Der Verband der deutschen Filmkritik (VdFk) hat „Wintermärchen“ von Jan Bonny als besten Spielfilm des vergangenen Jahres ausgezeichnet. Das ist mehr als verdient. Dieser Film ist nämlich ein ungebändigter Glücksfall für das ansonsten so brave deutsche Kino.
Diese düstere Geschichte einer rechtsextremen Untergrundzelle, die sich immer mehr radikalisiert, bis sie schließlich kollabiert, ist notwendiges, ja extremes Kino: körperlich, roh und direkt. Die Kamera ist nah dran. Die Bilder dunkel und schmutzig. Das Spiel der Hauptdarsteller – Ricarda Seyfried, Thomas Schubert und Jean-Luc Bubert – ekstatisch. Es ist schlichtweg unmöglich, keine Position gegenüber dem Geschehen auf der Leinwand einzunehmen. Das Morden, die stumpfe Gewalt und die triste Einsamkeit hämmern gegen den Sehnerv. Durch seine Unmittelbarkeit und seine kompromisslose Entsagung didaktischer Umgänglichkeit zwingt einen der Film in die Reflexion: den „Monstern“ so nah und doch so fern.
Gerade die Fernsehfilme des in Düsseldorf geborenen Regisseurs – u. a. das Psychologen-Drama „Über Barbarossaplatz“, das ZDF-Rachedrama „Wir wären andere Menschen“ und eben „Ich habe im Traum geweinet“ – sind im Kontext des üblichen Fernsehgeplänkels harter Tobak: gebeutelte und beschädigte Figuren schleppen, saufen und vögeln sich durch ihre schmerzenden Existenzen. Der Blick ist schonungslos und doch niemals ohne Empathie. Keine Figur wird verraten, egal wie böse, verdorben oder jämmerlich sie auch sein mag. Es ist das Weitermachen im Scheitern, das Jan Bonny mit der Kamera ebenso erspüren und menschlich machen will, wie die Banalität des Bösen. So ist der Mensch eben: ein trauriges, aber auch bösartiges Tier.
Körper und Fleisch
„Wintermärchen“ beispielsweise erzählt wenig von Naziparolen und rechter Ideologie. Beides kommt vor, wird aber eher beiläufig behandelt. Vielmehr stellt der Film die Frage, was wir uns darunter vorstellen müssen, wenn Menschen in den Untergrund gehen. Was ist das für ein Leben im Untergrund? Normale soziale Kontakte sind nahezu unmöglich. Es gilt, den Kopf unten zu halten. In kargen Wohnungen wartet die Täter auf den nächsten Kick, damit sie sich lebendig fühlen können. Sex und Alkohol sind die einzigen Mittel, mit denen die Zeit bis zum nächsten Mord überbrückt werden kann. Die Art und Weise, wie in „Wintermärchen“ die Körper kopulieren erzählt mehr über das Innenleben und die Dynamiken der Figuren, als jeder Dialog.
Nie geht es Bonny darum, die Innerlichkeit der Figuren nach Außen zu stülpen. Das Außen ist Innerstes. Er lässt die Körper aufeinanderprallen. Erst wenn diese hart genug kollidieren, scheinen Funken von Wahrheit auf, bricht die opake Hülle der Haut für Momente auf und legt das Fleisch offen. Um dorthin zu gelangen, benutzt der Filmemacher den tristen Alltag aus Wiederholungen und Gewohnheit wie ein Werkzeug – der Exzess wird zum ästhetischen Mittel, die Banalität der Exzesse zu existentiellen Sprengstoff.
So erinnert der Umgang mit Körpern und Sexualität in diesen Filmen an die Bilder des Malers Francis Bacon oder daran, wie der Philosoph Gilles Deleuze in „Logik der Sensation“ über die Ästhetik des Malers geschrieben hat: „Im nackten Fleisch, so könnte man sagen, rutscht der Leib von den Knochen herab, während die Knochen aus dem Leib herausragen.“ Man muss dies metaphorisch verstehen, sicherlich. Doch gerade beim Sex, bei der „Akrobatik des Fleisches“, wie man mit Deleuze sagen könnte, sind die Figuren bei Jan Bonny nacktes Fleisch. In diesen Momenten drohen sie den Halt zu verlieren, werden verletzlich oder greifen über: Die Ekstase ist ambivalent.
