wäre für mich nicht infrage gekommen, nicht zu dem Marsch zu gehen. Es ging um einen Anführer der Protestbewegung, und deswegen was es für mich ein Protestmarsch. Die Menschen haben ihren Widerstand gegen die Praktiken des Kreml zum Ausdruck gebracht. Ich denke, dass das Regime für den Tod Nemzows verantwortlich ist. Wir wollten zeigen, dass wir zusammenhalten und dass man uns nicht brechen kann.“

Wie groß dieser Zusammenhalt tatsächlich ist, scheint zweifelhaft. Zumindest lassen das die Statistiken vermuten: Laut einer Umfrage des Lewada-Institutes für den Monat Februar unterstützen 86% der Befragten Wladimir Putin als Staatsoberhaupt tendenziell oder in vollem Maße. Tiefere Einblicke bietet der Jahresbericht für das Jahr 2014: 59% stimmten der Aussage zu, die Aufrechterhaltung des allgemeinen Wohlstandes hänge in erster Linie vom Staat ab. Ebenfalls 59% gaben an, sie seien wenig bis gar nicht an Politik interessiert. Ein noch größerer Anteil, nämlich 75%, äußerte wenig bis kein Interesse, an politischen Prozessen aktiv teilzunehmen. Glaubt man diesen Zahlen, so sind die sogenannten „Nicht-Einverstandenen“ im heutigen Russland allenfalls eine marginale Randgruppe, von der wiederum auch nur ein Teil bereit ist, sich dezidiert politisch zu äußern.

In gewisser Weise bestätigt dies die Meinung des Politikwissenschaftlers und Publizisten Stanislaw Belkowskij, der den tatsächlichen Wert von Meinungsumfragen mit Skepsis betrachtet. Seiner Ansicht nach sind die Leute bei derartigen Befragungen ausgesprochen konformistisch: Sie sagen eher das, wovon sie glauben, dass der Fragende es hören will. Unter den nun herrschenden Voraussetzungen der „totalen Propaganda“, wie Belkowskij es nennt, habe sich dieser Trend noch einmal verstärkt. Dem ist entgegenzuhalten, dass das heutige Russland keineswegs ein derart monopolisierter Informationsraum ist, wie die Sowjetunion es war. Zweifellos gibt es eine starke Propagandaaktivität, besonders durch die größtenteils gleichgeschalteten Fernsehsender, andererseits ist der Zugang zu alternativen Informationsquellen in Russland bislang relativ offen.

Dennoch haben die Medien in Russland alles andere als einen leichten Stand, und die Belege dafür haben sich gerade in jüngerer Zeit gehäuft: Im März vergangen Jahres erhielt die Nachrichtenplattform „lenta.ru“ eine Abmahnung der Medienaufsichtsbehörde, nachdem auf der Seite ein Interview mit Dmitrij Jarosch, dem Anführer des ukrainischen Rechten Sektors, erschienen war. Kurz darauf wurde die Chefredakteurin Galina Timtschenko nach zehn Jahren im Amt durch Alexander Mamut, den Besitzer von „lenta.ru“, entlassen. Noch am selben Tag reichte ein großer Teil der Belegschaft die Kündigung ein. Einige Monate zuvor, im Januar desselben Jahres, war der Nachrichtensender „Doschd'“ in Schwierigkeiten geraten, nachdem in einer Publikumsbefragung die Aussage zur Diskussion gestellt worden war, ob Leningrad während der Blockade hätte evakuiert werden müssen, um tausende Menschenleben zu retten. Die Folge waren ein Shitstorm aus den sozialen Netzwerken, die zu erwartende aktivierte Empörung aus der Politik und letztendlich die Verbannung des Senders aus den meisten privaten Kabelnetzen.

