Wenn die Briten eines noch mit Europa teilen, dann ist es diese Lust am Suhlen in der Agonie. „Extend and Pretend“ hat Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis jenen Modus Operandi stets genannt: Verlege ein Problem immer weiter in die Zukunft und tue, als ob du es aber sicher bald gelöst haben wirst. Die ewigen, hektischen Gipfelnächte zur Euro-Krise und Griechenland zeugen von dieser hohen europäischen Kunstfertigkeit des Vertagens.
In ihr übt sich nun also auch Premierministerin Theresa May in Großbritannien. Denn von den drei Möglichkeiten, die sie in Sachen Brexit dem Parlament offeriert, erscheint Stand heute nur die letzte realistisch, weil mehrheitsfähig. Option eins, ein mit der EU in kürzester Zeit teils neu zu verhandelnder May-Deal, ist so unwahrscheinlich wie Option zwei, eine Mehrheit für den No-Deal-Exit. Also: Extend and Pretend. Am 29. März wären die Briten raus aus der EU, „es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern“ – so Artikel 50 des EU-Vertrags. Ewige, hektische Gipfelnächte ließen sich erst mal vermeiden: Das Unterhaus in London hat bequem bis 21. März Zeit, dann tagt der EU-Rat und kann die Fristverlängerung beschließen, Präsident Donald Tusk hat schon Bereitschaft signalisiert.
Nichts wäre damit gelöst, und wohl eine Antwort auf die Frage nötig, wie denn Großbritannien bis zum Mai noch eine Europawahl auf die Beine stellen kann – an ihr müsste das Königreich womöglich teilnehmen, mag May noch so sehr versichern, eine Verlängerung würde „as short as possible“ ausfallen.
In Griechenland dauert Extend and Pretend auf Kosten der Armen weiter an, obwohl eine Lösung – Schuldenschnitt und Neustart – stets bekannt war. In Großbritannien hat Labour-Chef Jeremy Corbyn längst einen Ausweg aufgezeigt: Zustimmung zu Mays Deal unter Berücksichtigung von fünf Bedingungen, deren zentrale eine Zollunion mit der EU ist, was auch das Irland-Problem löst. Wenn nun jedoch Apologeten eines zweiten Referendums Morgenluft wittern, ist das betrüblich: Der Spalt durch Britannien würde tiefer, ob in oder außerhalb der EU. Auch eine Art von Extend and Pretend.
Kommentare 9
Schuldenschnitt? Ich glaube, ich hab mich verlesen. Was sagt denn die Londoner City dazu? Unausdenkbar.
Alles kein Problem. Sogar Corbyn hat schon gemerkt, jetzt schon, kurz vor knapp, dass "Leave" nicht die natürliche linke Position ist - und auch keine gute Option für "die Armen". Eben weil noch vor einem Schuldenschnitt vermutlich Godot um die Ecke kommt. Das ist wahrscheinlicher.
Die EU verlassen, aus linker Sicht, warum? Warum nicht bleiben und alles daran setzen, die EU zu einem f***ing better place zu machen? Außerdem geistert seit Tagen die Idee durch London, die People in einem zweiten Referendum zwischen May's ausgehandeltem Vertrag und "Remain" entscheiden zu lassen. Und diese Idee findet immer mehr FreundInnen. So könnte es kommen.
"Wenn nun jedoch Apologeten eines zweiten Referendums Morgenluft wittern, ist das betrüblich..."
Apologeten. Morgenluft wittern. Wow. Müssen das Verbrecher sein, die u.a. "den Armen", die vor dem ersten Referendum von Farage, Johnsson & Co. verhetzt und belogen wurden, einen Gefallen zu tun glauben. Muss (direkte) Demokratie schlimm sein, wenn nach drei Jahren Diskussion und Streit noch mal die aktuelle Meinung abgefragt werden soll.
Egal. Wenn Putin kein zweites Referendum will, weil so jetzt, im Moment, die Spaltung am geilsten ist, dann halten wir uns halt dran. Wie sie durch ein zweites Referendum noch größer werden könnte, die ca. 50:50 Spaltung, als sie es schon ist, das würde ich aber noch mal gerne in Ruhe erklärt bekommen.
Verbrecher auch, in Sachen Langzeit-Jahrhundertprojekt EU, distanziert besehen, ein bisschen auf die jungen Leute zu schielen beim apologetischen Morgenluft wittern. Auf die Leute, die, wenn sie ihr kostbares Vote nicht so sträflich hätten verfallen lassen, mehrheitlich für "Remain" gestimmt hätten. Auf die Leute, die dann morgen und übermorgen die Hirnfürze der Vorgestrigen ausbaden müssen. Ich hab schon wieder Blutdruck.