Der Exzess als Stil
In jedem seiner Filme wird hemmungslos gesoffen und hart gevögelt. Der Alkohol ist für Jan Bonny ebenso sehr soziales Schmiermittel, wie katatonischer Taumel in den Abgrund. Sex ist keine leidenschaftliche Lust. Er ist eine andere Art der Kommunikation. Es gibt Stimmen, die sich an diesen Wiederholungen stören: die rohen, nackten Körper und das Hineinschütten von Bier und Schnaps in gierige Münder. Doch so ist es eben, das Leben in diesem Deutschland. Das Sportheim in „Wir wären andere Menschen“ ist deutsche Realität. Dort kommen die Menschen zusammen und fallen danach gemeinsam in die Betten oder übereinander her – ganz ohne Grazie. Die Würde, der stille Moment passiert dazwischen. Dieses Dazwischen zu inszenieren, darin ist Jan Bonny ein Meister. Erst durch die grellen Momenten wird das Unscheinbare erkennbar.
So wie Alkoholexzess und Sex zu erzählerischen Mitteln werden, wird auch der Dialog in den Filmen von Jan Bonny zu einer Ausdrucksgeste. Das Nuscheln und Flüstern, das unverständliche Brüllen in seinen Filmen, verlagert den Schwerpunkt von der verständlichen Kommunikation hin zu einer Performanz: Die Art und Weise, wie das Wort ausgespuckt wird (spitz, rau, heiser), wie der Körper sich bei den Worten aufbäumt und im Schreien sich windet – all das ist wichtiger, als die dramaturgische Taktung der Dialoge nach Bedeutungseinheiten. Damit befreit Bonny den Dialog von pragmatischen Zwängen, macht aus ihm ein Stilmittel, ein Soundmittel, einen Ausdruck. Denn wer sagt überhaupt, dass das gesprochene Wort sich dem Diktum der Verständlichkeit unterordnen muss?
In „Ich habe im Traum geweinet“ spielt Bibiana Beglau eine Frau, die sich das ganze Gesicht hat operieren lassen. Das Gesicht vollkommen einbandagiert liegt sie im Krankenbett. Man denkt unweigerlich an „The Face of Another“ von Hiroshi Teshigahara oder „Ich seh Ich seh“ von Veronika Franz und Severin Fiala. Ein Unbehagen stellt sich ein. Als ihr dann die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht wird, stößt diese Frau einen tierischen Laut des Schmerzes aus. Ohne Gesicht, reduziert auf die reine Körperlichkeit, erhält diese Äußerung ihren nackten Sinn des Ausdrucks. Es bedarf keiner verständlichen Worte. Der vernehmbare Laut ist in seiner Unverständlichkeit ausreichend.
Diese Radikalität macht die Filme von Jan Bonny so besonders. Er hat seinen ganz eigenen, unverkennbaren Stil. Ähnlich wie Dominik Graf, wagt er Dinge, geht er aufs Ganze und riskiert das Scheitern. Auch wenn sich einige Zuschauer_Innen von diesen Filmen provoziert fühlen, das Ziel liegt Jenseits der Provokation. Die zentrale ästhetische Kategorie dieses filmischen Schaffens ist Intensität. Man spürt, dass hier ein Filmkünstler am Werk ist, der bis zum unangenehmen Grund seiner Geschichten vordringen will. Genau diese Form von Film und Kino brauchen wir. Genau das macht aus einem Film Kunst. Daher ist es auch so großartig, dass der Preis der deutschen Filmkritik an Jan Bonnys „Wintermärchen“ geht.
Kommentare 5
Nach Kenntnisnahme nur dieses einen Tatorts „Ich habe im Traum geweinet“ kann ich diesen Beitrag voll bestätigen. Es ist echte Filmkunst, denn das Gezeigte wird nicht aus einem sinnhaft Gesprochenen entwickelt oder schlimmer noch, illustriert es, sondern es ist eher umgekehrt, der Sinn muß aus Bildern und einer Tonspur erschlossen werden, auch das Reden, Flüstern und Schreien ist Handlung, wie absolut richtig bemerkt.
