Mehr Chuzpe, bitte!

Tarifabschlüsse Die erreichte Lohnsteigerung der IG-Metall von knapp fünf Prozent ist zu wenig. Für einen echten Erfolg hätte man anders in die Verhandlungen einsteigen müssen
Ausgabe 20/2016
Das Resultat der mehrwöchigen Warnstreiks der Metaller ist ernüchternd
Das Resultat der mehrwöchigen Warnstreiks der Metaller ist ernüchternd

Foto: Patrick Stollarz/AFP/Getty Images

Fast fünf Prozent mehr Lohn: Für Deutschland klingt das beinahe nach Revolution. Die IG Metall hat sich mit den Arbeitgebern vor Pfingsten auf ein Plus von 4,8 Prozent geeinigt, sie liegt damit knapp über dem Ergebnis, das die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst von Bund und Gemeinden zuvor erzielt hatten.

Betrachtet man das Resultat der mehrwöchigen Warnstreiks allerdings genauer, verblasst der revolutionäre Glanz schnell: Läppische 150 Euro haben die Metaller für die Zeit zwischen Ende März und Ende Juni 2016 herausgeholt, für die Phase zwischen dem Auslaufen des alten Tarifvertrags und der ersten Entgelterhöhung um 2,8 Prozent am 1. Juli also. Weitere zwei Prozent mehr gibt es von April 2017 an. Der neue Tarifvertrag hat eine Gesamtlaufzeit von 21 Monaten. Das ist sehr lang und entspricht dem Wunsch der Arbeitgeber, ebenso wie Ausnahmeregelungen für wirtschaftlich schwächelnde Betriebe. Legt man die komplizierte Arithmetik an, nach der sich das Jahresergebnis eines Tarifabschlusses berechnet, dann kommen leider nicht viel mehr als zwei Prozent für je zwölf Monate raus. Zum Vergleich: Bei ihrem letzten Abschluss im Jahr 2015 erreichte die IG Metall ein Plus von 3,4 Prozent auf zwölf Monaten.

Es stimmt freilich: 4,8 Prozent mehr bedeuten bei einer so gut wie nicht vorhandenen Inflation eine kräftige Reallohnsteigerung für die Beschäftigten. Doch da die hiesige Inflationsrate gerade erst wieder ins Negative gerutscht ist, auf minus 0,1 Prozent im April 2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat, hätte es ein sehr viel höheres Ergebnis gebraucht. Denn wo Deflation näher ist als Inflation und die Preise trotz Niedrigzinsen und Geldfluten der Europäischen Zentralbank nicht steigen wollen, braucht es dicke Nominallohnzuwächse – sehr viel eher die fünf Prozent für zwölf Monate, mit denen die IG Metall in die Verhandlungen gegangen war.

Um aber fünf Prozent für ein Jahr zu erreichen, muss man anfangs höher pokern. So weit sind die deutschen Gewerkschaften nach anderthalb Jahrzehnten devoter Lohnzurückhaltung, die die Unternehmen ihre Gewinne steigen und an die Finanzmärkte haben tragen lassen, noch nicht. Diese Chuzpe wäre jedoch dringend nötig. Denn deutsche Gewerkschaften tragen nicht nur Verantwortung für ihre hiesigen Mitglieder, sondern für Europa: Sollen Deutschlands Nachbarn wieder auf die Beine kommen, braucht es noch viel mehr deutsche Binnennachfrage, mehr Importe hierher – also viel, viel mehr Geld in den Portemonnaies der Arbeitnehmer.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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