„Zeiten Ende“: Von Harald Welzers neuem Buch sollte man mindestens die erste Hälfte lesen
Rezension Ein Intellektueller macht seinen Job: Doch Harald Welzers „Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr“ ist eine Kritik der Eliten, die einen von deren schlimmsten Fehlern wiederholt
Lustvoll beschimpft Harald Welzer die FDP – und wiederholt dann ihre Propaganda
Foto: Imago/Future Image
Im Nachwort findet sich ein Indiz, warum die Erkenntniseuphorie der ersten Hälfte dieses Buches sich in der zweiten derart verflüchtigt. „Es ist fast unmöglich“, schreibt Harald Welzer dort, „heute noch ein zeitdiagnostisches Buch abzuschließen. Zwischen Fertigstellung des Manuskripts und Korrektur der ersten Druckfahne sind schon wieder so viele Dinge geschehen, dass man ergänzen und revidieren muss.“ Ist, wer mit Blick auf die Gegenwart ständig ergänzen und revidieren muss, schon so weit zu erklären, „was aus welchen Gründen falsch läuft, wie gefährlich das für die Demokratie ist und wie man gegensteuern könnte?“
Der Soziologe, Sozialpsychologe und einst erklärte Optimist Welzer, 65,
lzer, 65, hatte im vergangenen Jahr nicht nur mit Richard David Precht Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist veröffentlicht, sondern zeitgleich mit Dana Gieseke, seiner Mitstreiterin bei der Zukunfts-Stiftung Futur zwei, ein „Anti-Frust-Buch“: Zu spät für Pessimismus.An der Schwelle zum Lager der RealistenPessimist ist Welzer immer noch keiner, aber eine gewisse Frustration deutet sein neuer Titel an: Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. Vielleicht lässt sich auch sagen: Willkommen an der Schwelle zum Lager der Realisten.Außenpolitisch hätte Welzer die schon längst mit beiden Beinen überschritten, wäre da nicht die spürbar noch existente Hoffnung, es könne doch so etwas wie eine wertegeleitete Außenpolitik geben, hielte sich der Westen nur selbst an das Völkerrecht. Doch weil der Westen nun auf den Aggressor mit dessen Mitteln antwortet, mitten in eine nie da gewesene Veränderung von Klimasystem und Biosphäre hinein selbst massiv mit Vernichtungs- und Verwüstungswaffen aufrüstet und ein „zwischenstaatliches Gewaltmonopol, unter dessen Regime es den einzelnen Staaten nicht mehr erlaubt ist, Gewalt anzuwenden“, mit der Realität nichts zu tun hat, muss Welzer sich erst einmal mit Letzterer auseinandersetzen.Grüne Rheinmetall-AktienDas tut er, nicht ohne einem der Lage angemessenen, wohldosierten Sarkasmus, wenn er etwa vermutet, „unter den zu Kriegsfans gewendeten Grünen-Anhängern“ gelte der Kauf von Rheinmetall-Aktien „heute wahrscheinlich als heldische Tat“. Vor allem aber weitet er den Blick auf den Ukraine-Krieg wie den neuen Imperialismus und hält sich nicht mit angeblichen Psychopathologien und Großmachtfantasien Wladimir Putins auf. Dieser handle ja womöglich selbst gar nicht im Bewusstsein, dass Landnahme eine Alternative „zu den in der Klimapolitik bisher vorherrschenden Konzepten Vermeidung und Anpassung“ oder gar „das geopolitische Gebot des 21. Jahrhunderts ist“ und „als politische Option wahrscheinlicher wird, wenn das nutzbare Land schwindet“. Über die Folgen des Klimawandels als Ursache eines von Russland und China – dessen Angriff auf Taiwan hält er für gesetzt – praktizierten neuen Imperialismus hätte man gern viel mehr gelesen, gerade von einem, der schon vor anderthalb Jahrzehnten das Buch Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird geschrieben hat.Das lässt sich schnell als „Populismus“ abtunDoch stattdessen hat Welzer auf den hinteren Seiten erstaunlich viele politische Ränke zwischen SPD, Grünen und FDP – um Heizungsgesetz & Co. – ergänzt. Fast scheint es, als sei er der kleinteiligen Inszenierung solcher Koalitionsstreitigkeiten, die er zu Recht den in ihr „politisches Berlin“ verliebten Medien vorwirft, aufgesessen.Angesprochene Vertreter der Branche wie Süddeutsche-Autor Nils Minkmar oder FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube können für das nächste Kapitel in der Debatte zu Welzers (und Prechts) Kritik das Buch gleich in der Mitte aufschlagen und nur 25 Seiten lesen. Sie werden dort wiederum für das übernächste Kapitel und die Beibehaltung ihrer Kritik-Resistenz Stoff finden.Täten sie das wirklich, wäre Welzer wohl nicht überrascht, hält er es doch für einen