Das Problem ist vielschichtig: Es besteht nicht nur aus den staatlichen Autoritäten, die Druck ausüben, sondern auch aus einem offensichtlich sehr etablierten Konformismus in Wirtschaft und Gesellschaft, der sich diesem Druck – teilweise in vorauseilendem Gehorsam – fügt. Und alles weitere versinkt in einem Sumpf von Apathie – so zumindest drückte es kürzlich der bekannte TV-Moderator Leonid Parfjonow aus: „Es ist doch so bequem: auf der Couch hocken, zwischen den staatlichen Fernsehkanälen herumschalten, dabei ein Bierchen trinken und sich die Großartigkeit unseres Landes und die Verkommenheit des Westens vorzustellen. So sieht die gebräuchliche russische Gewohnheit aus, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu finden.“

Vielleicht auch vor diesem Hintergrund zeigten sich viele überrascht, dass der Trauermarsch für Boris Nemzow über 50.000 Menschen anzog. Denn so provozierend herablassend die kurz nach dem Mord von Kremlsprecher Dmitrij Peskow getätigte Aussage auch war: Boris Nemzow war in der Tat zuletzt ein nach wie vor prominenter, aber nicht mehr besonders einflussreicher Politiker. Andererseits ist bis zum heutigen Tag die große Anteilnahme in der Stadt spürbar. Bereits am Tag nach dem Mord waren viele Moskauer zur Moskworezkij-Brücke und dort zu dem von der Polizei zwischenzeitlich abgeriegelten Tatort gekommen. Am Nachmittag markierte die Stelle eine Berg von Blumen und Trauerbotschaften. Die Trauer, so war der erste Eindruck, betraf in erster Linie den Menschen Boris Nemzow, der auf so grausame Weise umgebracht worden war, und weniger den Politiker. Dass am Sonntag überhaupt noch Proteststimmung aufkommen könnte, erschien in diesem Moment eher wenig wahrscheinlich.

Diesen Eindruck hat auch Sergej Medwedjew, ein weiterer Teilnehmer des Trauermarsches. Der 31-jährige Politikwissenschaftler lebt zwar seit einigen Jahren in Berlin, engagiert sich aber auch dort politisch über den deutsch-russischen Verein iDecembrists, den er mitgegründet hat. Für die ursprünglich angesetzte Antikorruptions-Demo war er nach Moskau angereist. Seine Schilderungen sprechen von großer Skepsis: „Beeindruckt war ich vor allen Dingen von der traurigen Atmosphäre, die auf dem Marsch herrschte, von der Ratlosigkeit in den meisten Gesichtern. Ich habe zum ersten Mal so viel Angst in den Augen der Menschen gesehen, auch bei denjenigen, die Plakate mit der Aufschrift "Ich habe keine Angst" trugen. Der Trauermarsch zum Tod von Boris Nemzow sah aus wie der Trauermarsch zur russischen Protestbewegung. Ja, es kamen zehntausende Menschen, viel mehr als man erwartet hatte. Aber das war aus meiner Sicht kein Weckruf für die kritische Öffentlichkeit.“

Die Skepsis mag aus der Erinnerung an die große Protestwelle nach den Dumawahlen 2011 herrühren. Damals gingen um die 100.000 Menschen gegen die Anerkennung der Wahlergebnisse und den inszenierten Ämtertausch zwischen Dmitrij Medwedjew und Wladimir Putin auf die Straße. Jedoch konnten die Protestierenden keines ihrer Ziele umsetzen: Weder wurden die Ergebnisse der Dumawahl zurückgenommen, noch konnte die Wiederwahl Putins zum Präsidenten verhindert werden. Die zwischenzeitliche Gefühl, dass die Opposition in Russland tatsächlich etwas bewegen kann, ging verloren. Und in der Duma sind kritische Stimmen so gut wie gar nicht mehr zu hören – eine parlamentarische Opposition gibt es in Russland nicht mehr. Sichtbarer politischer Protest findet nur noch in streng reglementierten Kundgebungen statt, für die sich bestenfalls einige zehntausend Menschen mobilisieren lassen. Für Mark Galperin ist dies ein großes Problem: „Mich ärgert, dass die Opposition so zerstückelt ist und uns als einziges Mittel diese Märsche geblieben sind. Ansonsten gibt es häufiger kleinere Protestaktionen von Bürgerrechtsaktivisten. Die finden dann aber oft isoliert voneinander statt und fließen nicht in eine große gemeinsame Protestbewegung ein. Das frustriert mich.“