Ich schreibe alles voll. Tut mir leid. Aber wie ich es sehe, haben wir, wir alle, überall (im Westen), im Moment genau zwei realistische Optionen. Entweder weiter mit Neoliberalismus as usual; grünlich angehaucht - und wenn wir Glück haben vielleicht noch mal etwas sozialer als zuletzt. Oder die Rechtsabbiegung. Andere, auch nur im Ansatz mehrheitsfähige Optionen liegen nicht auf dem Tisch. Und ich frage mich, jeden Tag mehr, was es eigentlich so viel und so lange zu überlegen gibt. Versteh's nicht. Der tolle Corbyn hat bisher nichts als einen Haufen wolkenkuckucksheimerischen Mist vorgeschlagen. Die Art "Austritt", die der sich vorstellt, hat einen Namen. Sie heißt Europäische Union. Schlicht und ergreifend. Das leuchtet sogar den Schweizern und den Norwegerinnen ein, die zwar nicht drin sind, aber durch tausende von Einzelverträgen drinner als es die Briten je waren. So. Vier Kommentare reichen erst mal.
"Es wird halt so lange abgestimmt, bis es "passend" ist."
Lächerlich und überflüssig, oder? Spätestens alle 4 Jahre einen neuen Bundestag wählen zum Beispiel, wieder und immer wieder, das ist schon schwer undemokratisch. Da stimme ich Ihnen völlig zu. Noch dazu ist das Ergebnis von vor 3 Jahren ja ein wahres Träumchen für die antinationalistische, friedensbewegte Montagslinke. Zwinker zwinker.
Und auch schon damals, als die Deutschen die Schnauze gestrichen voll hatten vom ständigen Gefragtwerden und sich, unmissverständlich unwiderständisch, einen wirklich sehr guten Kanzler auf zugelegt hatten, kam der universalistisch-unipolare Ami und hat ihn uns gewaltsam wieder weggenommen. Nur da, wo Russland für die Entnazifizierung zuständig war, durfte die gewünschte Staatsform fortexistieren.
Verzeihen Sie den kleinen Exkurs. Fühlte ich mich nur irgendwie unangenehm dran erinnert. Nein, Hausmeister war noch nicht wieder hier. Falls ich ihn sehe, richte ich aus, dass er mein monologisches Morgenluftgewitter wegklappen soll, wegen zu viel Meinungsdiversität. Ein Kommentar unter diesem Text, der nicht nach dem Motto "Whatever Putin wants, Putin gets" verfährt, hätte durchaus gereicht. Oder wäre, nahhh, vielleicht sogar schon einer zu viel gewesen. Das gebe ich gerne zu.
"Egal. Wenn Putin kein zweites Referendum will, weil so jetzt, im Moment, die Spaltung am geilsten ist, dann halten wir uns halt dran. Wie sie durch ein zweites Referendum noch größer werden könnte, die ca. 50:50 Spaltung, als sie es schon ist, das würde ich aber noch mal gerne in Ruhe erklärt bekommen."
"Putin" ist ein gutes Stichwort. Die EU wird einer Verschiebung des Austrittsdatums nur zustimmen, wenn London glaubhaft machen kann, dass in der gewonnen Zeit ein besserer Deal zustandekommen kann. Die Verschiebung ist aber nötig, wenn es wirklich noch zu einer zweiten Abstimmung kommen soll.
Ich habe bis heute nicht verstanden, warum Boris Johnson Anfang 2016 aus heiterem Himmerl seinem Ministerpräsidenten und Parteiboss in den Rücken gefallen ist und sich zum Anführer der "Leave" Kampagne aufgeschwungen hat. Und warum er von der Bildfläche verschwand, als die Brexitiers gesiegt hatten, statt kraftvoll die Macht an sich zu reißen und den Brexit zu einer Erfolgsstory zu machen.
In den USA untersuchen das FBI, der Sonderermittler Muller, der Senat und das Repräsentantenhaus immer noch, ob Donald Trump ein "Russian asset" sei. Mir ist nicht bekannt, dass der britische Inlandsgeheimdienst MI5 eine ähnliche Untersuchung gegen Boris Johnson durchführt. Dabei liegt die Frage doch nahe, ob Boris Johnson im Auftrag einer fremden Macht gehandelt haben könnte um Großbritannien und die EU in den Grundfesten zu erschütern.
So eine Untersuchung könnte jetzt immer noch eingeleitet werden. Für die EU könnte das ein ausreichender Grund sein, einer Verschiebung des Scheidungstages zuzustimmen bis das Ergebnis der Untersuchung bekannt ist.
Falls das MI5 etwas findet, drängt sich ein zweites Referendum geradezu auf und wird mit Sicherheit eindeutig zugunsten des Remain Lagers ausgehen. Damit wäre auch der tiefe Riß durch die britische Gesellschaft befriedet.
Falls sich nichts findet, könnte die gewonnene Zeit dazu genutzt werden, einen Brexit zu verhandeln, der für UK und EU das Schlimmste verhindert. Wobei diese zweite Option vermutlich ein frommer Wunsch bleibt, denn wo keine Übereinstimmung ist, kann auch kein Deal gelingen, wie Trump und Kim gerade in Hanoi demonstriert haben.
""Putin" ist ein gutes Stichwort."
Nicht wahr? Aber Spaß schnell beiseite. Vor einiger Zeit hörte ich, am Radio oder am Fernsehen, einen mit Cyberabwehr beschäftigten Menschen sagen, dass die deutsche Öffentlichkeit staunen würde, wer so alles neugierig darauf ist, wie ein Land wie Deutschland wohl mit einem länger anhaltenden, flächendeckenden Stromausfall zurecht kommen würde.