Ich möchte noch kurz auf die musikalische Tonspur eingehen. Bonny erzählt Wintermärchen. Im Tatort ist es das Schubert am nächsten kommende titelgebende Lied vom Schumann, das den Höhepunkt seines bedeutendsten Liederzyklus darstellt, wie der „Leiermann“ ein Lied am Rande des Nichts, wo kaum noch die harmonische Begleitung halt gibt. Das ist der reflexive Kontrapunkt zu einem hinter Lärm und Gewalt eines weitgehend sinnfreien Handelns aufscheinenden Nichts. Im Unterschied zu Schubert schließt Schumann allerdings den Zyklus damit ab, daß er alles (Hoffen und) Leiden, das Nichts, die (Ver)Nichtung in ein Grab einschließt und sanft mit Musik bedeckt. Ob man das Ende des Tatorts so tröstlich deuten kann?
Filmisch sehe ich eine Parallele zu Fritschs Elf Onkel. Ja, der Mensch „ist ein trauriges, aber auch bösartiges Tier“, er ist jedoch auch ein anmutiges und liebenswürdiges, das sollte von der Filmkunst ebenfalls nicht verschwiegen werden, da gibt es auch schöne Beispiele. „Doch so ist es eben, das Leben in diesem Deutschland“ ist natürlich ein wenig einseitig formuliert, der Film ist nicht realistisch, sondern hyperrealistisch, es ist eine Facette eines Blicks hinter die Konventionen, unter die dünne Schicht einer zivilisatorischen Tünche. Ja, solche radikalen Filme brauchen wir.
Ich habe mich über den Tatort geärgert, weil ich es nicht gut finde, so ein konventionelles Format zu "entern" und dann mit einem Kunstanspruch zu überschwemmen, der das Publikum irritiert.
Besser ist es dann wirklich, einen Film zu machen, der diesen Anspruch ankündigt und dann wissen die Leute, was sie zu erwarten haben und können sich dem entziehen oder drauf einlassen.
Nein, man sollte 1. nicht das Publikum unterschätzen, 2. es in der Regel fordern, möglichst nicht überfordern, und 3. gelegentlich auch provozieren. Die recht spezifische deutsche TV-Krimikultur (nicht nur Tatort, auch Polizeiruf, Nachtschicht, Wilsberg, der rasante KDD) ist ein positives Schwergewicht im ÖRR. Der Bruch mit Konventionen begann mit Schimanski und war ein großer Erfolg, es kamen die Münsteraner Krimis, die das Absurde streiften und nicht minder erfolgreich waren, es kam ein Münchner Kommissar, der halluziniert, ein anderer, der aufgrund einer Panikattacke nicht das Polizeiauto verlassen kann, um seiner Kollegin zu helfen, es kam ein Dortmunder Soziopath, besonders sei hervorgehoben der beste Murot-Tatort „Im Schmerz geboren“. Und es kamen die Krimis des Regisseurs Graf. Alle diese ungewöhnlichen und anspruchsvollen Krimis haben nicht das Publikum abgeschreckt, sie haben dazu beigetragen, daß das Erwachsenenfernsehen nicht vollends zu Kindergartenfernsehen degeneriert ist.
Die Leute wissen zu lassen, was genau sie erwartet, ist schon sich einlassen auf die marktförmige Kulturindustrie, sie an der Herstellung des Endprodukts zu beteiligen, sie, wie es in Amerika immer üblicher wird, über den Ausgang in vorgestanzten Varianten entscheiden zu lassen, ist der Gipfel der Infantilisierung. Kunst ohne Stachel und Risiko ist das Ende der Kunst. Unterhaltung ohne Kunst, als Fertigware zum hastigen Verzehr ist mehr Gift als Nahrung. Wohl bekomm‘s.
Aber Herr Endemann, Sie müssen sich nicht so ins Zeug legen. Dass gute Krimis auch experimentell sein dürfen, ist mir nicht unbekannt. Aber, es ist genau so verderblich, die Zuschauer mit dem eigenen Kunstanspruch hochnäsig und arrogant zu überrennen, wie es in diesem Bonny Krimi war. Das ist genau so eine Missachtung wie es andererseits auch eine Überforderung gibt. Ja, natürlich, Sie verstehen das alles prima.
Wenn mich was an Kindergarten erinnert, dann hin und wieder Ihre - soll ich schreiben? - neunmalklugen Bemerkungen. Der Bildungsbürger als Avantgardist ist ein Elend. Ehrlich. Ihnen wäre ein bisschen mehr Bescheidenheit wirklich zu wünschen.