Heute scheinen es immer mehr „Nicht-Einverstandene“ vorzuziehen, sich anzupassen oder auszuwandern. So zumindest beschreibt es Maria Fedorenko, 36 Jahre alt und Mitarbeiterin einer Moskauer Werbeagentur: „Meine Prognose für die Zukunft ist, dass in der Folge dieses Mordes die allgemeine Depression nur noch anwachsen wird. Alle werden ein Gefühl der Machtlosigkeit empfinden. Ein Gefühl, das man auf die Dinge keinen Einfluss nehmen kann, dass es sinnlos ist. Ich denke, dass mehr Menschen Russland verlassen werden.“ Zum Trauermarsch sei sie gegangen, um dem Toten ihren Respekt zu erweisen. Boris Nemzow hatte Maria 2009 persönlich kennengelernt. Damals war sie als Journalistin tätig und recherchierte über die Bürgermeisterwahlen in Sotschi, zu denen Nemzow antrat.

Besonders aufgrund dieses persönlichen Bezugs sei sie von dem Mord außerordentlich erschüttert gewesen. Sie selber sei aber nie politisch gewesen, und auch während des Marsches habe sie wenig Proteststimmung gespürt. Überhaupt gibt sie sich in dieser Hinsicht skeptisch: „Boris Nemzow hat selber viel geschrieben, zum Beispiel Artikel über den Kampf gegen die Korruption. Aber das war alles sehr politisch und kaum einer hat es gelesen. Im Grunde verhalten sich die meisten Menschen politisch ziemlich teilnahmslos, und das gilt auch für viele, die an Protestmärschen teilnehmen. Denn zu mehr Engagement sind die Meisten dann doch nicht bereit.“

Das Entsetzen, das viele Russen nach dem Mord an Boris Nemzow war erfasste, war allerdings spürbar, und es stand in deutlichem Kontrast zu den gefühlskalten bis zynischen Kommentaren, die mehrere Vertreter der russischen Regierung zu dem Thema abgaben. Sinnbildlich dafür steht, dass am Tatort auf der Moskworezkij-Brücke eine Mahnwache entstanden ist, die regelmäßig von Freiwilligen gepflegt wird. Welche politischen Schlüsse man daraus ziehen kann, ist aber wieder eine ganz andere Frage. Und auch die dramatischen Ereignisse im Laufe des vergangenen Jahres – der Maidan in Kiew, die Annexion der Krim durch Russland, die anschließend kolportierte Rückkehr Moskaus auf die geopolitische Bühne, die internationalen Sanktionen und Gegensanktionen, die immer stärker werdende Wagenburg-Rhetorik der russischen Regierung – all das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie verstärkende Faktoren waren, welche das politische System aber nicht neu geformt haben. Russland ist verfassungsmäßig eine parlamentarische Demokratie, in der politischen Realität aber ein Einparteienstaat, in dem das Parlament eine eher zeremonielle Rolle erfüllt und von niemanden in Russland wirklich ernst genommen wird. Und jeder hat sich daran gewöhnt, dass es auch im Sprachgebrauch eine „Partei der Macht“, nämlich die Partei „Einiges Russland“ um Wladimir Putin, gibt. Dies ist aber nicht erst seit dem vergangenen Jahr so, und auch nicht seit den umstrittenen Dumawahlen von 2011, sondern seit mindestens zehn Jahren.

86% der Russen scheinen sich mit diesen Verhältnissen abgefunden zu haben. Darunter sind womöglich viele, die den Präsidenten nicht lieben, die nicht lautstark „Die Krim ist unser!“ geschrien und selbst voller Trauer und vielleicht auch Wut am Trauermarsch für den ermordeten Boris Nemzow teilgenommen haben. Aber sie haben sich arrangiert. Und gerade deswegen werden die Wenigen, die das partout nicht tun wollen, ihnen vielleicht umso unangenehmer sein.

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