Kardinalfehler der Eliten dieser Zeit, inmitten einer komplexen Lage nur einen Aspekt zu isolieren, sich auf diesen zu versteifen, deshalb blind für den Gesamtzusammenhang zu bleiben und dann „überrascht“ zu sein, wenn ein Krieg, eine Pandemie, eine Flut losbricht.Die Elite und die MehrheitWelzer nähert sich dem Gesamtzusammenhang, wenn er nicht mehr nur Medien eine Homogenität hinsichtlich gehobener sozialer Milieus, aus denen sie ihr Spitzenpersonal rekrutieren, attestiert. Ebenso wie viele Journalisten agierten die meisten Parteifunktionäre, der nahezu vollständig akademisch besetzte Bundestag wie die Wirtschaftsdynastien dieser Republik ohne Kenntnis von der Lebensrealität und den Empfindungen einer Bevölkerungsmehrheit, die nachts stundenlang der Elite die Toiletten putzt, während diese in ihren Marathonsitzungen den Anschein erweckt, über wirkliche Lösungen von Problemen zu entscheiden. Lösungen, deren konkrete Folgen Mächtige und Reiche selbst nicht zu spüren bekommen wie jene Mehrheit, die sich folglich von den Eliten abwendet.Das lässt sich schnell als „Populismus“ abtun, doch der 1958 in eine arme Arbeiterfamilie geborene Welzer listet Zahl um Zahl zu den sozial abgeschotteten und abgefederten Schaltstellen der Republik, zum gestiegenen Misstrauen in staatliche Akteure und zur rückläufigen Einbindung der Menschen in die Institutionen auf, in Parteien, Gewerkschaften, Vereine oder Kirchen. Er hat recht, wenn er über den jetzt so häufig zu hörenden Eindruck, der Staat funktioniere nicht mehr, schreibt: „Es ist ein gefährliches Versäumnis, diese Empfindungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und dem Rechtspopulismus zur Instrumentalisierung anzubieten.“Lindners Staatsschulden-PropagandaDoch hilft gegen eine kaputtgesparte Bahn, Schwimmbäder mit Personalmangel, abgewrackte Schulen ohne Lehrerinnen und die allgegenwärtige Kita-Krise ein „Leitbild“, dessen Fehlen Welzer gefühlt auf jeder fünften Seite bedauert? Vielleicht auch, doch der Autor begibt sich mittels seiner lustvollen Beschimpfung der FDP und ihrer Minister eigentlich auf eine vielversprechendere Spur. Wenn er dann aber auf die heute junge Generation zu sprechen kommt, zählt er zu den sie peinigenden Folgen der gegenwärtigen Politik, dass sie „es sein wird, die ,Sondervermögen‘ dereinst abzutragen haben wird, zusätzlich zu den Staatsschulden“.Glatter kann man die Staatsschulden-Propaganda des amtierenden Finanzministers Christian Lindner von der FDP und der Mainstream-Ökonomie, die bei Welzer eben noch wie Degrowth-Träumer ihr Fett wegbekommen hatte, kaum kopieren. Die heute Jungen wird dereinst kein Rückzahlen von Staatsschulden peinigen. Sondern ganz im Gegenteil die Weigerung, Kredite für die Gestaltung der Zukunft aufzunehmen, mit deren Renditen sich alte Ausstände locker ablösen ließen. Mit dieser Erkenntnis lässt sich leichter Optimist bleiben! Und mit ihr hätte Welzer seine geopolitische Analyse sogar noch stärker machen können – wirkt Europas treudoofer Transatlantismus aktuell doch umso skurriler, als dass die USA ihm mit einer fulminanten Investitionsoffensive gerade die Industrie abziehen.Ostdeutschland beschweigenWie sonst als mit einem investierenden Staat soll sich denn der alles überwölbende Gesamtzusammenhang bewältigen lassen – „die tiefgreifende Modifikation der Überlebensbedingungen für die menschliche Lebensform“, der Veränderungen in Biosphäre und Klimasystem? Die Transformation hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Kulturtechnik des Weniger nach der Ideologie des grenzenlosen Wachstums kostet erst mal mehr. Bevor Welzers verlockende „Orte des Zusammenhalts“ in „leere Kaufhäuser“ einziehen können, müsste wohl erst einmal der Multimilliardär gestoppt werden, der sich diese leeren Kaufhäuser gerade mit staatlichen Geldern als private Spekulationsobjekte unter den Nagel reißt. Gemeinschaftsbildung geht über Vergemeinschaftung, die „Initiative Hermannplatz“ in Berlin etwa erzählt Harald Welzer sicher gern mehr über René Benko.Transformationsexpertise aus der Praxis ließe sich zudem in Ostdeutschland finden – zu dem sich der Westdeutsche Welzer kaum etwas zu sagen traut. Erst mal wohl besser so, klingt er in den wenigen Passagen doch ähnlich paternalistisch wie die bundesdeutsche Elite, die er dafür kritisiert.