So, wie Boris Johnson sich verhalten hat, könnte es eine Auftragsarbeit gewesen sein. Oder aber auch nicht. Wundern würde mich beides nicht. Ich will aber nicht wild spekulieren.
Ich weiß nur, dass Steve Bannon, Ex-Busenfreund und Hauptermöglicher des friedlichen Herrn Trump und Blutsbruder im Geiste des antifaschistischen Herrn Putin und seiner antikapitalistischen Oligarde, sein Brüsseler Büro tatsächlich eröffnet hat. Gefährlich unterschätzt, der Mann und seine Eingreiftruppe. Nur ist es wohl etwas naiv anzunehmen, der rekrutierte auf die klassische Art, mit Geldköfferchen und Puffgutscheinen. Vielleicht haben rechte Denkfabriken sowas auch noch im Angebot; aber ihre schärfste Waffe ist es nicht.
Deren schärfste Waffe ist das, was macht, dass ein Boris Johnson unverkennbar Überzeugungstäter (geworden) ist; ob nun mit oder ohne expliziten Auftrag. Und das interessiert mich. Wie schaffen sie es, die eben noch schlafenden und/oder stillhaltenden Bevölkerungen eines europäischen Landes nach dem anderen aufzupeitschen, häufig sogar gegen ihre ureigenen Interessen (vgl. "die Armen" in Brexitannien)? Und vor allem: Wie schaffen diese Rechten es, dass sogar die politische Linke den Karren munter mitzieht, bereitwillig bis willfährig, ohne dass sie auch nur die Spur einer Ahnung hat, wessen Arbeit sie letztlich verrichtet.
Es ist zu tragisch. Was passiert,
wenn Köpfe/ Regierungen/ Systeme einfach mal gestürzt werden, aus einer Laune heraus, ohne dass eine gangbare, praktikable und überzeugende Alternative im Hintergrund wartet, z.B. eine gut organisierte, im Zweifel mehrheitsfähige Opposition mit einem Plan oder zumindest einer ungefähren Vorstellung der näheren Zukunft eines Landes;
was dann also passiert, das sollte, wenn es überhaupt jemand wissen kann, dann wohl die politische Linke wissen. Und sie weiß es. Eigentlich weiß sie es. Und trotzdem ist "Remain" offenbar überhaupt keine Option (mehr). Nicht einmal unter den gegebenen, irgendwie geisteskranken Bedingungen der zerschissenen Gesamtsituation. Zack, batsch, weg, raus. Was danach kommt: egal. Kannte man bisher nur von den Putsch-geilen Amis. Alles kaputt schlagen - und dann mal in Ruhe schauen, wie es weiter geht - falls überhaupt. Schuldenschnitt, na klar. Verraten und verkaufen können die Leute sich allerdings sehr gut selber, wie wir sehen. Da brauchen sie keine Linke für.
Noch einmal: Über "Bleiben oder Gehen" stimmt in Demokratien überall auf der Welt der sogenannte Souverän (m/w/d) in regelmäßigen Zeitabständen von irgendwas zwischen 3 und 6 Jahren ab; immer wieder auf's Neue, bis es zu St. Nimmerlein eventuell passt. Dass es nie passt, liegt daran, dass Zeiten, Dinge, Voraussetzungen, Kenntnisse, Meinungen usw. sich fortwährend ändern.
Und dass der Freitag und seine Speziallinke davon nichts hören wollen, liegt am großen Gefallen, der a) am Brexit gefunden wurde, weil b) dem Schutzheiligen Wladimir P. aus M. erbracht werden kann. So waht? Den Westen zerschlagen, ohne eine gangbare, weil praktikable und mehrheitsfähige Alternative in der Hinterhand zu haben, ist doch das, auf das alle hinarbeiten.
Ich natürlich auch. Wenn viele Flüchtlinge nach D kommen, finde ich das super, weil die Putinistische Platform (AfD, RN formerly known as FN, Lega Nord etc. pp) davon prächtig profitiert. Und wenn viele russophobe PolInnen den Wahren Briten die Arbeitsplätze wegnehmen, dann unterstürtze ich selbstverständlich alles, was das Land von dieser Plage zu befreien hilft. Gar keine Frage. Nationalismus ist ja ein genuin linkes Anliegen. Deshalb stehe ich voll hinter der von Le Pen, Johnson und Orbán vorangetriebenen antikapitalistischen, antifashistischen Renationalisierung. Weil sie - im Gegensatz zur militaristischen, undemokratischen und neoliberalen EU - so friedlich und so links ist.
Sie sehen also: ich stehe auf der richtigen Seite der Geschichte. Kein Grund, mich ständig so anzuplärren. Denken Sie an ihren Blutdruck.
"... Ironisierung ..."
Verstehe nicht. Welche Ironisierung? Ich meine das alles ernst. Meine Unwissenheit bitte ich zu entschuldigen. Meine Eltern wussten nichts; deshalb weiß ich auch nix. Die Dümmlichkeit liegt bei uns in der Familie.