Alles sagen

Literatur In „Liebe, Körper, Wut & Nazis“ bleiben vier Freund*innen bewusst subjektiv
Ausgabe 42/2020

Einander einmal gepflegt alles sagen, was sonst unausgesprochen bleibt, so was passiert üblicherweise nach ein paar Bier zu viel in vollgequalmten Bars oder bei sehr missglückten Familienfesten. In Liebe, Körper, Wut & Nazis, das man zunächst für in Briefromanform gegossenen Egozentrismus vierer Mittdreißiger aus der Hauptstadt halten könnte, geht es geordneter zu. Um die im Titel angekündigten Schlagworte geht es nur zweitrangig. Vielmehr ist das Buch ein Fragezeichen an zwischenmenschliche Kommunikation. Die Journalist*innen und Popkulturschaffenden Jennifer Beck, Fabian Ebeling, Mads Pankow und Steffen Greiner antworten einander ein Jahr lang schriftlich. Immer eine*r bekommt eine Frage gestellt, die man grob den Schlagworten zuordnen kann. Der/die Gefragte hat eine Woche Zeit, um zu antworten und die nächste Frage zu stellen. Regeln gibt es dafür auch, gleich die erste lautet „Wir gehen davon aus, dass wir Freund*innen sind.“

Freundschaft? Diese wird auch thematisiert: „Ich weiß nicht, ob ihr wirklich meine Freund*innen seid“, stellt Mads Pankow fest und muss zugeben, dass er keinen der anderen einfach so anrufen würde. Steffen Greiner stellt in seiner Antwort auf die Frage „Für welche Liebe hast du dich entschieden?“ dann direkt das gesamte Konzept „Freundschaft“ infrage, spricht eher von Temperaturen der Liebe. Was die vier miteinander teilen, scheint eine Art von freundschaftlicher Komfortzone: Man kennt sich seit dem Studium, gründete 2013 gemeinsam Die Epilog, ein Magazin für Gegenwartskultur. Man arbeitet zusammen, verbringt Zeit miteinander. Es reicht, um einander bei diesem Selbstversuch so richtig schön auf die Pelle zu rücken, die heiklen Fragen sind ja bekannt, das Risiko also überschaubar.

Gefragt wird also, was man sonst im wahren Leben tunlichst vermeidet, aus Angst, übergriffig zu wirken, einen Streit zu provozieren in dieser bis ins engste Umfeld polarisierten Welt. Gefragt wird nach Auto-Aggressionen, den Nazi-Großeltern, Machthunger. Mit derselben Schonungslosigkeit erfolgen die Antworten: Milchreis kann ein Pfad sein, über den man zum eigenen Selbsthass kommt, zumindest bei Jennifer Beck. Fabian Ebeling spricht über kindliche Rache und geworfene Steine. Es wird von Einsamkeit, Gewalt, Provinz erzählt – oder darüber sinniert, inwiefern Uncoolness in der Adoleszenz ganzheitliches Scheitern als Erwachsener nach sich zieht und ob das Berghain als Ersatz für fehlende Mutterliebe herhalten kann. Greiner und Pankow bemühen sich mitunter schmerzhaft erfolglos, das Privileg ihrer weißen Männlichkeit und der damit einhergehenden Machtdynamiken zu (v)erklären. Diese Selbstsezierungen sind spannend, tragen jedoch nicht sehr weit. „White guilt“ etwa wird detailliert besprochen, die Erkenntnisse bleiben jedoch konsequenzlos – oder sind sie in ihren vielen Facetten vielleicht so erst recht greifbar?

Fragen kostet eben doch

Relevanz hat Liebe, Körper, Wut & Nazis aber dennoch. Auf 200 Seiten wird konsequent mit Subjektivität kokettiert, und genau das stellt unweigerlich den*die Lesende*n ins Spotlight: Wann war das letzte Mal, dass man selbst ehrlich mit seinen Freund*innen gesprochen hat? Reden wir überhaupt wirklich miteinander, in Zeiten, in denen sich Kommunikation auf Whatsapp verflüchtigt? Was ist wirklich los mit unseren Freund*innen, Partner*innen und Eltern? Auf der anderen Seite: Gab es Phasen, in denen Menschen wahrhaftiger miteinander sprachen? Fragten? Und vor allem: Wirklich die Antworten wissen wollten? Finger in Wunden zu legen, ist nämlich nur die erste Aufwärmübung. Den Finger auch in der Wunde zu lassen – und zwar vom Haltenden und vom Aushaltenden, das ist die wirklich harte Probe von gegenseitiger Nähe und Entblößung. Beck, Ebeling, Greiner und Pankow haben das für uns durchexerziert und damit ziemlich deutlich gemacht, dass Fragen nämlich – entgegen dem Sprichwort – doch was kostet. Und zwar oft weit mehr, als man annehmen möchte.

Info

Liebe, Körper, Wut & Nazis – Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen, Jennifer Beck, Fabian Ebeling, Steffen Greiner, Mads Pankow Tropen-Verlag 2020, 208 S., 20 €

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