Unter Querdenkern

Corona-Demonstrationen Seit Wochen gehen besorgte Bürger*innen und Querdenker*innen auf die Straße, die sich ungeniert mit Rechtsradikalen mischen. In München enden diese Demonstrationen regelmäßig in Zusammenstößen mit der Polizei. Als Journalistin vor Ort

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Zwischen Odeonsplatz und Marienplatz: Wer einkauft und wer „demonstrativ spazieren geht“ lässt sich nur erahnen
Zwischen Odeonsplatz und Marienplatz: Wer einkauft und wer „demonstrativ spazieren geht“ lässt sich nur erahnen

Foto: Leonhard Simon / Getty Images

Auf dem Marienplatz läuft Musik. Einige Menschen, alle ohne Maske, tanzen dazu. Eng beieinander und in großen Gruppen bewegen sie sich zur Musik, während andere hinter ihnen vorbeiziehen. Trillerpfeifen schrillen durch die Abendstimmung, Straßenlaternen und Blaulicht erhellen die Nacht. „Es folgt eine Durchsage der Münchner Polizei: Der Infektionsschutz hat höchste Priorität. Beachten Sie die Kontaktbeschränkungen und halten Sie einen Mindestabstand von 1,5 Metern ein“, sagt die Lautsprecherstimme. Pfiffe und Buh-Rufe. In Scharen ziehen Menschen die Kaufingerstraße entlang, andere in Richtung Viktualienmarkt. Über den Platz verteilt stehen Polizeieinheiten, immer zu viert, fünft oder sechst, Rücken an Rücken. Andere stehen in Ketten vor den anliegenden Gebäuden, sperren den Eingang zur U-Bahn-Station Marienplatz, manchmal joggen einige im Gleichschritt an mir vorbei. Und ich stehe mittendrin, und finde das doch alles sehr surreal. Willkommen bei Münchens „Spaziergängen“, die an diesem Mittwoch besonders aggressiv wirken.

München hat eine breite Impfgegner*innen-Szene, die schon seit Wochen mittwochs „spazieren“ geht. Ende Dezember waren die Proteste eskaliert, seitdem sind neben den Spaziergänger*innen auch massenhaft Polizist*innen unterwegs – und Gegendemonstrant*innen. Die Münchner Querdenken-Szene organisiert sich über Telegram, wie viele ähnliche Gruppen in Deutschland – „München steht auf“ heißt ihr Kanal. Dort verbreiten allen voran Melchior Ilbing und das Team der Veranstalter*innen ihre Pläne für die nächsten Aktionen, rufen explizit zu Demonstrationen und implizit zum Regelbruch auf, teilen krude Verschwörungsideen und Aufrufe zur Vernetzung. Dazwischen mischen sich ab und an Mahnungen, nicht provokant aufzutreten, die in den Chats jedoch meist herunterdiskutiert werden. Über die letzten Wochen scheint sich ein relativ stabiles Publikum herauskristallisiert zu haben, das sich in München vernetzt und bewegt.

Gleichzeitig hat sich zwischen den Impfgegner*innen und der Stadt München – vor allem dem Kreisverwaltungsreferat – ein weiteres Spiel etabliert. Die Stadt München hat eine Allgemeinverfügung verhängt, nach der Demonstrationen untersagt sind, die im Zusammenhang mit den „Corona-Spaziergängen“ stehen, wenn die Anzeige- und Mitteilungspflicht nach dem Bayerischen Versammlungsgesetz nicht eingehalten wird. Aufgrund dieser hat das Kreisverwaltungsreferat Münchens nun schon drei Wochen hintereinander die in der Innenstadt angemeldeten Demonstrationen von „München steht auf“ auf die Theresienwiese verlegt – um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Und jede Woche sagten die Veranstalter*innen ihre Versammlung dann ab – und riefen implizit zu unangemeldeten und verbotenen „Spaziergängen“ in der Stadt auf. Ein Spiel.

Eingekesselt und unzufrieden

Polizeiwagen säumen die Straßen, die auf den Marienplatz zulaufen. Unheimlich viele Menschen sind in der Fußgängerzone zwischen Odeonsplatz und Marienplatz unterwegs. Wer einkauft und wer „demonstrativ spazieren geht“ lässt sich nur erahnen – meistens. „Friede“ ruft eine Frau mit blonden Haaren, „Freiheit“ ruft eine andere hinterher. Sie schauen provokant in die Gesichter der ihnen Entgegenkommenden, kaum jemand reagiert. Vor dem Marienplatz staut es sich. Einige junge Frauen beschließen, umzukehren und einen anderen Weg nach Hause zu suchen – was bei den Polizeisperren in den Nebenstraßen gar nicht so einfach ist. Der Marienplatz ist abgesperrt, Polizeiwagen stehen davor, es gibt kein Durchkommen. In schwarzen Uniformen steht das USK Wache, Blaulicht leuchtet, eine Lautsprecherstimme verkündet, dass die Versammlung aufgelöst ist, und die Personalien der Übergebliebenen eingesammelt werden. „Friede, Freiheit, Diktatur“ tönt es aus dem Kessel – die Impfgegner*innen sind nicht weit gekommen. Einschüchternd wirkt die Szene trotzdem auf mich, Schaulustige sammeln sich, doch wer wie zu dieser Demonstration steht, weiß ich nicht. Auch nicht auf dem Heimweg.