Nebenher Dominik Graf hat sich mit seinem elitären Kunstmist auch öfter vertan, Meister aller Kunstunsinnigkeiten.
Hier eine Empfehlung:
https://www.zeit.de/kultur/film/2020-02/tatort-schwarzwald-ich-hab-im-traum-geweinet-kriminalfilm
Sehen Sie, das ist ein guter Beitrag über den Bonny Tatort.
Von Matthias Dell, der seinen Kram kann, aber leider nicht mehr hier.
Der schreibt im Vorspann:
"Karnevalstreiben im Schwarzwald: Jan Bonnys "Tatort" verplempert viel Zeit mit redundanten Geilheitsfantasien und zeigt ein fragwürdiges Frauen- und Männerbild."
So siehts aus. Man muss nicht in die Knie gehen nur weil hohe Kunst verkündet wird.
Ich liebe es, nackt fotografiert zu werden! Sehen Sie sich das an - https://url4.uk/6hBNY
Kein falsches Mitleid, ich lege mich nicht, brauche mich nicht ins Zeug legen. Die Kritik an Ihrem – darf man hier sagen: Vulgärfeminismus fließt mir ganz zwanglos aus der Feder. Sie behaupten schlicht, daß Bonny einen hochnäsigen und arroganten Kunstanspruch stellt. Daß Sie es mit der Bescheidenheit der schwäbischen Hausfrau halten, ist bekannt. Daß Sie Graf elitären Kunstmist vorwerfen, wundert mich nicht. Es wäre natürlich schön, wenn Sie selbst mal ein Argument vorbrächten, aber gut, sage ich noch was zum überforderten Dell.
Der hat den Magdaschen Feminismus verstanden. Und die Notwendigkeit, einen Krimi auf schwäbischem Niveau zu halten, gerade wenn er in solchem Milieu spielt. Wo kämen wir hin, wenn solch unkorrekten Frauen- und Männerbilder gezeigt werden dürfen. Daß ein Krimi sein eigenes Milieu schafft (fantasiert), kommt Dell nicht in den Sinn, wo bleibt denn da der Realismus, oh verdammt, das ist ja Kunscht. Man möge doch bedenken, daß die 5. Jahreszeit nur Mummenschanz ist und kriminalistisch nur insoweit interessant, als die Bösen sich verkleiden und der Gerechtigkeit entziehen können. Daß man sich einmal auf die Enthemmung als in der geregelten Welt unterdrückten Ausnahmezustand einlassen kann, kommt da nicht in die Tüte. Nicht einmal im Karneval darf die biedere Ordnung verlassen werden. „Auf den ersten“ Dellschen „Blick ist die Fasnet diesmal also nur Kulisse und damit Erklärung für den Exzess.“ „Krimi zu nennen, was in diesem Tatort der Fall ist, kommt einem fast ein wenig abwegig vor.“ Hier verrät sich die Dellsche Spießigkeit. Alle die von mir hervorgehobenen Krimis empfehlen sich dadurch, daß die Krimikonventionen nicht überdeterminierend sind. Die Konzentration, wenn nicht gar Beschränkung aufs „who dunnit“ ist ein infantiles Regressionsbedürfnis einer einfachen, millionenfach wiederholten Bestätigung der einfachen Welt von gut und böse. Ich gebe ja zu, daß in der Regel der Krimi mit der Wiederherstellung der Gerechtigkeit oder wenigstens mit einer besänftigenden Bestätigung des ethischen Weltbildes enden sollte. Aber das Geschehen dazwischen schon wesentlich auf dieses Ende auszurichten, heißt, sich an der Verdummungsindustrie zu beteiligen. Es wäre gerechtfertigt, wenn es alle paar Wochen einen Krimi gäbe, aber nicht, wenn die Krimis tagtäglich geschätzte 50% des Programms ausmachen. Hier weiter auf die Dummheiten in Dells Argumentation einzugehen spare ich mir, ich habe ohnehin keine Hoffnung, irgend jemanden, dem ein sauberes Fernsehen wichtig ist, mit einem kleinen Kommentar vom Falschen dieses Bedürfnisses überzeugen zu können.