Diese Kunst des Vertagens

Brexit In seiner Krise greift Europa allzu gern auf den Modus „Extend and Pretend“ zurück, um Probleme in die Zukunft zu verschieben. Die Briten machen da keinen Unterschied
Ausgabe 09/2019
Während im britischen Parlament so getan wird, als würde eine Entscheidung vorangetrieben, leben viele Briten einfach weiter wie gehabt
Während im britischen Parlament so getan wird, als würde eine Entscheidung vorangetrieben, leben viele Briten einfach weiter wie gehabt

Foto: Leon Neal/Getty Images

Wenn die Briten eines noch mit Europa teilen, dann ist es diese Lust am Suhlen in der Agonie. „Extend and Pretend“ hat Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis jenen Modus Operandi stets genannt: Verlege ein Problem immer weiter in die Zukunft und tue, als ob du es aber sicher bald gelöst haben wirst. Die ewigen, hektischen Gipfelnächte zur Euro-Krise und Griechenland zeugen von dieser hohen europäischen Kunstfertigkeit des Vertagens.

In ihr übt sich nun also auch Premierministerin Theresa May in Großbritannien. Denn von den drei Möglichkeiten, die sie in Sachen Brexit dem Parlament offeriert, erscheint Stand heute nur die letzte realistisch, weil mehrheitsfähig. Option eins, ein mit der EU in kürzester Zeit teils neu zu verhandelnder May-Deal, ist so unwahrscheinlich wie Option zwei, eine Mehrheit für den No-Deal-Exit. Also: Extend and Pretend. Am 29. März wären die Briten raus aus der EU, „es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern“ – so Artikel 50 des EU-Vertrags. Ewige, hektische Gipfelnächte ließen sich erst mal vermeiden: Das Unterhaus in London hat bequem bis 21. März Zeit, dann tagt der EU-Rat und kann die Fristverlängerung beschließen, Präsident Donald Tusk hat schon Bereitschaft signalisiert.

Nichts wäre damit gelöst, und wohl eine Antwort auf die Frage nötig, wie denn Großbritannien bis zum Mai noch eine Europawahl auf die Beine stellen kann – an ihr müsste das Königreich womöglich teilnehmen, mag May noch so sehr versichern, eine Verlängerung würde „as short as possible“ ausfallen.

In Griechenland dauert Extend and Pretend auf Kosten der Armen weiter an, obwohl eine Lösung – Schuldenschnitt und Neustart – stets bekannt war. In Großbritannien hat Labour-Chef Jeremy Corbyn längst einen Ausweg aufgezeigt: Zustimmung zu Mays Deal unter Berücksichtigung von fünf Bedingungen, deren zentrale eine Zollunion mit der EU ist, was auch das Irland-Problem löst. Wenn nun jedoch Apologeten eines zweiten Referendums Morgenluft wittern, ist das betrüblich: Der Spalt durch Britannien würde tiefer, ob in oder außerhalb der EU. Auch eine Art von Extend and Pretend.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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