Viele Menschen waren am ersten Mittwoch des Jahres 2022 in München auf der Straße. Angestachelt von Nachahmer*innen in ganz Deutschland scheinen sich die Münchner „Spaziergänger*innen“ bestärkt gesehen zu haben. Die Polizeipräsenz war ähnlich massiv – Hubschrauber, USK, Verstärkung. Für die einen lag Abenteuer, für die anderen Unsicherheit, in jedem Fall Feindseligkeit in der Luft. Dadurch, dass es keinen festen Ort und keine definierte Versammlung gab, konnten die „Spaziergänger*innen“ überall sein – und das stiftete latente Nervosität bei vielen. Unterwegs zu sein mit Kamera war also nicht – unter den vielen fotografierenden und filmenden Schaulustigen fiel man als Journalistin allerdings nicht auf.

Zum ersten Mal hat sich an diesem Mittwoch auch eine Gegendemonstration auf dem Odeonsplatz formiert – ein guter Anlaufpunkt. Das Bündnis „München solidarisch“ hatte die Demonstration angemeldet, das Kreisverwaltungsreferat sie genehmigt. Mehrere hundert Menschen waren vor Ort, ein umgebauter Feuerwehrwagen diente als Bühne und Lautsprecher zugleich. Die Grünen Jugend München hatte die Demonstration angemeldet, zahlreiche Initiativen und Einzelpersonen waren gekommen. In den Reden wurde zu Solidarität, zum Impfen und zum konstruktiven Kritisieren der Corona-Maßnahmen aufgerufen. Man könne nicht mit Nazis demonstrieren, so wie es die Querdenker*innen tun würden. Immer wieder wurden die Reden von Vorbeikommenden gestört, Rufe waren zu hören – Gegner*innen, nur durch ein Flatterband rund um die Demonstration getrennt.

Kinder vorschieben und verschwören

„Kinder stehen auf“ hat trotz allem zu einer Demonstration gerufen. Den Auflagen Folge leistend versammeln sich gut hundert Menschen auf der Theresienwiese, viele haben Kerzen oder Lichter dabei, manche Schilder. Ein Junge eröffnet die Versammlung, er will für eine freie Impfentscheidung und gegen die Spaltung demonstrieren. Seine Eltern sind stolz auf ihn, sein Vater spricht, seine Mutter organisiert Ordner*innen. Unterschiedlichste Menschen sind hier, ein älterer Herr spricht davon, letzte Woche im Kassel der Polizei gelandet zu sein und wie unfair er das fand – er habe sich eine Erkältung geholt. Eine mittelalte Frau schimpft auf die Maskenpflicht – „Maulkörbe“ – in der Schule, und endet schließlich bei den krudesten Verschwörungsideologien. Dass es einen geheimen Plan hinter den Impfungen gebe, in denen eigentlich Gift stecke. Dass es bald Lebensmittelknappheit gebe, die vom Staat gewollt sei. Dass Bill Gates vielleicht Konzentrationslager bauen will, in seiner neu erworbenen Hotelkette. Die Menge klatscht. Ich komme mir fehl am Platz vor und entferne mich unauffällig.

Im Telegram-Kanal wird gleichzeitig diskutiert, wie man in Zukunft vorgehen will. Viele sind verschreckt von dem Kessel auf dem Marienplatz; wirklich Kontra bekommen zu haben, das scheint man nicht gewohnt zu sein. Manche wollen aufgeben, andere weiter genehmigt auf der Theresienwiese demonstrieren – wieder andere „jetzt erst recht“ weiter unangemeldet durch die Innenstadt ziehen. Die Zahlen sprechen aber für sich, es sind weit weniger Menschen auf der Straße als letzte Woche. Der Marienplatz und die angrenzenden Straßen sind unter Blaulicht und Polizei beinahe verschwunden, die Strategie scheint aufgegangen zu sein. Die „Spaziergänger*innen“ sind müde.

An diesem Mittwoch allerdings kommt neuer Schwung auf. Der Szene-Anwalt Markus Haintz hat erfolgreich gegen die Allgemeinverfügung der Stadt München geklagt, das scheint viele bestärkt zu haben, ihren Protest wieder aufzunehmen. Dass die Aufhebung der Verfügung erst einmal nur für den Kläger gilt – geschenkt. Dass zu den angemeldeten Versammlungen kaum Menschen kommen – egal. Dass die Allgemeinverfügung ein paar Stunden später wieder in Kraft tritt – zu spät. Doch in der Kaufingerstraße ist an diesem Mittwochabend eine triumphierende, ausgelassene, aggressive und leicht irre Stimmung. In einer riesigen Masse stehen Schwurbler*innen vor dem Marienplatz, die Polizei hat den Zugang abgeriegelt. „Söder muss weg“ wird skandiert, „Kein Impfzwang“. Von Frieden und Freiheit wird geschrien, mehr Inhalte sind beim besten Willen nicht zu erkennen. Die vielen Polizist*innen, die hier auf massenweise wenig berechenbare Impfgegner*innen trifft, beunruhigen. Passant*innen sind genervt, „was für ein Tiergarten“, murmelt einer, schüttelt den Kopf. Man kann nur hoffen, dass dies das letzte Aufbäumen der Masse ist, bevor sich der Protest verläuft – weil wenig Rückmeldung kommt. Was jedoch vom harten Kern der Demonstrant*innen zu erwarten ist, ist diffus – und beunruhigt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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